(11. Dezember 2024) Michael Fanizadeh (VIDC Global Dialogue) im Gespräch mit dem ehemaligen Spitzendiplomaten Wolfgang Petritsch über den Wiener Prozess für ein demokratisches Afghanistan, der sich zum Ziel gesetzt hat, ein umfassendes politisches Programm für die Zukunft Afghanistans zu entwickeln, das die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte aller Bewohner*innen des Landes und die Vertretung aller ethnischen Gruppen und Religionen gewährleistet.
Michael Fanizadeh: Der Wiener Prozess für ein demokratisches Afghanistan wurde 2022 ins Leben gerufen. Sie sind einer der Initiatoren. Wie kam es dazu, dass Sie an diesem Friedensprozess beteiligt sind?
Wolfgang Petritsch: Ein Freund von mir, Christian Reder, der seit Jahrzehnten in Afghanistan tätig ist, hat mich angesprochen. Er betreibt eine Stiftung, die in soziale Projekte investiert. Er wurde von Ahmad Massoud kontaktiert, um sich in Wien mit anderen Exil-Afghan*innen zu treffen und eine politische Oppositionsfront zu gründen. Obwohl Afghanistan nicht mein Fachgebiet ist, bot ich an, den Prozess organisatorisch und thematisch zu unterstützen. So kam es zur ersten Konferenz, die ich ursprünglich für eine einmalige Veranstaltung hielt. Doch inzwischen haben bereits vier Konferenzen stattgefunden, und wir planen die fünfte für Anfang nächsten Jahres.
Auf der dritten Wiener Konferenz, die im Dezember 2023 stattfand, wurde eine detaillierte Roadmap für Afghanistan erarbeitet, für eine afghanischen Gesellschaft und Demokratie, die sich am Prinzip des „Ownership“ orientiert. Es geht darum, dass die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und eine Gesellschafts- sowie Regierungsform schaffen, die ihren Traditionen und Bedürfnissen entspricht. Dieser Ansatz muss aus der afghanischen Gesellschaft selbst kommen und darf nicht von außen diktiert werden, was ein Fehler der westlichen Intervention von 2001 war. In vier Arbeitsgruppen beschäftigt sich der Wiener Prozess mit politischen Fragen, wirtschaftlichen Aspekten, der Umsetzung von Grundrechten – besonders der Frauenrechte – und dem regionalen Kontext. Afghanistan muss sich die Frage stellen, wie es sich regional positionieren möchte. Zwei Ansätze sind denkbar, die an die Gegebenheiten Afghanistans angepasst werden müssten: ein neutraler Status, der auf gute Nachbarschaftsbeziehungen setzt, oder ein regionales Sicherheitsnetzwerk nach dem OSZE-Modell.
Beim vierten Treffen des Wiener Prozesses im Juni 2024 waren 70 Persönlichkeiten der Opposition aus über 40 Gruppen anwesend. Angesichts der fragmentierten afghanischen Gesellschaft und Opposition: Wie inklusiv ist der Wiener Prozess?
Der Prozess ist noch nicht so inklusiv, wie wir es uns wünschen. Ein Grund dafür ist, dass wir bestimmten Forderungen wie „Redet mit den Taliban“ widerstehen - ich glaube, es braucht zuerst eine möglichst breite Plattform von Oppositionellen. Die Forderung bezieht sich auf den Doha-Friedensvertrag vom Februar 2020. In diesem haben die Taliban unterschrieben, dass sie sich um einen intra-afghanischen Dialog bemühen werden. Der Wiener Prozess ist im Grunde darauf ausgerichtet, genau diesen Dialog vorzubereiten.
Inklusivität ist dabei wichtig. Ein wesentlicher Punkt sind die grundlegenden Rechte von Männern und Frauen, die von den Taliban abgelehnt und aktiv bekämpft werden. Der Prozess setzt auf Gleichberechtigung und die Einbeziehung aller ethnischen und religiösen Gruppen. Auch die Zahl der Frauen ist relativ hoch, wenn auch noch nicht bei einer 50:50-Verteilung. Zudem sind religiöse und ethnische Minderheiten wie Schiit*innen und Hazara vertreten, die in Afghanistan traditionell verfolgt werden. Es ist für uns von größter Bedeutung, ebenfalls Paschtun*innen einzubeziehen.
Es gibt derzeit eine Initiative zur Anerkennung von „Gender-Apartheid“. Inwieweit haben solche zivilgesellschaftlichen Initiativen auch im Wiener Prozess Platz?
Der Wiener Prozess versteht sich in erster Linie als politisches Projekt, ein sogenanntes „Policy-Unternehmen“, das den politischen Weg diskutiert und versucht, diesen auszuarbeiten. Dabei spielt die Zivilgesellschaft, insbesondere Fraueninitiativen, eine zentrale Rolle. Wenn die westliche Intervention der letzten 20 Jahre in Afghanistan etwas erreicht hat, dann zweifellos die Stärkung der Frauen, insbesondere durch Bildung. Bildung ist der Schlüssel zu Veränderung, nicht nur in Afghanistan, sondern auch global. Sie ermöglicht den Menschen, aktiv an der Organisation eines demokratischen Staates teilzunehmen und mit den Herausforderungen der modernen Welt umzugehen. Die Initiative am VIDC ist ein gutes Beispiel, die ich für sehr bedeutsam halte. Wir haben von Anfang an den Austausch gesucht, das VIDC eingeladen und umgekehrt daran gearbeitet, voneinander zu lernen. Gemeinsam signalisieren wir auch einer kulturell eher konservativen und männlich dominierten Gesellschaft: Der Wiener Prozess darf keine reine Männerangelegenheit sein.
Wie sehen Sie die Möglichkeiten zur Kodifizierung von „Gender-Apartheid“ im internationalen Recht?
Ich halte die Kodifizierung grundsätzlich für eine gute Idee. Solche Kodifizierungen, wie sie seit vielen Jahren von den Vereinten Nationen unterstützt werden, sind wichtig, besonders bei der juristischen Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Allerdings führen sie nicht immer zu schnellen Veränderungen.
Veränderungen passieren nur durch starken internationalen Druck, der sowohl von außen als auch von innen kommt. Ein Beispiel dafür ist die Strafverfolgung von Slobodan Milošević und anderen Verantwortlichen für den Jugoslawienkrieg. Diese wurde nur durch enormes Druckpotenzial erreicht. Zivilgesellschaftliche Initiativen und ein funktionierendes politisches System sind dabei entscheidend. Was die Kodifizierung von Grundrechten betrifft, gibt es bereits viele bestehende Konventionen, die sich für die Gleichheit von Männern und Frauen einsetzen. Es ist von zentraler Bedeutung, dass die Taliban daran erinnert werden, dass sie sich ebenfalls an diese Vereinbarungen halten müssen.
Der Westen verliert derzeit viele Partner*innen im Globalen Süden. Viele Staaten kritisieren, dass die westlichen Debatten zunehmend unglaubwürdig wirken. Wie können wir die Glaubwürdigkeit zurückgewinnen?
Meine Aufgabe ist es, Verständnis für die Bemühungen der Exil-Afghan*innen zu schaffen. Dabei geht es nicht nur um die moralische Verantwortung des Westens, vielmehr müssen wir die vernetzten globalen Zusammenhänge verdeutlichen. In Österreich etwa ist die Flüchtlings- und Migrationsfrage eng mit Afghanistan verbunden. Viele Afghan*innen wünschen sich ein anderes Afghanistan. Es geht darum, das Verständnis für diese Menschen zu fördern – in Europa und auch in Österreich. Es ist entscheidend, dass die EU ein größeres Interesse an diesem Thema entwickelt. Auch die USA, als Hauptverantwortliche für die Intervention, müssen ihrer Verantwortung nachkommen. In meinen Gesprächen mit den Außenministerien in Deutschland, Großbritannien, der Schweiz und den nordischen Staaten spüre ich aber eine gewisse Zögerlichkeit. Ich glaube, dies hängt mit einem Gefühl der Scham zusammen – dem Gefühl, dass wir Afghanistan im Stich gelassen haben. Viele bevorzugen es, das Thema zu vergessen, anstatt sich mit der Verantwortung auseinanderzusetzen.
Ich denke, wir müssen stärker menschenzentriert denken und uns fragen: Was bedeutet unser Handeln für die Bevölkerung vor Ort? Es ist wichtig zu zeigen, dass uns diese Menschen nicht egal sind. Trotz der Fehler und Tragödien muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass dort Hilfe notwendig ist. Das sendet außerdem ein wichtiges Signal an andere Gesellschaften in Konfliktregionen. Ich halte es für entscheidend, dass wir uns nicht auf leere Phrasen von „Werten“ und „wertegetriebener Außenpolitik“ beschränken, sondern uns darauf konzentrieren, was die Grundlagen des Menschseins und eines halbwegs guten Lebens sind. Darum geht es letztendlich. Ein zentrales Beispiel dafür ist die Diskriminierung von Frauen in Afghanistan. Diese Frage muss der Hauptfokus bleiben, weil die Behandlung von Frauen oder Minderheiten ein Indikator für die Qualität einer Demokratie oder einer Regierungsform ist.
Trump hat den Doha-Friedensvertrag mit den Taliban ausgehandelt, und Biden hat ihn umgesetzt. Wie realistisch ist es, dass die USA wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren?
Trump hat den problematischen Doha-Vertrag von 2020 ausgehandelt, der Wendepunkt war jedoch der chaotische Abzug unter Biden. Der Doha-Vertrag wurde ohne die damalige afghanische Regierung ausgehandelt und trägt zur aktuellen Situation in Afghanistan bei. Er sieht einen intra-afghanischen Dialog vor, den die Taliban jedoch nicht umgesetzt haben. Es wäre sinnvoll, die Trump-Administration daran zu erinnern, dass der Vertrag nicht erfüllt wurde. Das könnte ein Ansatzpunkt für neue Gespräche sein.
Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass Europa viel mehr tun muss. Europa muss seine Rolle als Partner im Globalen Süden stärken. Es geht dabei nicht nur um Migration, sondern um viel mehr. Wenn sich die EU als Partnerin für Staaten im globalen Süden profilieren möchte, ist Afghanistan ein zentraler Punkt. Afghanistan und der Nahe Osten sind geografisch nahe an Europa, und die modernen Mobilitätsmöglichkeiten haben die Nachbarschaft erweitert. Europa muss daher eine neue Partnerschaft entwickeln, die auf Augenhöhe basiert. Dies betrifft nicht nur geographische Beziehungen, sondern auch Themen wie Entwicklungspolitik und multilaterale Wirtschaftsabkommen.