SPOTLIGHT Dezember 24: Fokus Internationale Zusammenarbeit

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. Im Zentrum der aktuellen Dezember-Ausgabe stehen diesmal die europäische Außen- und Entwicklungspolitik und internationale Zusammenarbeit. Wir schauen wir einerseits auf die Umbrüche in der EU-Außen- und Wirtschaftspolitik und was das für Fragen der Geschlechtergerechtigkeit bedeutet, auf die die Ergebnisse der Weltklimakonferenz COP29 in Baku sowie auf den Wiener Prozess für ein demokratisches Afghanistan.
 

 

#4: Life under the Taliban

Das Monster ist zurück

Foto: #4: Life under the Taliban, © Anisa

© Anisa

In Afghanistan jährt sich am 15. August die Niederlage der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten sowie die vollständige Machtübernahme des Landes durch die Taliban. Seitdem hat sich die Lage von Frauen und Mädchen im Lande dramatisch verschlechtert. Anisa* aus Mazar-e Sharif erzählt uns ihre Geschichte und wie die Träume von Frauen und Mädchen jeden Tag aufs Neue zerstört werden.

Unter dem Titel „Life under the Taliban“ startete VIDC Global Dialogue eine Artikelserie zur Situation in Afghanistan nach der Machtergreifung durch die Taliban im August 2021. Frauen und Männer aus verschiedenen Teilen des Landes und mit unterschiedlichen Perspektiven und Realitäten erzählen uns ihre Geschichten.

Wenn wir allein sind, darf ich als Frau nicht mit meinen männlichen Kollegen sprechen

Ich arbeite als Dozentin an einer Universität. Bei meiner Arbeit sind die Büros der männlichen und weiblichen Kollegen streng getrennt. Unsere Klassen wurden getrennt, um Mädchen und Jungen zu trennen, und trotzdem muss ich mein Gesicht beim Unterrichten bedecken. Mädchen dürfen keine bunte Kleidung tragen und die Universität nicht ohne Gesichtsmaske betreten. Unser weibliches Personal muss einen schwarzen Hidschab tragen. Wenn wir das nicht tun, bestrafen uns die Taliban.
 
Ich bin Anisa, eine Lehrkraft aus Nord-Mazar-e Sharif in der afghanischen Provinz Balkh. Ich habe den Aufstieg, den Fall und die erneute Machtübernahme der Taliban über drei Jahrzehnte hinweg miterlebt. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht - früher als Studentin oder als Hochschullehrerin an privaten Universitäten in Mazar-e Sharif. Ich habe eine große Liebe für Bildung und Fortschritt in allen Lebensbereichen und zu meinem Land. Im vergangenen August wurden meine Träume von einem blühenden Afghanistan durch die Machtübernahme der Taliban zunichte gemacht. Im August letzten Jahres haben uns die westlichen Länder an die Wölfe verfüttert.

Meine frühen Jahre

Ich war zehn Jahre alt, als die von den USA angeführten internationalen Streitkräfte die Taliban-Regierung Ende 2001 entmachteten, weil sie Osama bin Laden, den damaligen Anführer von Al-Qaida und bekannten Organisator der Anschläge vom 11. September in den USA, beherbergten. Nach der Entmachtung der Taliban wurde Hamid Karzai ausgewählt, um das Land zu führen und Hoffnung auf ein neues Afghanistan zu wecken, in dem Mädchen wieder Schulen und Universitäten besuchen und Frauen arbeiten durften. Im Jahr 2010 machte ich meine Matura und setzte mein Studium an einer privaten Universität fort, wo ich mit Begeisterung Jura und Politikwissenschaften studierte. Das war meine Leidenschaft.

Während der ersten Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren habe ich die Taliban als Monster für die Frauen erlebt. Während ihrer fünfjährigen Herrschaft verbannten sie Mädchen aus den Schulen und Frauen von der Lohnarbeit. Das ging so weiter, bis sie 2001 gestürzt wurden. Die folgenden zwanzig Jahre wirtschaftlichen, militärischen und politischen Engagements westlicher Länder in Afghanistan schufen neue Möglichkeiten für eine neue Generation - wir konnten große Träume haben. In diesen letzten zwei Jahrzehnten haben die afghanischen Frauen Fortschritte gemacht und sich weiterentwickelt, wie der Rest der Welt. Wir waren naiv zu glauben, dass der Westen uns nicht in Stich lassen würde. Aber er verließ uns, während wir zusahen, wie die Taliban Gebiete eroberten und auf die großen Städte vorrückten und schließlich am 15. August 2021 Kabul einnahmen. Die Welt sah tatenlos zu.

Taliban, eine Tragödie für Frauen

Vor der Machtübernahme haben diejenigen, die mit den Taliban in Friedensverhandlungen standen, den afghanischen Frauen immer wieder gesagt, dass sich die Taliban geändert hätten. Sie sagten, dass die Taliban ihre strenge, unterdrückerische Auslegung des Islam nicht durchsetzen würden, wenn sie zum zweiten Mal an die Macht kämen. Dieses Narrativ beherrschte die Diskussionen - bis der Albtraum von der Rückkehr der Taliban an die Macht zur Realität wurde. Ich konnte nicht glauben, dass eine Stadt nach der anderen fiel, bis meine Stadt, Mazar-e Sharif, in die Hände der Taliban fiel. Ich konnte Autos und Motorräder hören. Ich konnte die Fahnen der Taliban in der ganzen Stadt wehen sehen. Ihr Aufstieg zur Macht war genauso, wie ich mir das vorgestellt hatte: Sie blieben Monster. Die einst ferne Möglichkeit wurde zur Realität, und wieder einmal färbte sich der Himmel über meinem geliebten Land schwarz. Als Mazar-e Sharif fiel, beschlossen viele Familien, nach Kabul zu ziehen, in der Hoffnung, dass die Stadt nicht so bald in die Hände der Taliban fallen würde - zumindest dachten sie das. Sie erwarteten, dass die frühere afghanische Regierung die Taliban bekämpfen und die Hauptstadt schützen würde, aber diese Verteidigung fand nicht statt.
 
Entgegen diesen Erwartungen übernahmen die Taliban schnell die Kontrolle über Kabul, und wir, die afghanischen Frauen, mussten feststellen, dass unser Leben völlig zerstört wurde; wir sahen keinen Sinn mehr zu leben. Unsere Hoffnung schwand, unsere Träume waren vorbei, und unser Leben war verloren. Wir waren verängstigt und traumatisiert. Tag und Nacht werden Nachrichten über die Taliban verbreitet - ihre Entscheidungen, ihre Aktionen, ihre Dekrete. Sie planen, wie sehr sie unser Volk unterdrücken sollen, wie oft sie foltern, wie sie unschuldige Menschen töten sollen. Ich denke oft, dass ich eines Tages an der Reihe sein werde - eines Tages werde ich eines der Opfer der Taliban sein. Eine Frau hat nicht das Recht, sich in meiner Stadt frei zu bewegen. Sie hat nicht das Anrecht, frei zu leben und ihr Leben in Afghanistan zu genießen. Strenge Gesetze werden gegen uns angewandt. Unsere Lebensbedingungen werden immer schwieriger.

Unser Leben heute

Es ist überall auf der Welt schwierig, eine Frau zu sein, aber vielleicht ist es eines der schmerzhaftesten Schicksale, eine afghanische Frau zu sein. Niemand und nichts lebt wirklich in Frieden in Afghanistan, aber für Frauen ist das Leben anders und schwieriger. Ich, eine gebildete Frau, die seit mehr als sechs Jahren in bürgerlichen und sozialen Aktivitäten tätig gewesen ist, kann mir meine Träume nicht mehr erfüllen.
Ich bin in Afghanistan geblieben, mit Angst und Verzweiflung über die Gegenwart und einer unklaren und unbekannten Zukunft. Ich bin nicht sicher, ob ich die nächsten Sekunden, Minuten, Stunden überlebe. Es ist schwer, sich mit dieser Situation abzufinden - ich kann nur hoffen, dass ich diese Tortur überlebe. Seit die Taliban an die Macht gekommen sind, bin ich und alle Frauen von den harschen Regeln der Taliban hart getroffen worden. Wir mögen körperlich am Leben sein, aber geistig und spirituell sind wir erledigt. Hier eine Frau zu sein, erfordert Mut, Mut, sich gegen die ständigen Feinde der Menschheit, die Armee der Unwissenheit, die Taliban, zu wehren.
 
Frauen wird der Zugang zu Bildung und zur Erwerbsarbeit verwehrt - beides grundlegende Menschenrechte, die jeder Frau und jedem Mädchen eigentlich zustehen sollten. Die Taliban rechtfertigen ihr unmenschliches Verbot von Arbeitsplätzen und Bildungseinrichtungen für Frauen als „unislamisch“. Sie bedrohen uns mit Waffen, Beleidigungen und Demütigungen, wenn wir afghanischen Frauen ihre Befehle nicht befolgen. Wir haben keine Hoffnung mehr zu leben und zu überleben. Hier in Afghanistan, dem Land des Krieges und des Blutes, dem von Männern beherrschten Land, ist es ein Verbrechen, eine Frau zu sein. Dies ist das Land, in dem die Träume tausender afghanischer Mädchen wie ein Ahornblatt zu Boden fallen und zugrunde gehen. Wir sind die Generation der Massengräber. Wir sind die Generation der Migrant*innen und Vertriebenen in allen Ländern. Wir sind die Generation an den sonnigen Grenzen des Irans, der Türkei, Griechenlands und des Rests der Welt.

Wir Frauen in Mazar-e Sharif haben alle unsere Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren. Willkürliche Verhaftungen, Schikanen, Folter, Verschwindenlassen und die Ermordung von aktiven Frauen sind zur Routine geworden. Ich habe Angst um mein Leben und um das Leben meiner Familienangehörigen. Unser Verbrechen ist, dass wir Frauen sind. Wie anstrengend ist es, ein Mädchen zu sein? Wie lange werden wir dafür bestraft, eine Frau zu sein? Das Leben unter der Herrschaft der Taliban wird immer schwieriger. Afghanistan ist ein Land des Todes, und wir sterben jeden Tag, ohne gelebt zu haben. Ich habe keine Motivation mehr. Ich habe jahrelang hart gearbeitet, um das zu erreichen, was ich in den vergangenen Jahren erreicht habe. Heute habe ich nichts als Angst.

Unterstützung für afghanische Frauen

Als Rebellen, die zu Politikern geworden sind, haben die Taliban nur einen Punkt auf ihrer Agenda: was afghanische Frauen tragen und wie sie in der Gesellschaft auftreten sollten. Ihr gesamtes Regierungshandeln konzentriert sich auf den Hidschab und die Kleiderordnung der Frauen. Alles, worauf sie sich konzentrieren, sind Einschränkungen für Frauen: in Schulen, an Universitäten, am Arbeitsplatz. Sie wurden alle einer Gehirnwäsche unterzogen, damit sie diese strenge Auslegung der Scharia anwenden und durchsetzen.

Die Welt muss wissen, dass die afghanischen Frauen existieren. Wir sind hier, und wir werden durch die Tyrannei des Taliban-Regimes angegriffen. Doch die Vereinten Nationen und der Rest der internationalen Gemeinschaft schweigen. Die EU darf uns und unseren Kampf nicht vergessen. Wir fordern, dass die Welt Verantwortung für das übernimmt, was hier geschieht. Wir fordern die EU auf, Druck auf die Taliban auszuüben, damit wir arbeiten und studieren können. Wir fordern, dass unsere grundlegenden Menschenrechte geachtet werden.

* Aus Sicherheitsgründen verwendet die Autorin ein Pseudonym.

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