Mit „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“, einer Kulturgeschichte hat Mithu Sanyal 2009 für Aufsehen gesorgt. Seitdem ist sie in der deutschsprachigen Medien- und Literaturlandschaft eine starke Stimme, die sich immer wieder zu sexueller Gewalt, Identitätsfragen und Rassismus äußert. 2021 brachte Sanyal den vielbeachteten Roman „Identitti“ bei Hanser heraus. Das Debüt über eine Düsseldorfer Professorin für postkoloniale Theorie spielt, wie der Titel anmutet, mit Fragen der Identitätspolitik. Die Professorin ist nach der hinduistischen Göttin Saraswati benannt und hat sich ihr Leben lang fälschlicherweise als Inderin ausgegeben, bis sie erfährt, dass sie Deutsche ist – ein Stoff mit viel Spreng-Stoff.
Vergangenes Jahr hat sie mit „Antichristie“ bei Hanser ihren zweiten Roman vorgelegt. Ein vielschichtiger Erzählreigen samt Zeitreise. Die Protagonistin Durga reist durch die Epochen und wechselt auch ihr Geschlecht. „Der neue Körper nimmt die Welt anders wahr. Ihren Mann und ihr Kind vermisst Durga kognitiv, während sie in einer vergangenen Zeit im männlichen Körper verhaftet bleibt. Die Würfel werden also neu gemischt“, sagt Sanyal im Gespräch mit Sara Mohammadi.
Koloniale Geschichte Indiens
Doch der Wechsel des Geschlechts ist nur eines von vielen Elementen mit denen Sanyal spielt. Als Leser*in lernt man bei „Antichristie“ jedenfalls sehr viel über die koloniale Geschichte Indiens. Denn ein Hauptschauplatz des Geschehens ist das „India House“, ein Studentenheim in London, das zwischen 1905 and 1910 existiert hat und ein wichtiger Treffpunkt für indische Revolutionäre war. Der Roman setzt sich so mit der indischen Unabhängigkeitsbewegung und der britischen Kolonialgeschichte auseinander.
„Ich fühle mich von historischen Romanen immer betrogen“, sagt Sanyal. Die Geschichte könne nur aus der heutigen Perspektive erzählt werden. „Deswegen wollte ich, dass meine Protagonistin durch die Zeit reist und mit der heutigen Perspektive auf die Vergangenheit blickt.“
Neben der großen Geschichtserzählungen beinhaltet der Roman auch etliche popkulturelle Andeutungen. „Serien haben einen unglaublichen Einfluss auf unsere kulturellen Debatten und sie sind ein guter Spiegel der Gesellschaft“, sagt Sanyal.
Widerstandskampf in Europa
Durga trifft sich in einem Writers Room mit verschiedenen Persönlichkeiten. Es geht darum, wie die Drehbuchautoren Agatha Christie rehabilitieren können, da ihren Werken vorgeworfen wird, rassistisch und kolonialistisch zu sein. Beginnend im Writers Room unternimmt Durga dann tatsächlich eine Reise in Zeiten, in denen in Sachen Kolonialismus entscheidende Weichen gestellt wurden. Sanyal klärt das, „westliche Publikum“ auch über gängige Vorurteile auf. „Das britische Empire hat Presse- und Redefreiheit versprochen, aber nur innerhalb des Westens“, sagt Sanyal, „in den Kolonien gab es keine Redefreiheit“.
Auf die Frage, warum Sanyal den Roman geschrieben hat, gibt sie zum Schluss der Veranstaltung eine klare Antwort „Der Roman ist meine Liebeserklärung an die internationale Linke. Es ist kein Roman über indischen Widerstandskampf in Indien, sondern indischen Widerstandskampf hier in Europa.“