Das 60-Jahr-Jubiläum des VIDC bietet einen willkommenen Anlass, auf die Arbeit zum arabischsprachigen Raum in den letzten 15 Jahren zurückzublicken und einen kurzen Ausblick zu wagen. Mit insgesamt 30 Abendveranstaltungen und Konferenzen mit einigen tausend Besucher*innen, an die 70 Interviews, die unsere Gäste österreichischen Medien während ihres Aufenthalts gaben, der Veröffentlichung von neun Sammelbänden und Studien, vielen weiteren Workshops und Diskussionsrunden ebenso wie eigenen Radiobeiträgen, Videointerviews und Artikeln haben Magda Seewald (VIDC Global Dialogue) und ich im Laufe dieser Jahre versucht zu gestalten, was uns wesentlich ist: gemeinsam mit kritischen Stimmen aus arabischsprachigen Ländern einen emanzipatorischen Raum zu schaffen.
Vertreter*innen von lokalen NGOs, Aktivist*innen aus sozialen Bewegungen, Intellektuelle, Künstler*innen und Wissenschafter*innen nahmen uns dabei auf eine Reise mit, deren Ziel so einfach und zugleich so schwierig ist: Orientierung in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu bieten. Mit ihren Einschätzungen, Schilderungen und Analysen wurde erfahrbar, wie sehr die Verhältnisse in Europa mit den Protesten, Revolten, Konterrevolutionen, Invasionen und Kriegen im arabischsprachigen Raum verknüpft sind. Mit ihren Worten schaff(t)en sie eine gemeinsame Basis jenseits globaler Hierarchien des Wissens.
Ein ungewöhnlicher Banküberfall
Als am 11. August 2022 ein bewaffneter Mann in einer Filiale der Federal Bank in Beirut Bankangestellte als Geiseln nahm und drohte, sich mit Benzin zu übergießen, bekam er binnen kürzester Zeit tausende Sympathiebekundungen in den sozialen Medien. Selbst eine Kundgebung zur Unterstützung seiner Forderung sowie der Kritik am Bankensystem im Libanon und den damit zusammenhängenden politischen Entscheidungen wurde vor der Bank organisiert. Denn die Forderung von Bassam al-Sheihk Hussein war so einfach wie für einen Bankräuber ungewöhnlich: Er wollte lediglich sein eigenes angespartes Geld, an die 200.000 US-Dollar, von der Bank in Dollar zurückbekommen, um die medizinischen Behandlungskosten für seinen Vater bezahlen zu können. Nach stundenlangen Verhandlungen sicherte ihm die Bank die Auszahlung von 30.000 US-Dollar zu, woraufhin er sich widerstandslos festnehmen ließ.
Es sind Geschichten wie diese, die unsere Gäste erzählten, um damit zu verdeutlichen, was eine umfassende Krise in einem Land wie dem Libanon im konkreten Leben der Menschen bedeutet. Mit den Widersprüchen der Protestbewegung, die seit 2019 versuchte, das politische System zu reformieren und grundlegende soziale Gerechtigkeitsvorstellungen durchzusetzen, und der Repression gegen sie, wurde auch im Libanon sichtbar, wie sehr die sozialen Bewegungen und Revolten im arabischsprachigen Raum vorläufig an ihre Grenzen gekommen waren. Individuelle Verzweiflungstaten wie die von Bassam al-Sheihk Hussein sind daher nicht überraschend. Überraschend ist eher, dass sie (noch) so selten passieren.
Als wir 2011 mit unseren Veranstaltungsreihen zu den Massenprotesten und Revolten im arabischsprachigen Raum begannen, schien der historische Moment des Umbruchs, der Demokratisierung und der Würde gekommen. Diktaturen, deren Macht mithilfe ihrer westlichen Verbündeten aus den Folterkammern aufstieg, schienen binnen kürzester Zeit von Millionen auf den Straßen hinweggefegt zu werden. Als Reaktion auf die Revolten haben es die verschiedenen Regime mit ihren konterrevolutionären Bekämpfungsstrategien allerdings vorläufig geschafft, ihr Herrschaftsmodell zu konservieren — um den Preis umfassender (gesellschaftlicher) Verwüstungen wie in Syrien oder einer ‚Friedhofsruhe‘ wie in Ägypten, wo die Opposition zum Schweigen gebracht wurde.
Auf geopolitischer Ebene zeigt die Dialektik von Revolution und Konterrevolution, wie sehr der arabischsprachige Raum zur zentralen Schnittstelle von Kriegen wurde, in denen globale und regionale Mächte, um die Kontrolle von Territorium, Ressourcen und Herrschaft aufrecht zu erhalten, die Bevölkerung nur mehr als militärisch zu kalkulierenden Faktor betrachten. Die Brutalität eines internationalen Krieges wie in Libyen und Syrien oder die aktuell weltweit größte humanitäre Katastrophe im Jemen durch die militärische Intervention Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate zeigen dies in aller Eindringlichkeit.
Heute erscheint es, als gäbe es in dem anfangs erwähnten, emanzipatorischen Raum nichts mehr außer verbrannter Erde, Flucht und Krieg. Den existenziellen Dimensionen der Betroffenen in den großen und kleinen Geschichten nachzuspüren und sie damit nicht dem eurozentrischen Vergessen zu überlassen, wurde im Laufe der Jahre zu einem wichtigen Ausgangspunkt der Arbeit von VIDC Global Dialogue.
Der Tod einer Journalistin
Als Shireen Abu Akleh am 11. Mai 2022 frühmorgens in Jenin im palästinensischen Westjordanland eintraf, wollte sie über einen Militäreinsatz der israelischen Armee berichten. Als eine der bekanntesten Journalist*innen Palästinas, die unter anderem für Al Jazeera arbeitete, verstand sie es als ihre Verantwortung, die koloniale Gewalt der israelischen Besatzungsbehörden zu dokumentieren. Nachdem sie sich mit weiteren Journalist*innen in Jenin getroffen hatte und — wie immer bei ihrer Arbeit — ihre weithin sichtbare Schutzweste mit der Aufschrift PRESS übergestreift hatte, wurde sie von israelischen Scharfschützen erschossen.
Shireen Abu Akleh war nicht die erste Journalistin, die von der israelischen Armee während der Arbeit erschossen wurde — und sie wird höchstwahrscheinlich auch nicht die letzte gewesen sein. Während israelische und europäische Medien von einem umstrittenen Vorfall sprachen, machten massenhafte Proteste in Palästina klar, wie sehr die Ermordung der Journalistin die palästinensische Gesellschaft erschütterte. Einmal mehr wurde klar, dass sich diese gegensätzlichen Perspektiven unversöhnlich gegenüberstehen.
Als wir vor 15 Jahren mit unserer Arbeit zu Israel und Palästina begannen, wussten wir, in welche Bruchzonen wir intervenierten. Im Bewusstsein der Geschichte von Faschismus in Europa die kolonialen Dimensionen des israelischen Besatzungsregimes in Palästina zu analysieren und Handlungsräume für einen gerechten Frieden auszuloten, wurde damit zu einem wichtigen Motor unserer Arbeit. Ohne diese grundlegenden Koordinaten wäre sie nicht möglich gewesen.
Gerechtigkeit und Würde
Auch wenn heute noch nicht absehbar ist, wie sich grundlegende Forderungen nach Verteilungsgerechtigkeit und einem gerechten Frieden durchsetzen lassen, sind die brutalen Erfahrungen der letzten Jahre zugleich ein Reservoir, aus dem bereits eine nächste Generation an Aktivist*innen begonnen hat zu schöpfen. Protest, Widerstand und Revolte von Algerien bis Palästina und vom Irak bis zum Sudan sind keine vorübergehenden Erscheinungen. Auch wenn Kriege, Verelendung, Repression, Besatzung und autoritäre Herrschaft Gesellschaften im arabischsprachigen Raum verwüstet haben, wird es eine imperial abgesicherte ‚Friedhofsruhe‘ nicht mehr geben. Wie also den herrschenden Machtblöcken sowie imperialen Interventionen effizient zu begegnen ist, wie soziale Gerechtigkeit mit pluralen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zu verknüpfen ist und welche Bedeutung islamische Koordinatensysteme haben sollen, sind entscheidende Fragen für soziale Bewegungen. Dass sie auch in Europa in einer Zeit sich verschärfender Krisen gehört werden und von ihnen gelernt werden kann, wird auch weiterhin unser Auftrag sein (27. September 2022).