Die Menschenrechtslage und die staatlich geförderte Gewalt des syrischen Bürgerkriegs führten zu einer der schlimmsten humanitären Krisen und zu den tödlichsten Konflikten des 21. Jahrhunderts. Folter ist in Syrien nach wie vor das von den Konfliktparteien am häufigsten begangene Verbrechen, neben dem Verschwindenlassen von Personen als Mittel zur Bestrafung und Bedrohung politischer Gegner*innen. Die systematische Folterung von Zivilist*innen durch die syrischen Geheimdienste und andere Konfliktparteien wird als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft.
Das Weltstrafrechtsprinzip gibt Hoffnung auf Gerechtigkeit, sagen die Opfer des syrischen Geheimdienstes, die im Rahmen von Ermittlungs- oder Hauptverfahren vor deutschen Gerichten ihren Leidensweg geschildert haben. Zwar ist der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zuständig für die Verfolgung von Personen wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. Da jedoch Russland und China mit ihrem Veto die Verabschiedung einer Resolution des UN-Sicherheitsrats verhinderten, in der die Überweisung des Syrien Konfliktes an den IStGH gefordert wurde, konnte der Gerichtshof keine Ermittlungen zu Syrien einleiten – und dies, obwohl die Resolution von 65 Ländern und allen verbleibenden Mitgliedern des Sicherheitsrats unterstützt wurde. Syrien selbst hat das IStGH Statut nicht ratifiziert.
Warum sollten syrische Kriegsverbrecher*innen in Österreich vor Gericht gestellt werden?
Die einzige Möglichkeit, diese schweren Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, besteht derzeit darin, Verfahren gegen die Täter*innen vor nationalen Gerichten außerhalb Syriens durchzuführen. Zu diesem Zweck berufen sich Jurist*innen in Europa auf das Weltstrafrechtsprinzip, das allen Staaten die Befugnis gibt, schwerste Verbrechen nach dem Völkerrecht zu verfolgen. Hervorzuheben ist, dass eine reibungslose internationale Zusammenarbeit und Kräftebündelung der Jurist*innen von übergeordneter Bedeutung für den Erfolg dieser nationalen Verfahren ist.
Bislang gibt es keine weltweit einheitliche Definition des Konzepts des Weltstrafrechtsprinzips. Die Internationale Rechtskommission (ILC) bekräftigt in ihrem Jahresbericht 2018, dass "die universelle Gerichtsbarkeit [für Arbeitszwecke] als eine Strafgerichtsbarkeit beschrieben werden kann, die ausschließlich auf der Art des Verbrechens beruht, ohne Rücksicht auf das Hoheitsgebiet, in dem das Verbrechen begangen wurde, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit des mutmaßlichen oder verurteilten Täters, die Staatsangehörigkeit des Opfers und die auch keine andere Verbindung zu dem Staat, der diese Gerichtsbarkeit ausübt, erfordert.“
Es wird weiter begründet, „dass die Ausübung des Weltstrafrechtsprinzips für bestimmte Verbrechen gerechtfertigt ist, weil diese Verbrechen „meist schwerwiegend sind, weitreichende Auswirkungen haben und gegen universelle Werte und humanitäre Grundsätze verstoßen.“ (ICL, 2018)
Der Fall Syrien zeigt, wie wichtig das Weltstrafrechtsprinzip neben der Einrichtung des ständigen Mechanismus des Internationalen Strafgerichtshofs oder von Ad-hoc-Strafgerichten ist. Die Einrichtung des Letztgenannten erfordert allerdings Zeit und die Unterstützung einer bestimmten Anzahl von Staaten. Nur durch das Weltstrafrechtsprinzip gelingt es, den Opfern schon heute im Rahmen von Vernehmungen vor nationalen Gerichten rechtliches Gehör zu verschaffen, sie erhalten dadurch Zugang zur sogenannten „therapeutischen Justiz“. Laut Psychiater Thomas Wenzel ist die „Gerechtigkeit für die Opfer therapeutisch enorm wichtig“. Die durch Rechtsstaatlichkeit gebotene Gerechtigkeit hilft bei der Bewältigung ihrer Traumata.
Allerdings sind beide Mechanismen, die internationale Gerichtsbarkeit und die nationale Strafverfolgung auf der Grundlage des Weltstrafrechtsprinzips, für die Verfolgung von Verbrechen nach dem Völkerrecht unerlässlich, indem Sie beide nicht nur Verfolgungsmechanismen darstellen, sondern auch eine Abschreckungswirkung hinsichtlich zukünftiger Menschenrechtsverbrechen entfalten.
Wird zurzeit gegen syrische Kriegsverbrecher*innen in Österreich ermittelt? Oder gilt Österreich als sicherer Hafen für Kriegsverbrecher*innen?
Nein, Österreich gilt nicht als sicherer Hafen. Es wird ermittelt. Die erste Anzeige erfolgte im Mai 2018 von vier Frauen und 12 Männern gegen 24 hochrangige Funktionäre der Assad-Regierung. Die Vorwürfe sind: Folter, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen des Militärgeheimdienstes, des Luftwaffengeheimdienstes und des Allgemeinen Geheimdienstes. Die angezeigten Einzeltaten – darunter Folter, Mord, Verschwindenlassen, schwere Körperverletzung und Freiheitsentzug – wurden zwischen 2011 bis heute in 13 syrischen Haftanstalten begangen. Mehrere Opfer waren zur Zeit der Tatausübung minderjährig.
Was bräuchte es in Österreich, um den Prozess von der Anklage bis hin zur Urteilssprechung zu beschleunigen?
Bedauerlicherweise gibt es keine Spezialeinheit bei der Staatsanwaltschaft, die ausschließlich mit dieser Art von komplexen völkerstrafrechtlichen Ermittlungen betraut ist.
Im Fall von Völkerstraftaten benötigt Österreich dringend eine Aufstockung von spezifisch geschultem Personal in den Ermittlungsbehörden. Aus unserer Sicht ist es unverantwortlich, dass nur ein einzelner Staatsanwalt für alle Völkerstrafverfahren bestellt wurde, der zusätzlich noch unzählige nationale Verfahren betreuen muss. Trotz Arbeitsüberlastung und damit zwangsweise einhergehenden langen Verfahrensdauern, werden diesem Staatsanwalt keine zusätzliche Personalressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Was macht die Organisation CEHRI, um solche Verbrechen aufzudecken?
In der Regel beauftragen die Opfer CEHRI mit ihrer Vertretung in Gerichtsverfahren. Unsere Rechtsanwälte beraten sie in rechtlicher Hinsicht und analysieren die Erfolgschancen eines Ermittlungsverfahrens. Gleichzeitig prüfen Mediziner*innen, ob die Opfer psychisch und gesundheitlich stabil genug für ein Verfahren oder eine Anhörung sind. Wenn das Opfer sich anschließend entscheidet, den Gerichtsweg einzuschlagen, vertritt CEHRI das Opfer umfassend in den Ermittlungs- und Gerichtsverfahren. Darüber hinaus leistet CEHRI auch psycho-soziale und – falls gewünscht – mediale Unterstützung.
CEHRI bietet eine strategische Verfahrensführung an, um die Strafverfolgung zu ermöglichen. Dafür werden Beweismittel von begangenen Völkerstraftaten bzw. Menschenrechtsverbrechen gesammelt. Strategische Prozessführung ist ein juristisches Mittel, welches vor allem von Bürger- oder Menschenrechtsorganisationen genutzt wird, um Gesetze zu verändern oder auf Unrecht hinzuweisen. Die strategische Verfahrensführung bedarf in der Regel einer Rechtslagenprüfung, wobei auch die Rechtsprechung von internationalen Spruchkörpern wie beispielsweise dem UN-Ausschuss gegen Folter herangezogen werden.
Kann Österreich diesbezüglich von Deutschland oder anderen Ländern lernen? Gibt es bereits erste Erfolgserlebnisse?
Österreich kann sicherlich von anderen Ländern in Europa lernen. In Frankreich, Deutschland und Schweden wurden spezialisierte Ermittlungseinheiten für Völkerstraftaten ins Leben gerufen. Diese Länder zeigen eindeutig, dass solche Spezialeinheiten zu einer Beschleunigung der Verfahren führen, Hauptverfahren schneller eingeleitet werden können und Straftäter*innen auch in der Folge verurteilt werden.
Doch nicht nur die Spezialeinheiten sind ein wesentlicher Faktor für die effiziente Strafverfolgung, auch die gesetzlichen Voraussetzungen in den Ländern spielen eine Rolle. Das im Jahr 2002 in Kraft getretene deutsche Völkerstrafgesetzbuch ermöglicht deutschen Gerichten die Verfolgung von in Syrien begangenen internationalen Straftaten. Der Generalbundesanwalt ist danach grundsätzlich verpflichtet, völkerrechtliche Verbrechen zu untersuchen, auch wenn sie außerhalb Deutschlands begangen wurden.
Außerdem setzten sich derzeit Anwält*innen in Koblenz und Frankfurt erfolgreich für die Anerkennung von sexueller Gewalt gegen Männer und Frauen, die von den Geheimdiensten verübt wurden, als Verbrechen gegen Menschlichkeit in Verfahren ein. Jedoch erweisen sich die Ermittlungen aufgrund der Sensibilität des Themas, der Traumatisierung und der gefürchteten sozialen Folgen in diesem Bereich nach wie vor als besonders schwierig (justiceinfo.net, 5 February 2021).
Die unabhängige internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die Arabische Republik Syrien berichtete auch im Jahr 2020 von Vergewaltigungen, sexueller Gewalt bei Hausdurchsuchungen und in Haftanstalten als Strategie, um die Opfer zu demütigen und Geständnisse zu erpressen (A/HRC/45/31). Diese Form der sexuellen Gewalt richtet sich gegen Frauen wie auch gegen Männer, wird aber aufgrund der Angst vor den Tätern und vor "Ehrenmorden" durch Familienangehörige nach wie vor kaum gemeldet.
In Schweden ist nach dem dort geltenden Strafrecht und dem Gesetz über die strafrechtliche Verantwortung für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen die Anwesenheit des Verdächtigen im Lande für die Anwendung des Weltstrafrechtsprinzips nicht erforderlich. Dies ermöglicht es den schwedischen Strafverfolgungsbehörden, personenbezogene Ermittlungen auch unabhängig vom Wohnsitz des Verdächtigen durchzuführen (21. September 2021).