Informelle Wirtschaft und Frauen in der Konfliktregion Sahel

Franz Schmidjell im Gespräch mit Mariam Mamian Diakité

VIDC Online Magazin Spotlight

Dieser Artikel wurde in der Spotlight-Ausgabe Juni 2024 veröffentlicht. Wenn Sie den vierteljährlich erscheinenden Spotlight, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

Autorin*

Mariam Mamian Diakité, gebürtige Malierin, lebte nach ihrem Studium der Internationalen Entwicklung und Politikwissenschaften in Wien einige Jahre in Berlin und New York. Als Expertin für soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit, Inklusion und Gender arbeitet sie für die Weltbankgruppe und für den US-amerikanischen END Fund für West-, Ost- und Zentralafrikanische Länder.

Marktfrauen, Dienne, Mali, © Stock/oversnap

Die Sahelzone ist ein 400 km breiter und 6.000 km langer Übergangsraum in Afrika, der sich vom Senegal am Atlantik im Westen bis zu Djibuti am Roten Meer im Osten erstreckt und 15 Länder mit rund 300 Millionen Bewohner*innen umfasst. Geprägt von den Folgen der Klimakrise und gewaltsamer Konflikte sind über 80% der Beschäftigten, insbesondere Frauen, für ihr Überleben auf die informelle Wirtschaft angewiesen. Dazu zählen nicht nur die Straßenhändler*innen und Landarbeiter*innen, sondern auch Arbeiter*innen in Subunternehmen am unteren Ende der globalen Wertschöpfungsketten.

Wie würdest Du die informelle Wirtschaft in der Sahelzone beschreiben? 

Die informelle Wirtschaft umfasst alle Aktivitäten, die außerhalb des offiziellen rechtlichen und fiskalischen Systems operieren. Jedoch ist informelle Arbeit sowohl innerhalb formeller als auch informeller Unternehmen anzutreffen. Das Spektrum reicht von Selbständigen über Kleinstunternehmen bis hin zu Subfirmen nationaler oder internationaler Konzerne. Die Wirtschaftsforscher*innen Nancy Benjamin und Ahmadou Aly Mbaye sehen die Unterscheidung zwischen formellem und informellem Status eher als Kontinuum als eine strikte Trennung. Diese Definition erfasst die Vielfalt und Komplexität informeller Akteur*innen in der Sahelzone.

Welche Rolle spielt die informelle Wirtschaft in Konfliktregionen wie dem Sahel?

Die Armutsquote ist in der Sahelzone höher als in anderen afrikanischen Ländern. Bis zu 80 % der Bevölkerung leben von weniger als 2 Dollar pro Tag. Einige dieser Länder verfügen über bedeutende Bodenschätze wie Öl im Tschad, Uran in Niger oder Gold in Mali. Doch dieser natürliche Reichtum trägt wenig dazu bei, das Pro-Kopf-Einkommen zu steigern und den Lebensstandard zu erhöhen.
Arbeit im informellen Sektor ist häufig das Mittel der Wahl, um sich aus extremer Armut in fragilen Staaten zu befreien. Wirtschaftliche Entwicklung im formellen Bereich ist jedoch entscheidend für den Aufbau von Resilienz in fragilen Staaten mit schwachen Institutionen. Der Auf- und Ausbau öffentlicher Versorgungsleistungen, die Entwicklung des Privatsektors und die Schaffung von Arbeitsplätzen sind zentrale Eckpfeiler für die Bekämpfung extremer Armut, Verringerung der Fragilität und die Vermeidung bzw. Eindämmung von Konflikten.

Wie sind Frauen von den gewaltsamen Konflikten und den damit verbundenen wirtschaftlichen Schocks betroffen?

Konflikte drohen immer bestehende Geschlechterungleichheiten zu verschärfen. Frauen und Mädchen sind überproportional von den Folgen von Konflikten betroffen. Hervorheben möchte ich hier die erhöhte Vulnerabilität hinsichtlich Armut und Unterernährung, die lebensgefährlichen Komplikationen im Bereich reproduktiver und mütterlicher Gesundheit sowie den eingeschränkten Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsdienstleistungen.

Mädchen sind aufgrund von geschlechtsbasierter Gewalt einem höheren Risiko ausgesetzt, die Schule abzubrechen. Zum Beispiel hat die Eskalation des Konflikts in Mali zu einem Anstieg sexueller Gewalt an Frauen und Mädchen geführt. Darüber hinaus haben auch die Zwangs- oder Entführungsehen zugenommen. Durch die gefährliche Sicherheitslage kam es zur Schließung vieler Schulen und Krankenhäuser in Mali. Seit Anfang 2024 sind bereits 1.788 Schulen, rund ein Viertel aller Schulen, geschlossen worden, wovon über 500.000 Schüler*innen betroffen sind (UNICEF, 2024).
Die erhöhten Ausgaben in den Bereichen Sicherheit und nationale Verteidigung haben dringend notwendige Investitionen in die Sektoren Gesundheit, Bildung und soziale Sicherung in den Hintergrund gedrängt. Die Infrastrukturschäden und die Verschärfung der Sicherheitslage haben eine Nahrungsmittelkrise ausgelöst. Etwa 65% der Malier*innen sind von den Konflikten betroffen und 32% benötigen humanitäre Hilfe (UNOCHA, 2024).

Wie hat sich die umstrittene Externalisierung der EU-Migrationsabwehr auf den grenzüberschreitenden Handel ausgewirkt?

Die strengen Grenzkontrollen und Sicherheitsmaßnahmen richten sich, oft unbeabsichtigt, gegen informelle Händler*innen. Die Händler*innen, überwiegend Frauen, sehen sich verstärkten Kontrollen, langen Wartezeiten und manchmal auch Schikanen an Grenzübergängen ausgesetzt. Dies führt zu höheren Transaktionskosten sowie zu geringerer Flexibilität und Rentabilität.
Lokale Gemeinschaften, die bereits mit hohen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu kämpfen haben, empfinden die strengeren Grenz- und Sicherheitskontrollen als diskriminierend und schädlich für ihr wirtschaftliches Überleben. Das verstärkt die Unzufriedenheit und trägt zu sozialen Unruhen bei.
Die Externalisierung der europäischen Migrationspolitik, wie beispielsweise durch das "Anti-Migrationsgesetz" in Niger, führte nicht nur zur Einschränkung der Mobilität innerhalb der Sahelzone, sondern hat soziale Spannungen erhöht und die Existenzgrundlage von Händler*innen bedroht. Mittlerweile hat die Militärregierung das umstrittene Gesetz außer Kraft gesetzt.

Wie kann die Situation für informell Beschäftigte, insbesondere Frauen, verbessert werden?

Im gesamten Sahel leisten Frauen entscheidende Beiträge zur sozioökonomischen Entwicklung ihrer Gemeinschaften und Länder. Sie betreiben informelle Unternehmen, arbeiten in der Landwirtschaft und sind kompetente Handwerkerinnen. Ihre soziale und wirtschaftliche Stärkung käme nicht nur ihren unmittelbaren Familien zugute, sondern hätte auch einen Multiplikatorinnen-Effekt in der Gesellschaft.
Ebenso wichtig wäre die Verbesserung des Zugangs zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsdienstleistungen, um die Mütter- und Kindersterblichkeitsraten zu senken, und damit zu einer gesünderen und produktiveren Gesellschaft beizutragen. Die in Mali geplante Gesundheitsreform (The World Bank, 2020) zur Bereitstellung kostenloser Gesundheitsversorgung könnte Lücken in der reproduktiven Gesundheitsversorgung schließen. Gemeindegesundheitsarbeiter*innen (Community Health Worker) haben ebenfalls gezeigt, dass sie familiäre Gesundheitspraktiken positiv beeinflussen können (The Global Fund, 2024).
Ein weiterer wesentlicher Baustein für Entwicklung ist die Verbesserung der Qualität und der flächendeckende Ausbau der Vorschul-, Primar- und Sekundarbildung (siehe dazu République du Mali, 2019). Die Bildung von Mädchen und Frauen ist nicht nur für ihre persönliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung, sondern auch für die Entwicklung von beruflichen Kompetenzen, die Innovation und wirtschaftliche Produktivität fördern können. Außerdem erhöht die seit den Millennium Development Goals eingeführte nationale Bildungspolitik zur Verbesserung der Schulverpflegungsprogramme die Schulbesuchsraten und die Qualität der Bildung. 

Welche erfolgreichen Initiativen und Programme mit Frauen hast du im Rahmen deiner Tätigkeit für die Weltbankgruppe in der Sahelzone kennengelernt? Was sind deiner Meinung nach wichtige Maßnahmen?

Die Regierungen sollten informelle Arbeiter*innen durch eine dreigleisige Strategie stärken: 1. soziale Sicherheitsprogramme, 2. innovative Sozialversicherungspläne und 3. produktivitätssteigernde Maßnahmen. Erfolgreiche Weltbank-Initiativen sind hier das Programm für soziale Sicherheitsnetze (71,2 Mio US$), das Familien vor den Folgen wirtschaftlicher Schocks sowie von Naturkatastrophen und Krisen schützen soll sowie das Frauenempowerment- und Demographieprogramm für Sub-Sahara Afrika, das den Zugang von Mädchen und Frauen zu Bildung, wirtschaftlichen Möglichkeiten und Gesundheitsdiensten sowie die institutionellen Kapazitäten für Geschlechtergleichstellung verbessern soll.
Weiters könnte die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte, die arbeitsintensiv ist, Frauen neue Möglichkeiten zur Arbeitsplatzbeschaffung bieten. Dies erfordert jedoch auch die Verbesserung der Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit der Stromversorgung sowie die Modernisierung und Erweiterung vorhandener Verkehrsrouten, was insbesondere für Binnenländer wie Mali wichtig ist. 
Ein anderer Aspekt ist die Förderung des Zugangs von Frauen zu Finanzierungsmöglichkeiten durch die Nutzung von mobilen Geldtechnologien und digitalen Finanzdiensten, durch die Stärkung des Mikrofinanzsektors sowie durch Programme zur Finanzbildung.
Die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter durch die soziale und wirtschaftliche Stärkung der Frauen und Mädchen ist dabei unerlässlich für den Fortschritt im Sahel. Regierungen, Nichtregierungsorganisationen und Gemeinschaften müssen zusammenarbeiten, um ein Umfeld zu schaffen, in dem Frauen voll zur Entwicklung ihrer Länder beitragen können.