Am 20. März diskutierten im Albert Schweitzer Haus der nigrische Panafrikanist und Menschenrechtsaktivist Moctar Dan Yayé (Alarme Phone Sahara und Afrique-Europe-Interact), die Referentin für Flucht und Migration bei medico international Leonie Jantzer und der aus Tunesien stammende Aktivist und Theatermacher Riadh Ben Ammar mit der Moderatorin Stephanie Deimel-Scherzer über die Auswirkung der Auslagerung von Migrationskontrolle und -abwehr durch die EU auf Länder wie Tunesien und den gesamten Sahel-Sahara-Raum.
Online zugeschaltet waren Rayhane Jlidi, im Süden Tunesiens lebende Aktivistin für die Rechte von Migrant*innen, und Romdhane Ben Amor, Sprecher der tunesischen Vereinigung FTDES (Forum Tunesien pour les Droits Economiques et Sociaux).
Organisiert wurde die mit 100 Personen gut besuchte Veranstaltung vom VIDC in Kooperation mit dem Netzwerk Afrique-Europe-Interact.
Die Externalisierung europäischer Grenzen
Michael Fanizadeh vom VIDC und Deimel-Scherzer umrissen in ihren Eingangsstatements den Kontext und die Brisanz der Problematik: Die asyl- und migrationspolitische Debatte innerhalb der EU-Staaten und insbesondere auch in Österreich ist, verschärft durch den gesellschaftlichen und politischen Rechtsruck, primär davon bestimmt, wie man das Ankommen von Menschen möglichst weitgehend unterbinden kann. Migrationskontrolle wird dabei, ebenso wie die Verantwortung für die Aufnahme geflüchteter Menschen, zunehmend in sog. Drittstaaten außerhalb der EU-Außengrenzen ausgelagert. Menschenrechtliche Fragen spielen bei der Auswahl der Regierungen, mit denen entsprechende Abkommen und Deals geschlossen werden, meist keine große Rolle und auch die öffentliche Debatte innerhalb der EU-Staaten ist vor allem davon bestimmt, welche Deals tatsächlich eine erfolgreiche Migrationsabwehr versprechen. Ausgehend von dem Abkommen, das die EU-Staaten, vertreten durch Ursula von der Leyen, Giorgia Meloni und Mark Rutte, im Juni 2023 mit dem zunehmend autoritär regierenden tunesischen Präsidenten Kais Saied schlossen, öffneten die Referent*innen den Blick auf die Folgen dieser Externalisierungspolitik für people on the move sowie für die vor Ort betroffenen Gesellschaften der Sahel- und Saharaländer.
Tunesien: Von rassistischen Verschwörungsmythen, Pull- und Pushbacks und autoritärer Staatlichkeit
Rayhane Jlidi, Romdhane Ben Amor und Riadh Ben Ammar machten aus ihren verschiedenen Zugängen heraus deutlich, wie sehr sich die gesellschaftspolitischen Realitäten in Tunesien seit Februar 2023 verschoben haben. Präsident Saied hielt damals eine auch international breit zur Kenntnis genommene Rede, in der er die vermeintliche Gefahr einer Veränderung der tunesischen Demografie durch Migration von Menschen aus subsaharischen afrikanischen Ländern, eingefädelt durch mächtige externe Akteure, heraufbeschwor. Was sich wie eine 1:1-Kopie rechtsextremer rassistischer Verschwörungsmythen rund um einen imaginierten „Bevölkerungsaustausch“ liest, hatte für in Tunesien lebende oder durch Tunesien durchreisende Menschen subsaharischer Herkunft bald dramatische Folgen.
Eindringlich berichteten die Referent*innen von den bis heute andauernden Wellen von Massenverhaftungen und Abschiebeaktionen. Von Pullbacks von Menschen, die sich von der tunesischen Küste aus mit Booten auf den Weg Richtung Lampedusa, Sizilien oder Malta machen. Von Abschiebungen in unwirtliche Wüstenregionen an den Grenzen der Nachbarländer Algerien und Libyen. Vom schwierigen Überlebenskampf der Migrant*innen in improvisierten Notbehelfsquartieren in den Olivenhainen, da sie sich innerhalb der Städte kaum mehr bewegen können. Von alltäglichen gewalttätigen Angriffen. Von der gefährdeten Situation, der in besonderem Maße Frauen, von denen viele mit Kindern unterwegs sind, ausgesetzt sind. Und von den tödlichen Folgen dieser Politik, sowohl durch die Häufung von Bootsunglücken vor den tunesischen Küsten mit hunderten Toten als auch durch Verhungern und Verdursten von Menschen, die in der Wüste ausgesetzt wurden. Wie die Referent*innen betonten, betrifft das aktiv geschürte rassistische Klima nicht ausschließlich people on the move, sondern auch Schwarze Tunesier*innen, die ebenfalls vermehrt von Angriffen und Schikanen betroffen sind.
Besonders wichtig war es den Vortragenden auch, deutlich zu machen, was die Praktiken rassistischer Verfolgung und die Politik der geschlossenen Grenzen mit der tunesischen Gesellschaft insgesamt machen. Romdhane Ben Amor und Rayhane Jlidi berichteten aus ihrer eigenen Arbeitserfahrung, wie zivilgesellschaftliche Initiativen, die praktische Solidarität mit people on the move leisten, unter permanentem Repressions- und Kriminalisierungsdruck stehen. So sitzen mehrere namhafte tunesische Menschenrechtsverteidiger*innen im Gefängnis und selbst einfache alltägliche Hilfeleistungen werden bestraft. Präsident Saied seinerseits benutzt das so geschaffene repressive Klima, verstärkt durch Rassismus als Propagandainstrument, zur Festigung seiner autoritären Herrschaft. Wohlgemerkt vor einem Hintergrund, wo viele Menschen in Tunesien zunehmend unzufrieden mit der schlechten sozioökonomischen Gesamtsituation sind und einige u.a. deshalb ebenfalls versuchen, wegzugehen. Wie es Riadh Ben Ammar auf den Punkt brachte: Geschlossene Grenzen brauchen Diktaturen und sie produzieren Diktaturen.

Kettenabschiebungen mit Endstation Niger
Moctar Dan Yayé ordnete anschließend die tunesische Realität in einen breiteren regionalen Kontext ein. Als Aktivist des Alarme Phone Sahara, das im Niger praktische Solidarität mit people on the move leistet, kennt er die Situation in Agadez, sowie in den Orten entlang der Transsahara-Reiserouten und an den nigrischen Grenzen aus eigener Anschauung – und konnte mitverfolgen, wie sich die Abschiebe- und Pushback-Praktiken Tunesiens und der anderen Maghrebstaaten im weiteren Verlauf auf den Niger auswirken. Wie er ausführte, bleibt den Menschen, die die tunesischen Sicherheitskräfte in den Grenzgebieten zurücklassen, sofern sie diese Prozedur überleben, oft nur der Weg über die Grenze nach Algerien bzw. nach Libyen. In beiden Fällen endet dies oft damit, dass sie von den Sicherheitskräften dieser Staaten aufgegriffen und dort in ein Abschiebezentrum oder Internierungslager gebracht werden.
Bezüglich des algerischen Staates dokumentiert das Alarme Phone Sahara seit Jahren regelmäßige Razzien gegen Migrant*innen in den Städten Algeriens uns anschließende Massenabschiebungen, bei denen die Menschen zunächst in Busse und anschließend in LKWs verladen und in der Wüste an der algerisch-nigrischen Grenze abgeladen werden. Auch aus Libyen beobachtet das Alarme Phone Sahara seit 2024 vermehrt Abschiebungen im großen Stil von Menschen in den Niger. Somit ergibt sich ein Gesamtbild von Kettenabschiebungen zunächst aus Tunesien an die algerischen und libyschen Grenzen, bei denen sich die betroffenen Menschen am Ende oft im Niger wiederfinden. Nur ein Teil der Betroffenen findet dort Aufnahme in den Camps der IOM und des UNHCR, viele müssen auf der Straße oder in sog. Migrant*innenghettos überleben – wohlgemerkt in einem Land, das selbst von Sicherheitskrisen, Armut und den Folgen von Wirtschaftssanktionen gebeutelt ist.
Medico-Referentin Leonie Jantzer kam schließlich nochmals darauf zurück, wie eng die geschilderten Vorgänge in Tunesien, Algerien, Libyen und Niger mit der Migrationspolitik der EU Staaten zusammenhängen. Exemplarisch für die weitgehende Auslagerung von Migrationskontrolle und Aufnahme von Geflüchteten an Drittstaaten steht die 2024 beschlossene GEAS-Reform des europäischen Asylsystems. Doch die Politik der Externalisierung gegenüber afrikanischen Staaten lässt sich viel länger zurückverfolgen und einen der letzten markanten Höhepunkte bildet das Memorandum of Understanding zwischen EU und Tunesien vom 16.07.2023, gefolgt von weiteren Treffen in Tunesien und Italien. Diese fielen just damit zusammen, dass In Tunesien versucht wurde, auch die letzten Camps von Geflüchteten zu zerstören und hunderte an die Grenzen abgeschoben wurden.
Ausgeführt werden die Abschiebungen , z.T. mit von EU-Regierungen gespendeten Fahrzeugen. Deutschland hat seinerseits der tunesischen Küstenwache Patrouillenschiffe und Überwachungstechnik geschickt, die für sog. „interceptions“, also Aufgriffe und Rückschiebungen von Booten mit Flüchtenden genutzt wird. Außerdem wurde zuletzt bekannt, dass Deutschland und Italien auch mit dem algerischen Staat Abkommen zur Polizeikooperation mit dem Ziel der Migrationsabwehr geschlossen haben. Wie Jantzer betonte: Die EU legitimiert und finanziert die Grenzgewalt, die vor Ort passiert sehenden Auges und macht sich damit mitschuldig. Außerdem produziere sie mit ihrer eigenen Politik der ständigen Verschärfungen von Asylsystem und Migrationsgesetzen einen Freifahrtsschein für andere Staaten, ihnen nachzuziehen.

Ausblicke auf Bewegungsfreiheit uns globale Gerechtigkeit
Im Anschluss entspann sich eine angeregte Diskussion zu verschiedenen Strängen mit den Anwesenden, die von den Beiträgen sichtlich berührt waren: Eine Teilnehmerin warf die Frage auf, inwieweit sich die Maghreb-Staaten vor dem Hintergrund der systematischen Gewalt gegen Bürger*innen subsaharischer Staaten überhaupt als Teil einer gemeinsamen afrikanischen Identität verstünden. Die Referent*innen aus Tunesien und Niger mussten bedauernd feststellen, dass gerade das von europäischer Seite forcierte System der Migrationsabwehr die notwendigen Bemühungen zur Stärkung innerafrikanischer Kooperation und Solidarität untergraben habe. Eine andere Anwesende brachte das Interesse zum Ausdruck, seitens der sudanesischen Community in Wien Projekte zur Unterstützung ihrer Landsleute und anderer Geflüchteter zu starten, die in den Flüchtlingslagern des Niger feststecken. Eine Sprecherin der exilkongolesischen Vereinigung „Fondation la Grande“ betonte ihrerseits die Notwendigkeit, die durch den Rohstoffhunger befeuerten Kriege auf afrikanischem Boden zu beenden und damit eine der für viele Menschen wesentlichen Fluchtursachen zu bekämpfen.
Die Referent*innen ihrerseits wollten es nicht bei einer pessimistischen Perspektive angesichts der düsteren Realität von Grenzgewalt und autoritärer Staatlichkeit belassen. Moctar Dan Yayé, Riadh Ben Ammar und Leonie Jantzer betonten übereinstimmend, dass es für die meisten Menschen aus den afrikanischen Ländern gar nicht darum gehe, unbedingt auf Dauer in Europa leben zu wollen - vielmehr gehe es um Bewegungsfreiheit als unerlässliche Voraussetzungen für Demokratisierung und den Anspruch auf ein würdiges Leben für alle.
Podium
Moctar Dan Yayé
wohnhaft zwischen Niamey (Niger) und Nouakchot (Mauretanien) wurde 1984 in Niamey, Niger, geboren. Er ist Aktivist, Panafrikanist und Menschenrechtsverteidiger, insbesondere für Menschen, die weltweit auf den Flucht- und Migrationsrouten unterwegs sind, sowie Experte zu Migrationsfragen und der Externalisierung der europäischen Grenzen in Afrika, insbesondere im Niger. Er ist eines der Gründungsmitglieder von Alarme Phone Sahara und Mitglied des Netzwerks Afrique-Europe-Interact sowie anderer lokaler und regionaler Netzwerke der Zivilgesellschaft, die sich für eine gute Regierungsführung und soziale Gerechtigkeit einsetzen.
Leonie Jantzer
arbeitet bei der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international als Referentin für Flucht und Migration. Sie ist Kultur- und Migrationswissenschaftlerin. Zuvor hat sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Polizei, Politik, Polis – Zum Umgang mit Geflüchteten in der Stadt“ an der Leuphana Universität Lüneburg gearbeitet. Sie promoviert zu Sicherheitsdeutungen und -praktiken von Geflüchteten und Polizist*innen in Deutschland vor dem Hintergrund des Versicherheitlichungsdiskurses von Migration.
Riadh Ben Ammar
ist Schauspieler und politischer Aktivist. Er ist Anfang der 2000er Jahre von Tunesien nach Deutschland gekommen. Lange war er in einem Flüchtlingslager in Mecklenburg-Vorpommern untergebracht, inzwischen lebt er zwischen Tunesien und Deutschland. Seit vielen Jahren führt Ben Ammar Theaterstücke im Rahmen seines Projekts „Theater für Bewegungsfreiheit“ auf. Sein erstes Stück „Hurria!“ handelte vom arabischen Frühling in Tunesien und was dieser mit der Forderung nach Bewegungsfreiheit zu tun hat – inzwischen sind mehrere Theaterstücke dazugekommen. Ben Ammar ist zudem Mitbegründer des Vereins „Sans Visa“, der in Tunis eine Schutzwohnung betreibt, wo Migrant*innen auf ihrer Reise einen Zufluchtsort finden.
Digital zugeschaltet:
Rayhan Jlidi
(Name aus Sicherheitsgründen geändert) lebt in Tunesien und setzt sich trotz erheblicher Repression durch das tunesische Regime für die Rechte von Migrant*innen ein. Sie engagiert sich vornehmlich in der Stadt Sphax im Süden Tunesiens, die für People on the Move zur wichtigsten Station auf der Reise nach Europa geworden ist.
Romdhane Ben Amor
ist Sprecher der tunesischen Vereinigung FTDES (Forum Tunesien pour les Droits Economiques et Sociaux / Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte). FTDES wurde 2011 gegründet, um auf nationaler und internationaler Ebene für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu kämpfen. FTDES arbeitet zu folgenden Themen: Arbeitsrechte, Frauenrechte, Umweltrechte und Migrantenrechte. Ben Amor hat sich mit seiner Organisation an der Notfallrettung für Menschen beteiligt, die unter lebensbedrohenden Bedingungen in die Wüste abgeschoben wurden.
Moderation: Stephanie Deimel-Scherzer
ist Politikwissenschaftlerin und Sozialarbeiterin und war viele Jahre bei Afrique-Europe-Interact aktiv. Sie beschäftigt sich mit Fragen von Migration und Entwicklung und ist beruflich im Jugendbereich tätig.