„Afrika als Kontinent ist in Europa beliebt, solange man die Bodenschätze plündern kann. Aber die Menschen aus Afrika sind unerwünscht“, konstatierte Irène Hochauer-Kpoda, Veranstaltungsmanagerin beim VIDC und in Burkina Faso aufgewachsen, in ihrem Einleitungsstatement. Ausgehend von dem neu erschienenen Buch des Soziologen und Menschenrechtsaktivisten Olaf Bernau wurde bei der Veranstaltung besprochen, welche Mythen bezüglich der Migration aus Westafrika bestehen, wie das enorme ökonomische Gefälle zwischen Afrika und Europa entstanden ist und aufrechterhalten wird und welche Handlungsmöglichkeiten für die Akteur*innen in Europa und Afrika bestehen. Mit dem Buchautor diskutierten Joana Adesuwa Reiterer, Medien- und Sozialunternehmerin, Kojo Taylor, Lehr- und Forschungsbeauftragter an der Technischen Universität Wien und Téclaire Ngo Tam, Moderatorin und Bildungsreferentin beim Verein Südwind. Die Veranstaltung war Teil der Initiative „Das Recht, nicht gehen zu müssen – Europäische Politik und Fluchtursachen“, welche von der Arbeiterkammer Wien gemeinsam mit Gewerkschaften, dem VIDC und weiteren NGOs 2021 gestartet wurde.
Mythos: „Halb Westafrika sitzt auf einem gepackten Koffer und will nach Europa.“
Bernaus Buch ist ein Konglomerat seiner zehnjährigen Zusammenarbeit mit westafrikanischen migrantischen und bäuerlichen Organisationen. Mit dem Netzwerk Afrique-Europe Interact setzt er sich für menschenwürdiges Leben nach der Abschiebung ebenso ein wie für Menschenrechte entlang der Migrationsrouten. In seinem Buch setzt er sich kritisch mit den Wahrnehmungen Europas bezüglich der afrikanischen Migration auseinander. Die Vorstellung, halb Afrika sitze auf einem gepackten Koffer und wolle am liebsten nach Europa, sei laut Bernau nicht haltbar. Migration spiele eine wichtige Rolle in Westafrika, sei jedoch vor allem auf Binnenmigration beschränkt. Von den 2,6 Prozent der Menschen, die nicht in ihrem Herkunftsland leben, haben nur 15 Westafrikas Prozent verlassen. In Europa würde Migration als Ausnahmezustand und Scheitern angesehen werden. In der Region südlich der Sahara gehöre Migration jedoch zum Alltag und zur Tradition. Dabei handle es sich meist um zirkuläre Migration: man migriere, um beispielsweise eine Ausbildung zu erhalten und um anschließend wieder zurückzukehren. Vor allem bei Männern sei diese Praxis schon lange etabliert. In den letzten Jahren wählen auch immer mehr Frauen diesen Weg. Bernau appellierte: „Migration lässt sich nicht stoppen. Die Lösung ist nicht Migration zu verhindern, sondern sie erlauben“.
Joana Reiterer betonte die globalen Ungleichheiten bei der Mobilität. Für Europäer*innen sei es ganz einfach, nach Afrika zu reisen, umgekehrt werde es jedoch verhindert. Dies führe dazu, dass kriminelle Gruppen die fehlenden Mobilitätsmöglichkeiten ausnutzen und vor allem Frauen vielfach von Menschenhandel betroffen seien. Die Reise würde von diesen Gruppen gesponsert. Doch in Europa angekommen, geschehe die eigentliche Flucht vor den „Sponsor*innen“. Die Frauen könnten die horrenden Schulden, die für die Reise aufgenommen wurden, nicht begleichen. Ein wesentlicher Grund für die Migration seien die Lügengeschichten über die unbegrenzten Möglichkeiten in Europa. Sie teile auch Bernaus Aussage, dass Europa selten das Ziel sei, sondern die westafrikanischen Großstädte eine große Attraktivität ausstrahlen würden.
Migrationsgründe nach Europa – ein historisch gewachsenes Problemfeld
Anschließend wurde die Frage gestellt, warum Afrikaner*innen sich gezwungen sehen könnten, nach Europa zu migrieren. Bernau sieht hier historisch gewachsene Ursachen. Er widerspricht der These vieler Europäer*innen, der lange vergangene Kolonialismus könne nicht mehr für die derzeitige Situation verantwortlich gemacht werden. Er zeigte auf, wie die Lebenschancen eines jeden historisch geprägt worden sind und die vom Kolonialismus geprägten Strukturen heute nicht einfach ausgeklammert werden können. Bernau bezog sich dabei auf Walter Rodneys Buch „Wie Europa Afrika unterentwickelte“. Rodney veranschaulichte, wie die Ungleichheiten zwischen Afrika und Europa geschaffen wurden. Europa versucht auch heute noch, diesen Status aufrecht zu erhalten. Kojo Taylor geht in seinem Kommentar noch einen Schritt weiter. Afrika hätte bis ins 16. Jahrhundert eine unabhängige wirtschaftliche Struktur gehabt. In der Begegnung mit Europa wäre das „Know-how“ gestohlen worden und durch den Kolonialismus die Ausbeutung formalisiert worden. Die Fluchtursachen wären auf Europas Kolonialmächte zurückzuführen, die durch die Plünderung Afrikas ihren eigenen Wohlstand verbessern konnten. Sobald Afrika in Schwierigkeiten sei, würde Europa Interventionen starten, die jedoch nicht das Wohlergehen der afrikanischen Bevölkerung, sondern die weitere Stärkung Europas zum Ziel hätten, so Taylor. Die Etablierung eigener afrikanischer Kulturen und Sprachen würde von Europa unterdrückt werden. Er kritisierte am Buch „Brennpunkt Westafrika“, dass die von ungleichen Machtverhältnissen geprägte Zusammenarbeit zwischen Afrika und Europa zu wenig thematisiert würde. Abschließend meinte er „ein[e] Europäer*in, der [die] Afrika helfen möchte, ist gut beraten, in der eigenen Gesellschaft Dinge zu verändern“. Dazu könnte das Buch von Bernau einen Beitrag leisten.
Umdenken in Europa – aber wie?
Nach der Diskussion über Gründe für die Migration stellte die Moderatorin Tèclaire Ngo Tam die Frage, wie man in Europa positive und nachhaltige Veränderung anstoßen könne. Bernau sieht in Afrika, gerade bei jungen Leuten, eine neu aufkommende Dekolonialisierungswelle, die die Machenschaften des globalen Nordens kritisch analysiert. Durch diese sei Europa hoffentlich bald gezwungen, sein Handeln zu verändern. Europa müsse sich endlich zu seinem historischen Unrecht bekennen und sich mit seiner Rolle in dem asymmetrischen Machtverhältnis auseinandersetzten. Es müsse konkrete Entschädigung geleistet werden - und zwar nicht in Form von paternalistischer „Entwicklungshilfe“. Außerdem müsse Europa faire Rohstoffpreise bezahlen und eine Umverteilung sowie ein Konsumverzicht müsse stattfinden. Die Klimakrise dürfe nicht vernachlässigt werden. Reiterer unterstreicht diese Punkte noch einmal und ergänzte, materielles Wachstum in Europa könne nicht unendlich sein und müsse Grenzen haben. Sie sieht auch eine gewisse Verantwortung bei der Diaspora. Die eurozentrische Sichtweise der westlichen Überlegenheit müsse beendet werden. Eine reine Entschuldigung reiche nicht aus, es müsse auch „Wiedergutmachung“ geleistet werden. Taylor stimmte seinen Mitdiskutant*innen zu und meinte, die Arbeit der Afrikaner*innen müsse entsprechend honoriert werden. Um die Welthandelsungleichheiten aufzuwiegen, seien Investitionen von großer Bedeutung, das entsprechende „Know-how“ dazu hätte Westafrika.
Wie können Europäer*innen für Veränderung einstehen?
Abschließend wurde auch noch die Frage aus dem Publikum nach dem Beitragen von solidarischen Europäer*innen aufgegriffen. Reiterer betont die Wichtigkeit der aufklärenden Bildungsarbeit. Man hätte gesehen, wie Menschen in Zeiten von Corona viel mehr Zeit zu kritischen Reflexionen mit Thematiken gehabt hätten, woraus ein vermehrtes Einstehen für die eigenen Rechte resultierte. Sie sieht darin ein Anzeichen von „people’s power“, also der Macht der Menschen. Für tatsächliche Veränderung müsse man auch vor Ort sein, um den Kontext zu verstehen, und dort Menschen konkret unterstützen. Taylor unterstrich den Aspekt des Dialogs und einer Politik auf Augenhöhe. Resümierend konstatierte Bernau, dass auch für ihn der Aspekt von „people’s power“, also einer Veränderung von unten, eine zentrale Rolle spiele.