Bericht des VIDC/IOM Workshops im Rahmen der Konferenz „Menschenhandel im Zeichen von Corona“ der österreichischen Task Force Menschenhandel, 14. und 15.11.2020
Unter der Moderation von Nadja Schuster (VIDC) wurden die Auswirkungen der Pandemie auf Rechtsverletzungen gegen migrantische Erntearbeiter*innen in Österreich, besonders in Hinblick auf Ausbeutung und Menschenhandel, diskutiert. Der Workshop fand im Rahmen der jährlichen Konferenz der österreichischen Task Force Menschenhandel anlässlich des EU-Tages gegen Menschenhandel statt. Aufgrund der aktuell geltenden Maßnahmen gegen COVID-19 wurde der Workshop, an dem 35 Personen teilnahmen, online über Zoom abgehalten.
„Erntearbeiter*innen haben Rechte wie alle Arbeitsnehmer*innen in Österreich. Unsere Problemlage ist, dass diese nicht eingehalten werden“, so Gleich. Im Kollektivvertrag für Dienstnehmer*innen in bäuerlichen Betrieben in Niederösterreich werde eine regelmäßige Normalarbeitszeit von 40 Wochenstunden vorgeschrieben. Sonderzahlungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) seien zwingend vorgesehen. Erntearbeiter*innen haben einen Anspruch auf Urlaub sowie auf eine Entgeltfortzahlung bei Krankheit. Der monatliche Brutto-Mindestlohn entspricht je nach Kollektivvertrag ca. EUR 1.500.
Die Praxis sieht jedoch anders aus. Spiegelfeld leitete aus der im Rahmen der Studie „Saisoniers aus Drittstaaten in Österreich“ des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN) durchgeführten Medienrecherche ab, dass „rechtswidrige Arbeitszeiten, zu wenig Lohn und unwürdige Unterkünfte in Österreich keine Seltenheit sind.“ Von mehreren Interviewpartner*innen wurde die mangelnde Rechtsdurchsetzung als grundlegendes Problem identifiziert. Dies sei auf das fehlende Wissen von Arbeiter*innen um ihre rechtliche Situation, Sprachbarrieren und begrenzte Erreichbarkeit der betroffenen Personen zurückzuführen.
Arbeitsausbeutung als strukturelles Problem
Kahlhammer nimmt systemische Ausbeutung in der österreichischen Landwirtschaft wahr, die in manchen Fällen sogar der Definition von Menschenhandel entspräche. Es handle sich um ein strukturelles Problem, von dem migrantische Arbeitskräfte besonders betroffen seien. In dem Moment wo eine Beschäftigungsgruppe geringe Organisierungsmacht habe ihre Stimme zu erheben und ihre Rechte durchzusetzen, werde Arbeitsausbeutung die Regel, nicht die Ausnahme, auch wenn sie grundsätzlich gesetzlich gleichgestellt sind. Dies sei der Fall für migrantische Saisonarbeitskräfte, deren Interessen bisher kein Gehör fänden. Von „schwarzen Schafen“ auf Seiten der Arbeitgeber*innen zu sprechen verdecke die grundsätzliche Problematik. Was notwendig ist, sei die Organisierungsmacht von migrantischen Saisonarbeitskräften, die Kapazitäten der Kontrollorgane und das Bewusstsein der Arbeitgeber*innen zu stärken. Beispiele für gängige Formen der Arbeitsausbeutung seien: Die geregelten Höchstarbeitszeiten würden überschritten und die Überstunden illegal ausbezahlt werden. Darüber hinaus würden Ruhezeiten nicht eingehalten und Sonderzahlungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) nicht ausbezahlt werden. Zu hohe Kosten für Kost und Unterkunft würden vom Gehalt abgezogen oder der durch Akkordlöhne die geltenden Mindestlöhne unterschritten. Im Frühling kam es sogar in Oberösterreich zu einem Fall von Freiheitsentzug.
Hinzu kommt, dass Drittstaatsangehörige in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis und somit besonders vulnerabel sind, da sie die Beschäftigungsbewilligung nicht ausgehändigt bekommen, sondern nur die Betriebe.
Empfehlungen für menschenwürdige Arbeitsbedingungen in der Erntearbeit
Im Zuge der Recherche, der Vorgespräche und des Workshops konnten sechs Maßnahmen identifiziert werden, die den Zugang zu den Rechten der Erntearbeiter*innen stärken würden, um ausbeuterischen Praktiken vorzubeugen:
1. Rechtsaufklärung in Erstsprachen vor dem Arbeitsbeginn
Um Erntearbeiter*innen von Anfang an über ihre Rechte aufzuklären, sollten gut aufbereitete Informationsmaterialien in den Erstsprachen der Erntearbeiter*innen bereits vor der Reise nach Österreich und idealerweise vor Abschluss des Arbeitsvertrages, im Rahmen des Beschäftigungsbewilligungsverfahrens für Drittstaatsangehörige bzw. der Anwerbung/Vermittlung von EU-Bürger*innen, verteilt werden.
Zusätzlich zu schriftlichen Informationen (Informationsblätter, Broschüren, usw.) wird empfohlen Videos in Erstsprachen zu erstellen, die v.a. für Personen mit geringem Bildungsniveau sehr nützlich sind. Eine Hotline mit erstsprachiger Rechtsaufklärung und Informationsvermittlung wäre auch förderlich, um entweder rechtliche Fragen sofort klären zu können oder an geeignete Beratungsstellen vermitteln zu können.
Der Arbeitsvertrag sollte jedenfalls in schriftlicher Form in der jeweiligen Erstsprache ausgehändigt werden.
2. Ausbau der arbeits- und sozialrechtlichen Beratung
Besonders wenn Erntearbeiter*innen 40 Stunden und mehr arbeiten ist es für sie schwierig, eine Beratungsstelle zu den Öffnungszeiten aufzusuchen. Dabei ist der Kontakt zur gesetzlich beauftragten Interessensvertretung (Landarbeiterkammern und Arbeiterkammern) essenziell: einerseits um den Arbeiter*innen einen direkten Zugang zu arbeits- und sozialrechtlicher Beratung zu ermöglichen, und andererseits damit die Interessensvertretung mehr Einblick in die Arbeitsbedingungen und das Abhängigkeitsverhältnis der Dienstnehmer*innen bekommt.
In diesem Kontext wird eine mobile, bundesweite arbeits- und sozialrechtliche Beratung in den Erstsprachen vonseiten der zuständigen Interessensvertretungen und Gewerkschaften empfohlen.
Weiters sind langfristig garantierte Fördermittel für staatliche, regionale sowie niederschwellige, nicht-staatliche Anlaufstellen, die erstsprachige, arbeits- und sozialrechtliche Beratung anbieten, notwendig.
3. Erhöhung der Transparenz und Flexibilität
Die Schaffung einer zentralen Vermittlungsstelle in Österreich für Erntearbeiter*innen aus EU-Ländern und Drittstaaten würde die Unabhängigkeit der Beschäftigten fördern und ist eine wichtige Empfehlung. Diese Stelle sollte auch für die Verteilung der gut aufbereitete Informationsmaterialien (siehe Punkt 1) zuständig sein. Hier gilt es hervor zu heben, dass es sich aber nicht um ein Leiharbeiter*innenmodell (Arbeitskräfteüberlassung) handeln sollte.
Beschäftigungsbewilligungen für Drittstaatsangehörige in der Landwirtschaft werden nicht an Entearbeiter*innen, sondern an Betriebe ausgestellt. Es ist zwar theoretisch möglich, den Betrieb zu wechseln, praktisch ist es aber mit vielen Hürden verbunden. Um die Unabhängigkeit der Drittstaatsangehörigen vom Betrieb zu erhöhen, ist es empfehlenswert, Beschäftigungsbewilligungen direkt an Arbeitskräfte anstatt an Betriebe auszustellen.
Um stabilere und transparentere Arbeitsverhältnisse zu ermöglichen, werden Arbeitgeberzusammenschlüsse in der Landwirtschaft empfohlen. Eine solche Zusammenarbeit zwischen Betrieben würde zur Schaffung von längerfristigen Anstellungen und zur Transparenz hinsichtlich der Arbeitsbedingungen beitragen sowie die Kontrolle der Einhaltung von Arbeits- und Sozialrechten erleichtern.
Auf EU-Ebene ist eine Harmonisierung der Arbeitslosenversicherung erstrebenswert, um die Ansprüche der Erntearbeiter*innen klar nachvollziehbar zu gestalten und einen Zugang zu Arbeitslosengeld in der Praxis zu ermöglichen. Derzeit gelten EU-weit unterschiedliche Regelungen. Dies kann dazu führen, dass Erntearbeiter*innen trotz regelmäßiger Beschäftigung samt Arbeitslosenversicherung in Österreich keinen Arbeitslosengeldanspruch erwerben, erhalten, weil der Lebensmittelpunkt nicht in Österreich liegt.
4. Verstärkung bewusstseinsbildender Maßnahmen
Verpflichtende Schulungen für bäuerliche und agroindustrielle Betriebe als Teil des Beschäftigungsbewilligungs- (für Drittstaatsangehörige) und Arbeitsvermittlungsverfahrens (für EU-Bürger*innen) werden empfohlen. In diesen Schulungen sollten die Betriebe für Arbeitsausbeutung, Menschenhandel und unterschiedliche Diskriminierungsformen aufgrund von Herkunft, Geschlecht, Nationalität, Ethnie usw. sensibilisiert und auf Gesetze, Strafen und Sanktionen verwiesen werden.
Orientierungstrainings für Erntearbeiter*innen könnten vor der Reise nach Österreich angeboten werden, um diese über ihre Rechte sowie über soziale und kulturelle Aspekte in Österreich zu informieren.
Sensibilisierungs- und Bewusstseinsbildung für die österreichische Bevölkerung und Entscheidungsträger*innen zu Ausbeutung und Menschenhandel in der Landwirtschaft, z.B. durch öffentliche Veranstaltungen und Medienarbeit, könnte auch den Druck auf zentrale Akteur*innen erhöhen, um die Rechtsdurchsetzung für Erntearbeiter*innen zu verbessern.
5. Verstärkung der Kontrollen
Kontrollen in der Erntearbeit werden von den Land- und Forstwirtschaftsinspektionen, der Finanzpolizei, der Österreichischen Gesundheitskasse und dem Arbeitsmarktservice vollzogen. Diese Organe sollten sicherstellen, dass Kontrolleur*innen auf den Feldern bzw. in den Quartieren mithilfe von Dolmetscher*innen direkt in Kontakt mit Erntearbeiter*innen treten können. Gespräche sollten in Abwesenheit von Vorarbeiter*innen durchgeführt werden. Auch Fokuskontrollen, z.B. in Quartieren, könnten rasch Rechtsverletzungen aufdecken und Änderungen bewirken.
Hierfür wäre eine finanzielle sowie personelle Aufstockung der Kontrollorgane notwendig.
6. Stärkung des Rechtssystems
Die Arbeits- und Sozialrechte von Erntearbeiter*innen in Österreich sind bereits in Kollektivverträgen gesetzlich verankert. Allerdings sollte der rechtliche Rahmen gestärkt werden. Konkret wird der österreichischen Regierung empfohlen, das Übereinkommen 184 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über den Arbeitsschutz in der Landwirtschaft sowie die ILO-Empfehlungen 192 betreffend den Arbeitsschutz in der Landwirtschaft zu ratifizieren.
Auf der EU-Ebene sollte sich die Europäische Kommission stärker einbringen und die Einhaltung von Arbeits- und Sozialrechten in der Erntearbeit an die Vergabe von EU-Agrarsubventionen.