Am 25. Februar rekapitulierte Moderatorin Cathrin Kahlweit gemeinsam mit den Wissenschaftler*innen Toni Haastrup und Ivan Krastev sowie mit dem ehemaligen Spitzendiplomaten Wolfgang Petritsch das Superwahljahr 2024, mit besonderem Fokus auf die US-Wahl. Noch mehr als zurückblicken, wollte man aber die Geschehnisse im größeren Ganzen verstehen und zeigen, welch monumentale Machtverschiebungen weltweit in Gange sind. Die von Michael Fanizadeh und Sybille Straubinger (VIDC) kuratierte Veranstaltung fand in der Diplomatischen Akademie Wien statt.
Der Globale Süden: Auswirkungen des europäischen Rechtsrucks
Toni Haastrup (Professorin für globale Politik an der Universität Manchester) eröffnete die Beiträge der Panelist*innen, indem sie auf die Bedeutung der westlichen Entwicklungen für den Globalen Süden einging. Ausgehend von dem europäischen Rechtsruck fürchte man im Süden, dass sich die Beziehungen zum Norden verschlechtern. Dies betreffe vor allem Handel, Sicherheit und Klimapolitik. Eine besondere Zuspitzung der Spannungen befürchtet Haastrup im Bereich der Migrationspolitik.
Da viele afrikanische Länder aber (weiterhin) in diesen Bereichen der internationalen Beziehungen eine Stimme haben wollen, diversifizieren sie ihre Partnerschaften. Dadurch büße die Europäische Union ihre privilegierte Position zugunsten Chinas, Russlands und der Golfstaaten weiter ein. Mit der EU seien es Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und der UN Security Council die an Bedeutung verlieren. Angst, dass jene Werte, die europäische Politiker*innen für sich beanspruchen, unterminiert werden, hat Haastrup nicht. Denn die Eliten Europas seien dahingehend auch mit liberalerem Antlitz nicht glaubhaft gewesen. So wie nun Russland und China Afrika „aufkaufen“ würden, habe das Europa zuvor gemacht. Während Haarstrup nicht leugnet, dass der westliche Einfluss auch teilweise positive Auswirkungen auf den Globalen Süden gehabt habe, müsse man dies aber auch China zugestehen. So hätten einige afrikanische Länder durch chinesische Investitionen einen bedeutenden Ausbau der Verkehrsinfrastruktur erlebt.
Authentische progressive Werte verortet Haastrup eher in zivilgesellschaftlichen Initiativen. In dieser Hinsicht seien progressive Einflüsse des Nordens tatsächlich in Gefahr. Denn NGOs im Globalen Norden stehen aktuell massiv unter Beschuss ihrer eigenen rechten Regierungen und leiden unter einer drastischen, teils gezielten Kürzungspolitik. Derlei politische NGOs seien in der Vergangenheit wesentliche Partnerinnen gewesen, um progressive Entwicklungen im Süden zu unterstützen. Es ist also nicht die Ignoranz von Süd und Ost gegenüber den Werten des Westens, sondern die Ignoranz der westlichen Eliten gegenüber der eigenen kritischen Bevölkerung der eigentliche Grund, warum letztlich auch fortschrittliche Stimmen im Süden an Schlagkraft verlieren.
USA und Russland: Eine geopolitische Revolution
Während Haastrup die steigende Bedeutung von Süd-Ost-Beziehungen thematisierte, widmete sich Ivan Krastev (Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies und ständiger Mitarbeiter am Institut für die Wissenschaften vom Menschen Wien) der überraschenden Annäherung der Trump-Regierung an Vladimir Putin. Diese komme laut Krastev aber nur augenscheinlich aus dem Nichts. Trump gehe es bei den Verhandlungen mit Putin unter dem Banner des Ukrainekriegs in Wahrheit nicht um die Ukraine. Viel eher habe Trump den Bedeutungsverlust der EU längst verstanden und würde sich nach Ende des langen 21. Jahrhunderts nun die Weltkarte – mit Russland – neu aufteilen wollen. Dies habe sich auch daran gezeigt, dass Trump und Putin in ihrem letzten Verhandlungsgespräch noch viele weitere Dinge besprochen haben, die weit über den Ukrainekrieg hinausgehen. Tatsächlich verfolge Trump in dem Kontext seine Interessen im Nahen Osten sowie seine eigenen territorialen und Ressourcen-technischen Bestrebungen in der Arktis. Trumps eigene Expansionsfantasien seien wohl auch Grund dafür, dass er nun suggeriert, der Ukraine-Krieg könne nur beendet werden, wenn Russland keine der aktuell besetzten Gebiete aufgeben müsse.
Auf Kahlweits Frage, was die Ukraine tun kann, außer diesen schlechten Deal anzunehmen, meinte Krastev: „Ukraine will not have a capability of its own.“ Die Kriegshilfen, die die USA bis dato gewährt hätten und die am Spiel stehen, seien unersetzbar.
Sollte bis zu Trumps Putin-Besuch am 9. Mai dieses Jahres kein Waffenstillstandsdeal vereinbart sein, würde Trump Russland wohl auf Seite der USA ziehen wollen. Ob sich diese Annäherung für Russland lohne, sei jedoch zweifelhaft, zumal Russlands Beziehung zu China dadurch gefährdet würde.
Europa: Gelähmt und orientierungslos
Wie Krastev sprach auch Wolfgang Petritsch (Präsident des Österreichischen Instituts für Internationale Politik und Präsident der Österreichischen Marshallplan-Stiftung) von einer US-amerikanischen Revolution, die zu beobachten sei. Diese finde ausgehend von der Wahl Trumps innerhalb der USA, aber auch im Rest der Welt statt. Viele Staaten, so etwa auch Serbien, hätten in der Vergangenheit versucht, mit dem Westen und dem Osten gleichermaßen Partnerschaften aufrechtzuerhalten. Dies sei durch die jüngsten Zuspitzungen in den Internationalen Beziehungen merklich schwierig geworden. Schließlich hätten die USA zuletzt in der Generalversammlung der Vereinten Nationen gemeinsam mit Russland, China, Nordkorea und Belarus gegen die Ukraine und die Europäische Union gestimmt.
Obwohl derlei Szenarien noch vor einiger Zeit unvorstellbar gewesen seien, würde Europa noch immer nicht begreifen, dass sich die geopolitische Lage gerade radikal und nachhaltig ändert. Früher sah sich Europa im Schutz der USA. Beim Versuch, das eigene kapitalistische System auszuweiten, hatten die USA im 20. Jahrhundert – erfolgreich – mittels Soft Power agiert, insbesondere durch den Marshall-Plan. Gemeinsam mit dem kulturellen Einfluss der USA auf Europa, sei Europa in gewisser Weise ein „Erzeugnis“ der USA. Damals hätte man Sicherheitsbedrohungen im Süden und Osten verortet. Die Aufkündigung der Allianz mit der EU bedeute, dass nun der Westen selbst zum Schlachtfeld werde. Der Kampf um Ressourcen erstrecke sich weit in den Norden über Skandinavien bis in die Arktis.
Dieser externe Schock würde begleitet von der sukzessiven Demontage der Demokratie, angefeuert durch die europäische Rechte. Auch hier verortete Petritsch mehr als nur ein paar neue Herausforderungen für Europa, sondern fundamentale Veränderungen. Europa könne sich hinsichtlich seiner Organisationsweise nicht an den USA orientieren, da es im Gegensatz zu den USA kein Staat sei. Vielmehr müssten die Europäer*innen ihren eigenen Weg finden. Aktuell sei man jedenfalls gelähmt durch das Einstimmigkeits-Prinzip der EU. Dieses gilt in sensiblen Bereichen, wie der Außen- und Sicherheitspolitik.
Widerstand neu denken
Doch wie könnte oder vielmehr müsste ein progressiver Weg in Europa und darüber hinaus aussehen? Für Petritsch beinhalte dieser Weg in der kurzen Sicht zwar sehr wohl eine Aufrüstung, um das von ihm propagierte europäische Friedensprojekt zu schützen. Allerdings müsste man das Ziel des vereinten Europas komplett neu angehen. Man müsse die Schwächen der eigenen liberalen Demokratien überwinden, indem man die Demokratie komplett neu aufbaut. Letztlich kann nur so strategische Autonomie erlangt werden.
Auch Haastrup erachtete ein neues Verständnis von Demokratie als notwendig. „Democracy doesn’t just happen at the ballot box“, mahnte sie. Selbst, wenn der Ausblick manchmal hoffnungslos erscheine, müssen progressive Kräfte die Gelegenheit nützen, um Solidarität und letztlich Widerstand über Grenzen hinweg aufzubauen. Dazu müsse man sich aber womöglich ein Stück weit von den etablierten demokratischen Institutionen befreien und neue Wege finden, Demokratie zu leben. Eine konkrete Hoffnung Haastrups sei, dass sich mit diesem Ziel stärkere Süd-Süd-Beziehungen konstituieren. Sie warnte entschlossen davor, jedes Problem der Internationalen Politik durch Militarisierung lösen zu wollen.
Krastev betonte, dass die Krise der Demokratie letztlich mit der Krise des Kapitalismus verbunden sei. Es sei wichtig, zu verstehen, welche Emotionen und speziellen Interessen innerhalb der Bevölkerung eine derartige politische Spaltung (mit-)bedingen, wie sie zuletzt bei der deutschen Bundestagswahl vor allem unter jungen Wähler*innen zu beobachten war. Für progressive Kräfte gelte es laut Petritsch, rechten Ideologien eigene neue, vereinende Narrative entgegenzusetzen. Es gehe um nichts weniger, als (wieder) die kulturelle Hegemonie zu übernehmen.