Am 10. April 2025 veranstaltete das VIDC eine Podiumsdiskussion zur Zukunft Syriens nach dem Sturz des Assad-Regimes. An der Veranstaltung nahmen syrische Expert*innen aus verschiedenen Fachbereichen teil, darunter auch eine Teilnehmerin, die live aus Syrien zugeschaltet war.
Es diskutierten unter der Moderation von Adriana Qubaiova (Central European University): Leila Kayyali, Politikwissenschaftlerin und Mitbegründerin des Netzwerks „Change for Syria“, Rabie Nasser, Ökonom und Forscher am Syrian Center for Policy Research, Bassam Alahmad, Menschenrechtsaktivist und Direktor von „Syrians for Truth and Justice“ und Wajiha Talal Hajar, Rechtsanwältin und Direktorin von „Baladi“, zugeschaltet aus Syrien.
Reflexionen zum Sturz von Assad
Die Podiumsdiskussion begann mit Reflexionen über den Zusammenbruch des Regimes von Bashar al-Assad im Dezember 2024, der mehr als fünf Jahrzehnte autoritärer Herrschaft der Baath-Partei beendete. Obwohl dies weithin als historischer Meilenstein angesehen wurde, waren die Emotionen unter den Syrern gemischt. Im ganzen Land gab es ausgelassene Feierlichkeiten und Partys auf den Straßen. Die Stimmung war jedoch geprägt von Trauer über das, was die Menschen in den vergangenen Jahren verloren hatten, und von tiefer Unsicherheit über die Zukunft des Landes.
Leila Kayyali äußerte gemischte Gefühle – Euphorie über die Flucht Assads nach Moskau, aber auch Besorgnis über die wachsende Kontrolle der Hay'at Tahrir al-Sham (HTS). Sie sagte: „Der Sturz des Regimes hat unsere Erinnerung und unser Zugehörigkeitsgefühl zu Syrien wiederbelebt“, warnte jedoch vor den vielen Herausforderungen, die vor uns liegen, darunter die zerstörte Infrastruktur, vermisste Personen und sechs Millionen Kinder ohne Zugang zu Bildung.

„HTS repräsentiert nicht die Zukunft"
Rabie Nasser beschrieb die Machtübergabe als „sauberen Übergang“, insbesondere in Aleppo, wo HTS die Versorgung wiederherstellte und weitreichende Repressalien vermied. Er warnte jedoch davor, dies als Zeichen der Legitimität zu interpretieren, da die Dominanz von HTS fälschlicherweise mit Autorität verwechselt werde. „HTS repräsentiert nicht die Zukunft“, betonte er und erklärte, dass echte Macht auf Inklusion und nicht auf militärischer Kontrolle beruhen müsse.
Bassam Alahmad, ein ehemaliger politischer Gefangener, zeigte eine komplexe emotionale Reaktion: „Natürlich habe ich seinen Sturz gefeiert, aber mein Traum war nicht nur, Assad zu entfernen, sondern Demokratie in Syrien aufzubauen“. Er warnte, dass die Ideologie der HTS, die der Demokratie offen feindlich gegenübersteht, mit den Bestrebungen der 2011 begonnenen Revolution unvereinbar sei.
Wajiha Hajjar, die aus Syrien zugeschaltet war, reflektierte die emotionale Intensität des Augenblicks und betonte ihr Gefühl der Pflicht, weiterzumachen. Sie betonte nachdrücklich, dass Gewalt niemals mit mehr Gewalt beantwortet werden dürfe, und forderte, dass Gerechtigkeit durch rechtliche Institutionen und Gerichte verfolgt werden müsse.
Nationaler Dialog und Verfassungserklärung
Die Podiumsteilnehmer*innen waren sich weitgehend einig, dass die mit Spannung erwartete nationale Dialogkonferenz im Februar 2025 hinter den Erwartungen zurückgeblieben sei.
Rabie Nasser kritisierte den Prozess als exklusiv und von bewaffneten Fraktionen kontrolliert und sagte, dass die Zivilgesellschaft und politische Akteur*innen nicht einbezogen worden seien. Die Verhandlungen seien in erster Linie mit bewaffneten Fraktionen geführt worden, nicht mit denen, die zu einer langfristigen politischen Lösung beitragen könnten.
„Wir haben eine Ein-Mann-Herrschaft durch eine andere ersetzt“
Die nationale Dialogkonferenz sei eine verpasste Gelegenheit gewesen, von der Logik des Krieges zu einer Grundlage für Frieden überzugehen.
„Wir haben eine Ein-Mann-Herrschaft durch eine andere ersetzt“, warnte er und verwies auf die neu entworfene Verfassungserklärung, die die Macht noch stärker zentralisiere als unter Assad. Bassam Alahmad betonte: „Beim Dialog geht es nicht darum, sich zu einigen, sondern Meinungsverschiedenheiten offen auszutragen“, und bedauerte, dass der Prozess eher symbolisch als substanziell gewesen sei.
Wajiha Hajar bezeichnete den Dialog auf der Konferenz als große Enttäuschung und die Verfassungserklärung als ersten Schritt zur Errichtung einer neuen Diktatur. „Anstelle der Scharia sollte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte die erste Quelle für die Gesetzgebung sein.“
In der Podiumsdiskussion äußerte Rabie Nasser tiefe Besorgnis über den Aufstieg der Identitätspolitik im Syrien nach Assad, insbesondere über die zunehmende Tendenz, den öffentlichen Diskurs eher um konfessionelle und ethnische Identitäten als um eine gemeinsame Staatsbürger*innenschaft zu führen.
Er warnte davor, dass Beamte und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens begonnen hätten, Menschen als „Sunnit*innen“ oder „Minderheiten“ zu bezeichnen, was er als gefährliche Entwicklung ansah. Laut Nasser schürt diese Art von Rhetorik die soziale Spaltung und untergräbt die Möglichkeit, nationale Einheit und Vertrauen aufzubauen.
Massaker und Menschenrechtsbedenken

Bassam Alahmad schlug Alarm wegen der Massaker, die im März 2025 in Latakia und Tartus stattfanden, bei denen innerhalb von weniger als 48 Stunden über 1.700 Menschen – überwiegend Alawit*innen – getötet wurden. Sein Dokumentationsteam fand Hinweise darauf, dass die Morde systematisch und aus Rache begangen wurden, wobei Elemente auf Völkermord hindeuten und darauf schließen lassen, dass die derzeitige Regierung immer noch nicht als Staat handelt, sondern weiterhin die Denkweise einer terroristischen Organisation hat. „Sie sagen dem Westen, was er hören will“, kritisierte er die Diskrepanz zwischen den offiziellen Darstellungen und der Realität vor Ort.
Wajiha Hajar betonte, wie wichtig es sei, die Verbrechen gegen Zivilist*innen, insbesondere gegen Frauen und Kinder, anzuerkennen – Opfer, die nicht an der Gewalt beteiligt waren. Sie betonte die Notwendigkeit einer glaubwürdigen Wahrheitskommission und äußerte gleichzeitig Zweifel an der Unabhängigkeit der derzeitigen Kommission. „Gewalt darf niemals mit mehr Gewalt beantwortet werden, sondern mit integrativer Gerechtigkeit“, sagte sie.
Regionale Dynamik und ausländischer Einfluss
Rabie Nasser stellte die Krise in Syrien in einen breiteren regionalen Kontext. Er führte den Zusammenbruch der Regierungsgewalt im gesamten Nahen Osten auf wichtige Ereignisse wie die US-Invasion im Irak und die israelische Militäraggression zurück, die bewaffneten Gruppen den Weg ebneten, unter dem Deckmantel des Widerstands die Macht zu übernehmen. HTS sei Teil dieses Trends und werde von Akteur*innen wie der Türkei und den Golfstaaten unterstützt oder toleriert.
Mit Blick auf Syrien warnte er, dass sich die scheinbare Übergangsphase zu einer längerfristigen politischen Realität verfestigt habe. Rabie Nasser warnte davor, die Dominanz von HTS mit Autorität zu verwechseln. „Sie sind nicht stark genug, um zu sagen: ‚Wir kontrollieren das Land‘“, argumentierte er. Wahre Macht erfordere seiner Ansicht nach Inklusivität, nicht nur militärische Präsenz. Anstatt einen repräsentativen politischen Prozess aufzubauen, habe die HTS die Macht zentralisiert und kritische Akteur*innen – insbesondere politische Parteien und die Zivilgesellschaft – ausgeschlossen.
Leila Kayyali äußerte sich besorgt über die Rolle externer Mächte, insbesondere der Türkei und Israels. Sie bezeichnete Syrien als „Spielwiese der Weltmächte“ und forderte ein neues Bewusstsein für die nationale Unabhängigkeit.
Geschlechtersicht und verpasste Chancen

Leila Kayyali sprach auch die politische Ausgrenzung von Frauen an. Sie kritisierte sowohl die Alibipolitik des Assad-Regimes als auch die fast vollständige Ausgrenzung von Frauen durch die derzeitige Regierung, obwohl diese eine Schlüsselrolle in der Revolution gespielt hatten. Sie forderte eine echte Vertretung für die Zukunft.
Übergangsjustiz und Rechenschaftspflicht
Die Podiumsteilnehmer*innen betonten, wie wichtig ein zeitnaher Beginn des Übergangsjustizprozesses als Grundlage für eine friedliche Zukunft sei.
Bassam Alahmad kritisierte die undurchsichtige Vorgehensweise der Regierung im Umgang mit mutmaßlichen Kriegsverbrechern und wies darauf hin, dass das syrische Recht internationale Verbrechen wie Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht anerkennt. Er äußerte sich auch enttäuscht darüber, dass die Regierung keine sinnvolle Zusammenarbeit mit internationalen Gremien wie der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen und dem International, Impartial and Independent Mechanism (IIIM) aufgenommen hat.
Rabie Nasser fügte hinzu, dass Gerechtigkeit mit Wirtschaftspolitik und sozialer Inklusion verbunden sein müsse. Er warnte vor zunehmender Ungleichheit unter den aktuellen Wirtschaftsreformen, die er als gefährlich neoliberal und losgelöst von den Bedürfnissen der Menschen bezeichnete.
Ausblick: Ein inklusives Syrien
In ihren Schlussworten reflektierten die Podiumsteilnehmer*innen darüber, was für den Wiederaufbau eines gerechten und inklusiven Syriens notwendig wäre.
Leila Kayyali forderte engere Beziehungen zwischen der syrischen Diaspora und den Communities im Land. Sie betonte, dass im Exil lebende Fachleute und Aktivist*innen wertvolles Wissen und Mechanismen zur Rechenschaftspflicht in den Übergangsprozess einbringen könnten.
Wajiha Hajar schloss sich dem an und erklärte: „Jetzt ist es Zeit zu handeln. Die Zivilgesellschaft hat wichtige Dienste geleistet, aber es gibt keine rechtliche Grundlage für ihr Engagement. Diaspora-Organisationen können dabei helfen, Erfahrungen und Wissen zurück nach Syrien zu transferieren.“
Bassam Alahmad drängte auf eine inklusive Beteiligung an der Gestaltung der Zukunft Syriens und verwies dabei auf die Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats als Leitrahmen.
Rabie Nasser schloss mit vorsichtigem Optimismus: „Extremismus funktioniert nie. Sowohl die Bevölkerung als auch die Behörden müssen aus der Vergangenheit lernen.
Beirud Birds by Nour Sokhon

Im Anschluss an die Diskussion präsentierte die libanesische Künstlerin Nour Sokhon Auszüge aus ihrer Soundperformance Beirut Birds.