SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

Erlösung durch Drittstaaten? Wie die EU-Nachbarländer unser Asyl- und Migrationsdilemma lösen sollen

Bericht vom 8. April 2024

Programm


Neva Övünç Öztürk

ist Juristin und Assistenzprofessorin an der Juristischen Fakultät der Universität Ankara. U.a. hat sie über die Auswirkungen des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen von 2016 auf das türkische Migrations- und Asylsystem geforscht.

Judith Kohlenberger

Kulturwissenschafterin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip). Seit 2015 arbeitete sie im Bereich der interdisziplinären Fluchtforschung, u.a. im Rahmen der Studien Displaced Persons in Austria Survey (DiPAS) und Refugee Health and Integration Survey (ReHIS).

Karl Kopp

vertritt PRO ASYL im Europäischen Flüchtlingsrat ECRE (European Council on Refugees and Exiles). Er leitet die Europa-Abteilung von PRO ASYL und ist verantwortlich für die Pressearbeit im europäischen Kontext sowie für die europaweite Vernetzung von PRO ASYL mit Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen.

Ilker Ataç

Professor für Politik in der Sozialen Arbeit am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda. Seine Arbeitsschwerpunkte sind undokumentierte Migration und Duldung, Urban Citizenship und lokale Sozialpolitik, zivilgesellschaftliche Akteur*innen und soziale Bewegungen, Migrationspolitik, türkische Politik und politische Ökonomie.

Begrüßung

Lukas Gahleitner-Gertz, asylkoordination Österreich und Michael Fanizadeh, VIDC Global Dialogue

Autorin


Sophie Gatschnegg

Kuratiert von


Michael Fanizadeh, VIDC Global Dialogue, Ilker Ataç, Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda und Lukas Gahleitner-Gertz, asylkoordination Österreich

Kooperation

Was ist die Historie und der aktuelle Kontext einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationsreform und welche Möglichkeiten gibt es für ein menschenrechtsorientiertes Asyl- und Migrationssystem? Mit diesen Fragen beschäftigte sich die VIDC-Veranstaltung „Erlösung durch Drittstaaten? Wie die EU-Nachbarländer unser Asyl- und Migrationsdilemma lösen sollen“ am 8. April 2024. Unter der Moderation des Politologen Ilker Ataç diskutierten die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger, die Juristin Neva Övünç Öztürk sowie Karl Kopp von PRO ASYL in Deutschland, vor dem Hintergrund der EU-Reform des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS-Reform), die vom Europaparlament am 10. April 2024 beschlossen worden ist. Die Veranstaltenden und Podiumsteilnehmer*innen betonten, wie wichtig es sei, dass der Diskurs zu Asyl und Migration jenseits von Schlagworten geführt wird. Es brauche eine mehrperspektivische Auseinandersetzung mit den Themen, anstelle verkürzter Darstellungen. Organisiert wurde die Veranstaltung durch das VIDC in Kooperation mit asylkoordination österreich.

Judith Kohlenberger: Die GEAS-Reform der Europäischen Union (EU)

Kohlenberger beschreibt die GEAS-Reform als hochkomplex und bürokratisch. Es fehle an Klarheit in Bezug auf die praktische Umsetzung der Reform, die weder rechtsstaatlichen noch menschenrechtlichen Standards gerecht wird. Beispielhaft beschreibt Kohlberger die in der Reform verankerten Schnellverfahren an den Außengrenzen. Wenn geflüchtete Personen aus einem Land kommen würden, bei dem in der Vergangenheit unter 20% der Asylansuchenden Schutz gewährt wurde, tritt ein sogenanntes Schnellverfahren in Kraft. Dieses könne bis zu drei Monate dauern und entscheidet, ob der Person überhaupt ein Anspruch auf ein Asylverfahren zugesprochen wird, oder diese stattdessen rückgeführt wird. Dadurch wird der Anspruch auf Schutz einerseits von der Staatsangehörigkeit abhängig gemacht und andererseits die Zuerkennungsquote bestimmter Länder auch in Zukunft niedrig gehalten. Im Zuge dieser Prozesse werden Geflüchtete in sogenannten Anhaltezentren praktisch in Haft genommen.

Den EU-Akteur*innen sei es wichtig, eine erneute Situation wie im Lager Moria in Griechenland zu verhindern, doch die Herkunftsländer waren nicht Teil der Diskussionen, als vereinbart wurde, Rückführungen vor Asylverfahren zu forcieren: „Innerhalb kürzester Zeit kann es dazu kommen, dass die Anhaltezentren über die Kapazitätsgrenzen kommen, weil Rückführungen nicht möglich sind. Und dann haben wir eigentlich genau die Situation, die man verhindern wollte“, erklärt Kohlenberger. Es liege eine unzureichende Rechtsgrundlage für Einsprüche gegen negative Bescheide und fehlende rechtliche Unterstützung vor. Die Reform beinhalte außerdem keine verpflichtende, sondern nur eine flexible Solidarität: Alle EU-Länder seien dazu verpflichtet, sich zu beteiligen, auf welche Weise stehe ihnen aber frei. Es können beispielsweise auch Zahlungen an ein anderes Land erfolgen, das im Gegenzug eine geflüchtete Person aufnimmt.
 
„Die Art und Weise wie man gegenüber Schutzsuchenden agiert, hat sehr wohl auch Auswirkungen auf uns“, verdeutlicht Kohlenberger. Die Europäische Union verliert durch die Untergrabung des Asylrechts ihre Glaubwürdigkeit als „Hüterin der Menschenrechte und des Rechtsstaats“. Das schade der EU auch in ihrer Beziehung zu Drittstaaten, die die Doppelmoral der EU kritisieren. Die EU wird zunehmend erpressbar, weil Akteur*innen wie Putin und Erdoğan aufzeigen können, dass die EU die Menschenrechte nicht so ernst nimmt, wie sie vorgibt und stattdessen die Bewältigung von Migration in die Länder des Globalen Südens auslagert. „Solange wir da kein alternatives Konzept gefunden haben, bleibt Europa auf dieser Achillesferse, die die Migrationsfrage ist, verwundbar“, schließt Kohlenberger.

Neva Övünç Öztürk: Der EU-Türkei Deal

Öztürk berichtet vom EU-Drittstaatenabkommen, dem sogenannten EU-Türkei Deal von 2016. Dem Deal vorausgegangen war eine Reform des türkischen Asyl- und Migrationssystems im Jahr 2014, deren Ansinnen es war, das türkische Migrationssystem an die europäischen Menschenrechtsstandards anzugleichen, um eine volle EU-Mitgliedschaft zu erreichen. Die Türkei übernahm allerdings ‚nur‘ den menschenrechtlichen Rahmen und verfügte nicht über entsprechende Kontrollinstanzen und Erfahrungen mit der Integration geflüchteter Menschen.

Die EU wollte 2016 den eigenen Umgang mit der Migrations- und Asylsituation zunehmend über Drittstaaten regeln, was den EU-Türkei Deal zur Folge hatte: „Der Deal sieht das Problem der irregulären Migration. Wenn die Menschen keine entsprechenden Papiere erhalten, haben sie aber keine andere Wahl als irreguläre Migrationswege zu wählen“, erklärt Öztürk. Das Abkommen forderte die Türkei dazu auf, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Geflüchtete davon abzuhalten, nach Europa zu reisen. Geflüchtete, die irregulär aus der Türkei gekommen sind, könnten dorthin zurückgeschickt werden. Pro Syrer*in, die zurückgeführt würden, würden die EU-Mitgliedstaaten einen syrischen Geflüchteten aufnehmen, die oder der in der Türkei gewartet hat. Im Gegenzug sollte die Türkei sechs Milliarden Euro erhalten, um die humanitäre Situation von Geflüchteten im Land zu verbessern.

Die Abschiebung von Verantwortung an die Türkei führte zu einer Überlastung der Türkei, wo geflüchtete Personen unter entsprechend prekären Bedingungen verweilen. Die Personen erhalten lediglich einen temporären Schutz, der keine Sicherheit bietet. Es ist unklar, wie lange ein Mensch diesen Status tragen müsse und währenddessen bleibe er in seiner Mobilität und Entscheidungsfreiheit im Alltag massiv eingeschränkt. Durch die Überlastung griff die Türkei auch auf repressive Maßnahmen zurück, anstatt den menschenrechtlichen Rahmen der Migrationsreform umzusetzen. „Das wirft die Frage auf, wie die Europäisierung in diesem Fall verhindert hat, dass das türkische Asylsystem sich den europäischen Menschenrechten angleicht“, verdeutlicht Öztürk und hält fest: „Jede einzelne Person ist ein Subjekt fundamentaler Rechte. Und über Menschen in Zahlen zu sprechen, macht es zu einfach, obwohl es komplex ist. Jede einzelne Person ist eine eigene Welt.“

Karl Kopp: Das europäische Asyl- und Migrationssystem als demokratisches Problem

Als 2015 Menschen aus beispielsweise Syrien und Afghanistan nach Europa geflüchtet sind, behaupteten politische Entscheidungstragende, das europäische Asyl- und Migrationssystem würde nicht funktionieren – obwohl sie dessen Richtlinien noch nicht einmal angewandt hatten. Genauso wird die Rechtsstaatlichkeit an den Grenzen zu Drittstaaten ausgeschaltet, wo ein permanenter Ausnahmezustand etabliert wird und Tode und Menschenrechtsverletzungen hingenommen würden. „Wenn Gewalt nicht gesühnt wird, keine Gerechtigkeit existiert, dann haben wir ein Demokratieproblem“, sagte Kopp.

Neue Drittstaatenregelungen im Zuge der GEAS-Reform legen fest, dass ein Land als sicheres Land gilt, wenn nur ein Teilgebiet davon sicher ist. Die Sicherheit eines Landes würde unabhängig davon festgelegt, wie viele Menschen aus diesem Land selbst flüchten. Die Reform untergrabe an verschiedensten Stellen menschenrechtliche Standards in Europa und reduziere das Asyl- und Migrationssystem auf asylfeindliche Praktiken. Kopp weiters: „Dadurch wird deutlich, dass Europa nicht in der Lage ist, Menschenwürde herzustellen. Dass Europa nicht in der Lage ist, eine korruptionsfreie Implementierung von Flüchtlingsunterbringung umzusetzen und, dass Europa auch nicht in der Lage ist, Solidarität und Verantwortungsteilung zu organisieren.“ Politisch rechts und rechtsextrem Denkende fordern außerdem, dass Europa in Zukunft ganz der Verantwortung entzogen wird, Asylschutz gewähren zu müssen. Asyl solle nur mehr in Drittstaaten möglich sein. „Das Hauptproblem wird bleiben, dass die tägliche Gewalt und Gleichgültigkeit gesteigert werden“, erklärt Kopp, „Siebenundzwanzig Staaten können einen Kontinent nicht dicht machen. Sie können nur den Preis hochtreiben, indem sie ihn blutiger, das heißt tödlicher, gestalten.“

Chancen eines menschenrechtsorientierten Asyl- und Migrationssystems

Öztürk hebt hervor, wie wichtig bindende Regelungen sind. Solange das europäische Asyl- und Migrationssystem auf Freiwilligkeit und flexibler Solidarität basiert, würde sich nichts ändern. Da kein Nationalstaat geflüchtete Personen schützt und repräsentiert, müssen geflüchtete Menschen als eigene Rechtssubjekte sichtbar gemacht werden. Kopp fügt hinzu, dass aktuell Recht gebrochen anstatt angewandt würde und die aktuelle Asyl- und Migrationspolitik von Rassismus geprägt sei. Beispielsweise wird ‚weißen‘ Geflüchteten aus der Ukraine mehr Schutz und Freiheit zugesprochen. Neben irregulären Wegen brauche es mehr reguläre Wege für Migration und bestehende menschenrechtliche, rechtsstaatliche und völkerrechtliche Richtlinien müssen endlich ernst genommen werden.

Dafür brauche es eine Gegenerzählung, erklärt Kohlenberger. Die aktuellen menschenrechtsverletzenden Praktiken werden als alternativlos dargestellt. Es brauche eine tiefgreifende Transformation der Gesetze, was auch Einwanderungs- und Wahlgesetze in Österreich betreffen würde. Das scheitere vor allem am politischen Willen. Politische Entscheidungstragende nutzen die Überlastungs- und Krisenerzählung, um Stimmen bei Wahlen zu lukrieren. „Aktuell haben wir Grenzen, die von Gewalt geprägt sind, aber was wir brauchen, sind Grenzen, die von Demokratie geprägt sind“, fordert Kohlenberger, „Wir brauchen Dialogmöglichkeiten, damit sowohl Ankommende als auch Aufnehmende an den Grenzen gemeinsam mitbestimmen können, wie Einreiseregime gestaltet werden sollen.“ (23. April 2024)

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