SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

#5: Life under the Taliban

Warum werden ehemalige Sicherheitskräfte in Afghanistan ermordet?

Sicherheitskräfte in Afghanistan vor der Machtergreifung durch die Taliban, © Ali Ahmad

Sicherheitskräfte in Afghanistan vor der Machtergreifung durch die Taliban, © Ali Ahmad

Seit der Machtergreifung durch die Taliban im August 2021 hat VIDC Global Dialogue eine Reihe von Beiträgen unter dem Titel „Life under the Taliban“ veröffentlicht. Frauen und Männer aus verschiedenen Teilen des Landes und mit unterschiedlichen Perspektiven und Realitäten erzählen uns ihre Geschichten. Die Beiträge stammen von Lehrer*innen, Uni-Angestellten, feministischen Aktivist*innen, Student*innen und von anderen jungen Menschen, die ihren Alltag im Land beschreiben.

Der folgende Artikel wurde von Elhamudin Afghan* verfasst, einem ehemaligen Journalisten in Ostafghanistan und jetzigen Universitätsdozenten. Der Artikel befasst sich mit der mysteriösen Zunahme von Morden an Mitgliedern der ehemaligen afghanischen Sicherheitskräfte in verschiedenen Teilen Afghanistans. Um sich und seine Familie vor möglichen Vergeltungsmaßnahmen der Taliban zu schützen, hat er ein Pseudonym gewählt. 

Viele Sicherheitskräfte konnten das Land nicht verlassen

Das Leben vieler Menschen in Afghanistan hat sich erheblich verändert, seit die Taliban am 15. August 2021 wieder die Kontrolle über das Land übernommen haben. Aufgrund der zunehmenden sicherheitsrelevanten Zwischenfälle und der Tendenz der Taliban, Vergeltungsschläge zu verüben, müssen viele ehemalige hochrangige Regierungsbeamte und Mitglieder der Sicherheitskräfte, einschließlich der Polizei, der Armee, des Geheimdienstes und der NATO-treuen Milizen, befürchten, dass sie ermordet  oder verschleppt werden. Seit ihrer Rückkehr an die Macht haben die Taliban eine Reihe von Hinrichtungen und das gewaltsame Verschwindenlassen ehemaliger afghanischer Sicherheitskräfte veranlasst. Diese gezielten Tötungen wurden trotz der so genannten „Amnestie“ fortgesetzt, die die Taliban nach ihrem Sieg über die vom Westen unterstützte Regierung in Kabul verkündeten. Die Taliban-Kämpfer haben wiederholt ehemalige afghanische Sicherheitskräfte in ganz Afghanistan ermordet.

In den Tagen des Regimewechsels wurden diejenigen Sicherheitskräfte mit den besten Verbindungen zu ihren früheren westlichen Partnern, evakuiert und in verschiedene westliche Ländern gebracht; Tausende von Spezialkräften flohen in den Iran, während die Zurückgebliebenen mit den Rachemorden, Verhaftungen und Folter durch die Taliban zurechtkommen mussten. Obwohl es kaum genaue Zahlen gibt, haben die Taliban in den ersten drei Monaten ihrer Herrschaft in nur vier Provinzen - Ghazni, Helmand, Kunduz und Kandahar - mehr als 100 ehemalige Sicherheitskräfte entweder getötet oder verschwinden lassen (Human Rights Watch, November 2021). Afghanische User*innen sozialer Medien haben im vergangenen Jahr immer wieder Videos von grausamen Tötungen und Folterungen geteilt.

Bahrumudin Nuristani

Laut Medienberichten hat die Bevölkerung in der Provinz Ostnuristan die Taliban-Bezirksbeamten von Mandol vertrieben, nachdem Bahrumudin Nuristani, ein ehemaliger Sicherheitsbeamter, im September 2022 von den Taliban in der Provinz Laghman verhaftet, gefoltert und dann getötet wurde. Nuristani war ein einflussreicher Befehlshaber im Bezirk Mandol. Nach seinem Tod wandten sich seine Familie und Sympathisant*innen an die örtlichen Taliban in den Bezirken Mandol und Doaba der Provinz Nuristan und forderten Gerechtigkeit und eine Untersuchung des Mordes an Nuristani. Die Taliban gaben gegenüber der BBC zu, dass Kommandant Nuristani in Laghman verhaftet worden und in Taliban-Haft verstorben war.

In den vergangenen zwei Wochen wurden praktisch täglich gezielte Tötungen in der östlichen Region der Provinz Nangarhar gemeldet, obwohl die meisten dieser Todesfälle nicht erfasst werden. Radio Azadi berichtete, dass die Leichen von sechs Personen, die mit der früheren Regierung in Verbindung standen, in verschiedenen Gebieten der Stadt Dschalalabad gefunden wurden. Ähnlich wie in Ost-Nangarhar wurde in den letzten Wochen auch in Kabul ein Elitesoldat der ehemaligen Regierung zusammen mit seinen beiden Brüdern und seinem Cousin getötet.

Warum aber verhaften, foltern und töten die Taliban ehemalige Mitglieder der früheren afghanischen Sicherheitskräfte? Worum geht es den Taliban? Sie wollen sich rächen und einen 20 Jahre andauernden brutalen Krieg gegeneinander gewinnen. Um das Leben ehemaliger Sicherheitskräfte unter der Herrschaft der Taliban zu veranschaulichen, habe ich zwei Mitglieder ehemaliger afghanischer Sicherheitskräfte in Ostafghanistan interviewt. Um die Risiken für ihr Leben zu minimieren, wurden sie gebeten, in diesem Artikel anonym zu bleiben. Beide Interviewpartner verwenden aus Gründen der Sicherheit Pseudonyme.

Shawkat Tareen

„Ich erinnere mich, dass am Tag des Sturzes des Regimes die meisten Soldaten weinten. Die Taliban rissen unsere Nationalflagge herunter, zerrissen unsere Papiere und beschimpften uns. Das ist unsere schreckliche Erinnerung. Jetzt haben wir keine Hoffnung mehr, denn wir leiden, und die Zukunft ist unklar“, sagte der 35-jährige Shawkat Tareen in einem Interview mit dem Autor.

Tareen zufolge war die Haltung der Taliban gegenüber dem Militär und dem Sicherheitspersonal der vorherigen Regierung äußerst negativ. Er erklärte, er habe sein Haus monatelang nicht verlassen, weil er befürchtete, von den Taliban aus Rache getötet zu werden. Er habe das Gefühl, unter Hausarrest zu stehen. Als ehemaliger hochrangiger Polizeibeamter in der Provinz Paktika hat er Angst, dass die Taliban oder andere extremistische Gruppen ihn verhaften oder töten könnten. Tareen beschreibt sein Leben als einen „abgedunkelten Raum“; die größte Herausforderung, der er sich jetzt gegenübersieht, ist die Gefahr für sein Leben, nachdem der Westen Afghanistan im August 2021 verlassen hat. Seit die Taliban an die Macht gekommen sind, „habe ich weder körperliche, geistige, soziale noch wirtschaftliche Sicherheit“, sagte Tareen. Er ist arbeitslos, depressiv und kann nur mit Hilfe von Schlaftabletten schlafen.

Tareen hat nach dem Sturz der früheren Regierung mehrfach vergeblich versucht, Afghanistan zu verlassen, konnte aber keine Ausreisemöglichkeit finden. Auch der Tod von vier ehemaligen Kollegen irgendwo zwischen dem Iran und der Türkei auf dem Weg nach Europa schreckte ihn davor ab, die riskante Reise auf dem Landweg anzutreten. Er träumt davon, in Frieden und Sicherheit zu leben, seine Familie ernähren zu können und seinen Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen.

Die beiden Töchter von Tareen im Teenageralter dürfen ihre Schulausbildung nicht fortsetzen, da die Taliban Mädchen den Besuch von Schulen nach der sechsten Klasse untersagt haben. Es frustriert Tareen, seine Töchter zu Hause ohne Bildung aufwachsen zu sehen. „Die Taliban sind Menschenrechtsverletzer. Sie bringen das Leben der Menschen in Gefahr. Sie haben Millionen afghanischer Kinder wie meine Töchter der Bildung beraubt, was eine unumkehrbare historische Ungerechtigkeit ist“, erzählt Tareen mit Besorgnis.

Abdullah Bawar

Ein anderer ehemaliger Provinzoffizier der afghanischen Nationalarmee, Abdullah Bawar, versteckt sich aus Angst um sein Leben. Bawar wurde nach dem Regimewechsel im August 2021 von den Taliban in seinem Haus in der östlichen Provinz Laghman festgehalten, hatte aber das Glück, nach kurzer Zeit der Gefangenschaft wieder freigelassen zu werden. Als Vater von vier kleinen Kindern hatte Bawar mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie Tareen. Als ehemaliges Mitglied der Sicherheitskräfte hat er nicht nur seine Einkommensquelle verloren, sondern er hat auch Angst vor den Vergeltungsschlägen der Taliban und des Islamischen Staats in der Provinz Khorasan (IS-KP). Er behauptet, dass Amerika und andere Verbündete ihn und sein Land der Grausamkeit der Taliban überlassen haben, obwohl er im Rahmen der US-geführten NATO-Truppen gegen beide Gruppierungen kämpfte. „Ich kann meine Verwandten nicht besuchen. Ich habe Angst, dass jemand ein Attentat auf mich verüben könnte. Ich habe Angst vor den Taliban und der IS-KP, weil wir sie bekämpft haben. Wir haben beiden Terrorgruppen Verluste zugefügt“, sagte Bawar.

Bawar erklärte, wenn er die Möglichkeit habe, Afghanistan zu verlassen, werde er dies sicherlich tun. Er ist nicht optimistisch, was die Zukunft Afghanistans angeht, weil der Westen sein Land und die meisten seiner Kollegen, die in den Sicherheitskräften dienten, im Stich gelassen habe. Er hält es für unmöglich, dass es in absehbarer Zeit wieder stabile und professionelle nationale Sicherheitskräfte geben wird, solange die Taliban das Sagen haben.

Das Leben von Shawkat Tareen und Abdullah Bawar verdeutlicht die schrecklichen Bedingungen, unter denen die ehemaligen Sicherheitskräfte unter der Herrschaft der Taliban leben. Neben den Sicherheitsrisiken sind sie auch mit wirtschaftlichen und anderen sozialen Problemen konfrontiert. Regelmäßig hören sie von Hunderten weiteren mysteriösen Ermordungen ihrer Kollegen, die entweder bei der Polizei oder in der Armee gedient hatten, durch die Taliban.

Rekrutierung ehemaliger afghanischer Sicherheitskräfte für einen weiteren Krieg

Seit Oktober versucht Russland, Tausende von afghanischen Spezialkräften zu rekrutieren, die nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 in den Iran geflohen sind. Im Iran steht ihnen eine ungewisse Zukunft bevor, da sie befürchten, in das von den Taliban kontrollierte Afghanistan abgeschoben zu werden. In den vergangenen 20 Jahren kämpften die ehemaligen afghanischen Spezialeinheiten an der Seite von US- und NATO-Truppen gegen die Taliban. Wenn sie nach Afghanistan zurückkehren, werden die Taliban sie töten, zitierte der Guardian einen der ehemaligen Generäle.

In den letzten Monaten haben afghanische Nutzer sozialer Medien eine Kampagne gestartet, um die Aufmerksamkeit westlicher Länder zu gewinnen, die sich in Afghanistan engagiert hatten, und sie gebeten, das Leben ehemaliger afghanischer Sicherheitskräfte zu schützen, die in Afghanistan festsitzen. General Ajmal Umar Shinwari, einer der Sprecher der früheren Regierung, begrüßte diesen Aufruf, um seine Kollegen vor Folter und Tötung durch die Taliban zu bewahren.

* Der Autor verwendet aus Sicherheitsgründen ein Pseudonym.

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