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#1: Life under the Taliban

Die neue „dunkle Ära“ der Taliban

© Aadil Ahmad

© Aadil Ahmad

Life under the Taliban. Unter diesem Titel startet VIDC Global Dialogue eine neue Artikelserie zur Situation in Afghanistan nach der Machtergreifung durch die Taliban im August 2021. Frauen und Männer aus vielen verschiedenen Teilen des Landes und mit unterschiedlichen Perspektiven und Realitäten erzählen uns ihre Geschichten. Die Reihe beginnt mit einem Text von Aadil Ahmad Safi aus Kabul. Safi ist 24 Jahre alt und arbeitet seit April 2021 als Human Resource Manager für die Direktion der Kardan-Schule in Kabul. Er erwarb einen Bachelor-Abschluss in Verwaltung an der Jamia Hamdard University in Neu-Delhi, Indien. Safi hat 17 Jahre lang in Indien gelebt und dort seine Grund-, Sekundar- und Hochschulausbildung abgeschlossen, bevor er im September 2020 nach Afghanistan zurückgekehrt ist.

Meine Geschichte

Kabul: Jeder unter der Taliban-Herrschaft hat eine Geschichte zu erzählen, und ich habe meine, aber wer hört zu und wen interessiert das? Ich versuche meine Gefühle zu ordnen, um etwas Druck abzulassen. Meine Geschichte handelt von Frustration, Verzweiflung und dem Unverständnis meiner Mitmenschen. Der 15. August 2021 schien ein ganz normaler Tag zu sein, an dem die Menschen zur Arbeit, in die Schulen und Universitäten gingen. Niemand hatte erwartet, dass vor den Toren von Kabul, der Hauptstadt Afghanistans, ein neues „dunkles Zeitalter“ auf sie warten würde. Innerhalb von nur 10 Tagen fiel das ganze Land in die Hände der Taliban. Es scheint surreal, wie sich das Leben der Menschen in Afghanistan innerhalb von Stunden und Tagen verändert hat. 

Ich habe zuvor nicht unter den Taliban gelebt. Ich hatte keine Ahnung, wie hart und brutal sie sein können. Bevor Kabul in die Hände der Taliban fiel, reiste ich nach Nordafghanistan, um Freund*innen und Verwandte zu besuchen. Dabei hatte ich große Angst, von den Taliban erwischt zu werden. Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erleben würde, an dem ich mein Leben danach ausrichten muss, was die Taliban mir vorschreiben. Heute wird meine Stadt Kabul von einer Gruppe von Taliban-Extremisten regiert, und aus der Stadt der Liebe ist ein Schauplatz von Terroranschlägen geworden. 

Seit der Machtergreifung hat sich mein Leben massiv verändert. Während der US-Invasion war meine Mobilität und Freiheit auch eingeschränkt, aber die wenige Freiheit die es gab verschwand innerhalb weniger Tage unter der neuen Diktatur der Taliban. Für Menschen wie mich, die sich an Freiheit, Musikveranstaltungen und moderner Bildung erfreuen, ist dies eine große Veränderung. Für die afghanische Bevölkerung auf dem Lande änderte sich jedoch nicht sehr viel, da sie bereits seit Jahren unter der Herrschaft der Taliban lebte. Für uns in den Städten, die jahrelang von den Taliban bedroht waren, obwohl Tausende von US- und NATO-Truppen in Afghanistan stationiert waren, änderte sich alles. Denn trotz der täglichen Nachrichten über Bombenanschläge der Taliban, Korruption in der Regierung und Armut war das Leben in Afghanistan für mich immer noch schön und vielfältig.

Unerträgliche Taliban

Ich habe mehr als die Hälfte meines Lebens in Indien gelebt, wo ich zur Schule ging und meinen Bachelor-Abschluss in Betriebswirtschaft machte. Es war der 26. September 2020, als ich beschloss, von Indien in mein Heimatland zurückzukehren und endgültig nach Afghanistan auszuwandern. Ich hoffte auf ein herzliches Willkommen und darauf, mit meiner Ausbildung und den erworbenen Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können. Nach meiner Rückkehr stellte ich aber fest, dass es Tausende von Hochschulabsolvent*innen gab, die eine Anstellung im öffentlichen oder privaten Sektor anstrebten. Es war nicht leicht, eine Stelle zu finden. Aufgrund der grassierenden Korruption und Vetternwirtschaft der früheren Regierung war es unsicher, ob ich eine Stelle im öffentlichen Sektor finden könnte. Ich hoffte auf eine Anstellung in der Privatwirtschaft oder bei einer Nichtregierungsorganisationen. Doch es kam alles ganz anders. Trotz meiner begrenzten Kenntnisse der afghanischen Sprache gelang es mir schließlich, eine Stelle in einem der führenden privaten Bildungszentren in Kabul zu bekommen. 

Alles unter den Taliban ist für mich unerträglich, sei es die Einschränkung der Meinungsfreiheit, die Freiheit sich zu kleiden wie man will oder viele andere soziale Einschränkungen. Das Leben unter der früheren Regierung war auch nicht so großartig. Selbstmordattentate, gezielte Ermordungen, Entführungen, Raubüberfälle und die grassierende Korruption boten den Taliban Raum, um Afghanistan zu übernehmen. Die Warlords waren mächtiger als die damalige Regierung. Die Menschen saßen zwischen den „Schlechten“ und den „Schlimmsten“ fest. Wenn ich die Wahl hätte zwischen den Warlords, der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban, ich würde sie alle ablehnen.
 
Für die normalen Bürger*innen in Kabul hat die Machtübernahme der Taliban zwar etwas Positives, aber vor allem viel Bedrohliches und Falsches gebracht. Die positive Seite der Machtübernahme durch die Taliban ist die relative Sicherheit. Abgesehen von einigen wenigen Explosionen in den letzten Monaten hat es keine täglichen Bombenanschläge mehr gegeben. Allerdings ist das eine Friedhofsruhe, die mich an die Stimmung auf den Friedhof erinnert, auf dem mein Großvater begraben liegt. Arbeitslosigkeit, der Verlust der Errungenschaften der letzten 20 Jahre und ein vom Rest der Welt abgekoppeltes Afghanistan sind die wahren Herausforderungen, die vor uns liegen. Außerdem ist zu befürchten, dass die Afghan*innen aufgrund der eingeschränkten sozialen und politischen Rechte massenhaft auswandern werden.

Große Träume

Ich höre oft, dass Afghanistan aufgrund seiner natürlichen Ressourcen reich sei, aber das bedeutet nichts, wenn wir kein Essen auf dem Tisch haben. Ich möchte im Hier und Jetzt leben und mich und meine Familie versorgen können, indem ich in diesem Land arbeite. Die Taliban sind meiner Meinung nach nicht in der Lage, dieses Land zu regieren. Ihre Struktur ist dazu geeignet, einen Aufstand zu führen und ihre harte Regierungsweise in ländlichen Gebieten durchzusetzen, aber sie können das nicht in einer Stadt wie Kabul.

Als Human Resource Manager in einer Privatschule in Kabul wurde mir bereits das Gehalt gekürzt. Ich habe davon geträumt, mich persönlich und beruflich weiterzuentwickeln und in die höchste Position aufzusteigen. Diesen Traum habe ich immer noch. Ein Traum, der wahrscheinlich nicht in Erfüllung gehen wird. Mit dem, was ich in Kabul verdiene, kann ich die Ausbildung meiner jüngeren Brüder in Indien nicht unterstützen. Durch die Machtübernahme der Taliban im August sind alle meine Träume zerbrochen. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal von großen Dingen träumen möchte. Das liegt daran, dass die Taliban das Leben von uns allen verändert haben. Sie haben mein Leben sehr viel schlechter gemacht.  

Ich hatte den Traum, zum Wiederaufbau meines Landes beizutragen, dort zu leben und zu arbeiten, wo ich mich dazu gehörig fühle. Ich hätte nie daran gedacht, Afghanistan zu verlassen. Dieses Land hat ein großes Potenzial bei einer demokratischen Regierungsform, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass dies unter den Taliban möglich ist. Wie viele der gut gebildeten Menschen und Intellektuellen möchte ich Afghanistan verlassen und in ein Land gehen, das mir Hoffnung, Schutz und ein Gefühl der Zugehörigkeit bietet. Es ist erdrückend, unter den Taliban zu leben.

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