Afghanistans Spiel mit der Schuld. Warum scheiterte die Islamische Republik?

Von Haroun Rahimi

Kabul, August 2022, © Aadil Ahmad

In der beiliegenden Analyse werden die vorherrschenden Narrative über den Fall der Islamischen Republik Afghanistan (IRA) kritisch bewertet und hinterfragt. Denn der plötzliche Fall der IRA verlangt nach einer Erklärung. Ein Jahr nach dem Zusammenbruch der IRA konkurrieren drei Haupterklärungen um die Vorherrschaft. Zwar wird die Multikausalität des Zusammenbruchs anerkannt, aber jede Erklärung räumt einer anderen Ursache das größte Gewicht ein. Jede Erzählung hat unterschiedliche Implikationen für die Frage, welche Lehren aus dem Zusammenbruch der IRA zu ziehen sind und auf wessen Stimme in Afghanistan künftig gehört werden sollte.

Erklärungen für den Zusammenbruch

Die erste Erklärung sieht in den internen Schwächen der IRA die Hauptursache. Befürworter*innen dieser These argumentieren, dass die endemische Korruption der IRA-Institutionen und die politischen Machtkämpfe innerhalb des IRA-Lagers den Taliban den Sieg bescherten. Die zweite Erklärung sieht die externen Faktoren als zentral an. Die Grundannahme dieser Erklärung lautet: Ohne die ständige pakistanische Unterstützung der Taliban und den militärischen Rückzug der USA und der NATO aus Afghanistan wäre die IRA nicht zusammengebrochen. Die letzte Erklärung räumt den Taliban die größte kausale Bedeutung ein. Die Unterstützer*innen dieser Ansicht führen den Sieg der Taliban auf deren politische und militärische Fähigkeiten, ihr Engagement für ihre Sache und ihre populäre Basis im Lande zurück.

Jede dieser Erzählungen vereinfacht die Geschichte auf eine bestimmte Art und Weise, die uns für eine bestimmte Art von Handlungen empfänglich macht. Auf diese Weise geht es in diesen Erzählungen gleichermaßen um die Zukunft wie um die Vergangenheit.

In meiner Analyse argumentiere ich, dass die IRA zusammengebrochen ist, weil sie auf der Präsenz ausländischer Truppen im Land aufgebaut war. Sie könnte den Abzug der USA nicht überleben, da sie sich selbst hätte umgestalten müssen, die Verantwortlichen aber keinen Anreiz oder keine Legitimität hatten, eine solche Umgestaltung zu betreiben, und ihr die Zeit davonlief, da der Taliban-Aufstand aufgrund einer Kombination aus internen und externen Faktoren immer stärker wurde.

Was haben wir gelernt?

Die Lehre für die Zukunft ist, dass die einzige nachhaltige Lösung für die Krise in Afghanistan aus dem Land selbst kommen kann. Es liegt an den Taliban, entweder eine breite Beteiligung an den Verhandlungen über die Grundstruktur eines politischen Systems zu ermöglichen, die für die meisten Afghan*innen akzeptabel wäre, so dass sie ihr Leben der Verbesserung dieses Systems widmen wollen. Oder das Land wird zu einer weiteren Runde von Konflikten verurteilt, die am Ende die Herrschaft der Taliban beenden und auf den Weg dahin immenses afghanisches Leid verursachen würden. Bislang scheinen die Taliban auf dem Weg zum zweiten Szenario zu sein.
 
In wirtschaftlicher Hinsicht lautet die Lektion, dass humanitäre Hilfe zwar kurzfristig notwendig ist, aber die wirtschaftlichen Probleme des Landes nicht lösen kann Die massive Bereitstellung internationaler Hilfe verursacht möglicherweise mehr Schaden als Nutzen. Anstatt sich ausschließlich auf humanitäre Hilfe zu konzentrieren, sollte die internationale Gemeinschaft eine Erleichterung der Sanktionen in Erwägung ziehen - mit Ausnahme des Waffenembargos und der Sanktionen gegen einzelne Talibanführer -, um der afghanischen Wirtschaft bessere Chancen zu geben, die schmerzhaften, aber unvermeidlichen Prozesse der Anpassung an eine Realität zu durchlaufen, in der Afghanistan nicht mehr der Hauptempfänger internationaler Hilfe ist.