„In Zeiten des Krieges sind die Stimmen des Friedens kaum zu hören.“ Mit diesem Zitat der Musikerin Natacha Atlas eröffnete Franz Schmidjell die Veranstaltung. Dieser Satz gelte auch heute, angesichts der russischen Aggression in der Ukraine. In Putins Russland seien solche Stimmen verboten, in der Ukraine würden sie nicht ins Bild des heldenhaften Widerstands passen und in Westeuropa würden sie oft verächtlich als naive Träumer bezeichnet. Dennoch, solche Stimmen für den Frieden seien wichtig – egal, ob in Europa oder in Afrika.
Das VIDC hat internationale Expert*innen eingeladen, die Auswirkungen der zahlreichen Friedens- und Militärmissionen im Sahel zu analysieren sowie mögliche Alternativen zum militärischen Engagement wie zivile Friedensarbeit vor Ort und politische Lösungsansätze zu diskutieren.
Mali: Staatsversagen und multidimensionale Krise
Die Politikwissenschaftlerin und Vorsitzende des African Security Sector Network (ASSN) Niagalé Bagayoko betonte, die Krise in der Sahelzone sei als eine multidimensionale anzusehen und könne nicht, wie vielfach geschehen, auf die Bekämpfung des Terrorismus reduziert werden. Die Situation in der Sahelzone sei auch das Ergebnis äußerer Einflüsse: algerische Terroristen, die nach Süden getrieben worden wären, dazu die Tuareg, die nach dem Sturz von Muammar al-Gadaffi aus Libyen in die Sahelzone zurückgekehrt wären. Diesen hätten sich weitere Gruppen von Tuareg und anderer Ethnien v.a. in Mali angeschlossen. Dazu kämen noch die Selbstverteidigungsgruppen, die in Burkina Faso aufgekommen seien. Diese hätten sich in Niger und Mali ausgebreitet. Weiters kämen noch "normale" Kriminelle hinzu, die illegalen Handel betreiben würden und schlussendlich gäbe es unter den Akteur*innen noch verschiedene Sicherheitskräfte, die versucht hätten, diese Krise zu managen. Es seien also unglaublich viele unterschiedliche Akteur*innen mit unterschiedlichen Hintergründen und Zielen an dieser Krise beteiligt.
Auf die Frage, wie wichtig Religion in den fundamentalen Ursachen dieser Krise sei, antwortete der Soziologe Roland Marchal, dass man die gesamte Situation in Mali seit den 2000er-Jahren zusammenfassen könne, ohne dabei ein einziges Mal das Wort „Islam“ zu verwenden. In Frankreich oder in Europa insgesamt würde man im Zusammenhang mit der Krise in Mali hauptsächlich vom Islam sprechen, das sei ein großes Problem. Dass die Krise des Staates nie als solche gesehen worden wäre, ebenso. Natürlich sei 2012 die Machtübernahme im Norden Malis durch Jihadisten sehr wichtig gewesen. Die Bevölkerung merkte, dass diese Bewegungen ein System infrage zu stellen begannen, das schon längst infrage gestellt hätte werden sollen. Das sei für ihn eine Art Revolution von der Basis, das heißt, von der Bevölkerung aus gewesen, die von den Jihadisten ausgelöst worden wäre und die dann die späteren militärischen Mobilisierungen zur Folge gehabt hätte. „Die nationalen Eliten haben nicht erkannt, dass hier eine Neuverhandlung angestanden wäre und die internationale Staatengemeinschaft hat versucht, einen dysfunktionalen Ist-Zustand einzufrieren.“
Burkina Faso und Niger
Auf die Frage der Moderatorin Marie Roger Biloa, wie die Situation in Burkina Faso sei, dem Land im Sahel mit den derzeit meisten Opfern, und ob man eine Verbindung zwischen Mali und Burkina Faso herstellen könne, erklärte Niagalé Bagayoko, dass es in Burkina Faso sehr viele endogene Dynamiken gäbe, die mit jenen in Mali verbunden wären. Im Jahr 2014, zwei Jahre nach Beginn der Mali-Krise, sei in Burkina Faso der Bürgeraufstand explodiert. Dieser habe der 27-jährigen Herrschaft von Präsident Blaise Compaoré ein Ende gesetzt. In dieser Situation habe es Mittler gegeben, etwa die CEDEAO (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) und Algerien, das bei allem, was die Tuareg betreffe, eingebunden wäre. Alle Probleme, die es in Mali im Regierungsbereich gäbe, seien auch in Burkina Faso präsent. Darüber hinaus gäbe es in der Bevölkerung eine bedeutende demokratische Desillusion. Wie in Mali sei auch hier der Staat wenig präsent. Deshalb gäbe es einen großen Einfluss der Selbstverteidigungsgruppen, die aufgrund der Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung einen wichtigen Platz eingenommen hätten.
Gefragt nach der Sicherheitssituation aufgrund von Terrorismus in Niger, war es Roland Marchal wichtig klarzustellen, dass er den Begriff "Terrorismus" in diesem Kontext nicht verwenden wolle: „Denn der Terrorismus ist eine Kampftechnik. Wir werden den Terrorismus an sich niemals besiegen. Es ist eine Technik, die die Staaten verwenden, um Befreiung zu erzielen.“ Bei der Verwendung des Begriffs Terrorismus verweigere man dem anderen, ein politischer Akteur zu sein und man weigere sich, den Staat, die Gesellschaft, die sozialen Beziehungen des anderen anzuerkennen und auf eine politische Antwort zu kommen, ergänzte Niagalé Bagayoko.
Friedensarbeit im Westafrika
Anschließend ging das Wort an Mahamady Togola, der aus Mali zugeschalten war. Togola ist dort als Landeskoordinator für Mali für WANEP tätig, der Westafrikanischen Organisation für Friedens- und Konfliktforschung. Zu ihrer Arbeit zähle unter anderem, die Resilienz der lokalen Bevölkerungen zu erhöhen, insbesondere wie durch endogene Maßnahmen auf Gefahren reagiert werden könne – eine Art Hilfe zur Selbsthilfe. „Hilfe von außen gibt es keine, deshalb müssen sich die Menschen selbst helfen können“, so Togola. Zweitens habe WANEP ein Frühwarnsystem installiert, durch das in den letzten zwölf Monaten 384 Gewaltfälle mit 783 Opfern gemeldet wurde. Meist handle es sich um Angriffe auf Militärkräfte und Selbstverteidigungsmilizen, aber auch gegen die Zivilbevölkerung und gegen Vertreter*innen des Staates, z.B. medizinisches Personal. Dieses Frühwarnsystem funktioniere in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und der lokalen Bevölkerung, denn staatliche Institutionen sind vor Ort kaum präsent. Andererseits gäbe es auch viele unrühmliche Aktivitäten der Selbstverteidigungsmilizen. WANEP hätte gute Kontakte zu allen religiösen Gruppen und würde versuchen, mit ihnen in regem Austausch zu bleiben und gemeinsam mit ihnen die Situation zu stabilisieren. Wichtig sei es, nicht nur Probleme schnell zu lösen, sondern primär eine Ursachenforschung zu den Problemen zu betreiben. Die Zivilgesellschaft, so Mahamady Togola, sei gerade dabei, eine solide Grundlage zu Fragen wie Zugang zu Wasser, zu Land, zu Nahrung etc. zu legen. Diese Diskussion könne nur lokal geführt werden. Zu weiteren Aufgaben von WANEP zählen die Stärkung von lokaler Governance oder die Verbesserung des Vertrauens in staatliche Strukturen. Das Ende von der französischen Militärmission Barkhane sieht Mahamady Togola aus Angst um die künftige Sicherheit mit Sorge.
„Sahel, was sich ändern muss“
Im April 2021 veröffentlichte eine Bürgerkoalition mit 50 lokalen und regionalen Organisationen der drei Länder Mali, Niger und Burkina Faso den Bericht „Sahel, was sich ändern muss“. Niagalé Bagayoko, die an dem Bericht mitwirkte, fasste den Inhalt und die Ziele für das Publikum zusammen: Die große Idee dahinter sei gewesen, dass es viel mehr um den Schutz der Zivilbevölkerung gehen müsse. Es gehe um andere Kriterien, um Erfolg oder Misserfolg zu messen. Nicht die Anzahl an beschlagnahmten Waffen und erschossenen Terroristen, wie es unter internationaler Beteiligung geschehen würde, seien wichtig. Vielmehr seien die Wiedereröffnung von Märkten oder Schulen von Bedeutung, oder auch, dass Bauern wieder ihre Felder bestellen, oder ihre Herden wieder auf den Weiden grasen könnten.
Ein weiterer wichtiger Indikator sei die transparente Handhabung von Verteidigungsausgaben. In allen drei Ländern, Mali, Burkina Faso und Niger gäbe es enorme Summen im Verteidigungshaushalt, aber keine Transparenz darüber. Darüber hinaus gäbe es von Staatsseite keine Verfolgung gegen die Verantwortlichen bei Übergriffen der Sicherheitskräfte. Menschenrechtskommissionen würden zwar Berichte schreiben, aber dennoch gäbe es keine Strafverfolgung.
Roland Marchal sah die Handlungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft begrenzt. Er gab zu bedenken, dass Verhandlungen mit bewaffneten Gruppen kein NGO-Projekt seien. Er fände zwar die Miteinbeziehung der Zivilgesellschaft sehr wichtig, diese könne aber nicht der Hauptakteur in den Verhandlungen sein. Er mache sich große Sorgen darüber, was passiere, wenn internationale Organisationen über wichtige Dinge diskutierten. Würde man sich beispielsweise die Reaktionen über die Abberufung von Barkhane ansehen, seien einige deplatzierte – und v.a. emotionale – Reaktionen dabei gewesen.
Roland Marchal betonte zudem, man solle sich bei Diskussionen mit totalitären Regimen nicht mit unwichtigen Dingen zufriedengeben, bevor die wirklich wichtigen Dinge geklärt seien – etwa, wie die Gesellschafsordnung aussehe, oder was die Rolle des Staates sei. Seiner Meinung nach sei es illusorisch zu denken, dass in der heutigen Situation die Machtverhältnisse verhandelt werden könnten, denn das Land befinde sich derzeit in einem Ausnahmezustand. Darüber hinaus gäbe es im Moment nicht die nötige Redefreiheit, um solche Fragen zu besprechen.
Frieden braucht politische Konzepte
„Ich glaube, es ist wichtig, dass die militärische Option in eine größere Sicherheitsoption einfließen sollte“, begann Niagalé Bagayoko ihren Ausblick auf die Zukunft des Sahels. Für die verschiedenen Akteur*innen brauche es unterschiedliche Antworten. Es gäbe Akteur*innen, die kriminell seien. Dazu bräuchte es ein funktionierendes Justiz-, Rechts- und Polizeisystem. Sie glaube, dass das militärische Instrument innerhalb einer politischen Vision gesehen werden müsse, die nicht notwendigerweise dem Standard und den Werten entsprechen, die wir uns erwarteten. Sie persönlich glaube, dass Westafrika sich in eine autoritäre Richtung entwickle, die gleichzeitig von Bewegungen religiöser und konservativer Natur geprägt sei, in Allianz mit militärischen Akteur*innen.
Roland Marchal meinte, dass der Wiederaufbau des Militärapparats viel Geld kosten werde. Man müsse Sicherheitssysteme denken, die innerhalb der Region und auch auf internationaler Basis akzeptabel seien. Das sei in der momentanen Situation sehr schwierig und auch sehr kostspielig und deshalb international nicht akzeptabel. Für ihn fehlten in der heutigen Zeit – nicht nur in Afrika, sondern auch in Europa – Politiker, die eine Vision zur Lösung von diesen Konflikten und den zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Ungleichgewichten hätten. Es brauche vor allem politische Eliten, die den Willen und die Ambition dazu hätten. Diese sehe er nicht, weder in Europa noch in Afrika.
„Seit Menschengedenken ist ein Frieden ohne Waffen nur durch professionelle Sicherheitskräfte möglich, die keinen Gebrauch von ihren Waffen machen“, begann Mahamady Togola sein Fazit. Um die Sicherheit ohne Waffengebrauch herstellen zu können, müssten einerseits auch endogene Mechanismen wie Konfliktprävention und -lösung umgesetzt und andererseits die Zivilbevölkerung stärker miteinbezogen werden. Seiner Meinung nach sei im aktuellen Kontext eine Gesellschaft ohne Waffen sehr schwierig, da deren Besitz aufgrund der vielen Bedrohungen (Terroristen, Drogenhändler, ...) und zur nationalen Verteidigung notwendig sei. Prioritär sollte daran gearbeitet werden, den Einsatz dieser Waffen zu reduzieren und eine gute Ausbildung für Sicherheitskräfte zu gewährleisten.
Den Besucher*innen wurde klar, dass die europäischen Wahrnehmungen zu den Krisen im Sahel nicht immer mit den Realitäten in den jeweiligen Ländern übereinstimmen. Das betrifft z.B. den Kampf gegen den Terrorismus. Ein Vertreter aus der Diaspora stellte klar, dass Afrikas Länder selbst über ihren Weg zu entscheiden hätten und die europäische Einmischung zu Ende gehen müsse.
Einig waren sich die drei Expert*innen darin, dass die bisherigen Friedensmissionen nicht die gewünschten Erfolge gebracht hätten. Weniger Einigkeit herrschte bei der Frage, wie man zu einer friedlichen Lösung der Konflikte kommen könne: Transparenz der Militärausgaben, Verfolgung von Korruption, Stärkung der Resilienz der Bevölkerung, stärkere Einbindung der Zivilgesellschaft. Konsens herrschte darüber, dass zum jetzigen Zeitpunkt ein Frieden ohne Waffen nicht möglich ist und es keinen gerechten Frieden geben kann, solange nicht die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung an erster Stelle stehen.