Afghanistan war dem Frieden seit zwei Jahrzehnten nicht so nah wie heute. Doch zu welchem Preis wird dieser Frieden erkauft? Zusammen mit dem afghanischen Verein AKIS hat das VIDC anlässlich des 20-jährigem Jubiläums von „Banu“, dem Frauenmagazin der afghanischen Diaspora und dem ebenso langen Bestehen der UN Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ eine Paneldiskussion veranstaltet. Dabei stand vor allem ein Thema im Fokus: Kann es einen Frieden ohne Frauen am Verhandlungstisch geben?
„Ich war sechs Jahre alt und in der ersten Klasse, als mein Vater uns eines nachts alle versammelte und uns sagte, dass die Taliban gekommen seien und wir nicht mehr zur Schule gehen konnten“. Dies sei ihre schlimmste Erinnerung an die Taliban, sagt Gawhar Musleh. Ihre Stimme zittert ein wenig aber ihr Blick und ihre Haltung sind entschlossen. „Ich habe nicht verstanden, warum ich plötzlich nicht mehr zur Schule konnte.“ Dafür war sie zu jung. Es sollte auch nicht die einzige Erinnerung bleiben. „Ich habe viele Erinnerungen aus der Zeit des Taliban Regimes“, so Musleh. „Leider handeln keine davon von schönen Momenten“.
Kann ein Frieden ohne Frauen funktionieren?
Im Rahmen der Feierlichkeiten für das 20-jährige Bestehen des Banu Magazins, veranstaltete das VIDC eine Paneldiskussion zu den afghanischen Friedensgesprächen. Unter dem Titel „No Peace Without Women“ wurde die Bedeutung der Partizipation von Frauen an Friedensverhandlungen mit den Taliban diskutiert.
Eingeladen waren neben Frau Musleh noch vier weitere Frauen, um an dem Panel teilzunehmen. Nahid Sediq Olumi, Chefredakteurin des Banu Magazins, Asiye Sel, Soziologin und Referentin der Arbeiterkammer Österreich, Jessica Herz, Projektkoordinatorin in der Abteilung für Unterstützte Freiwillige Rückkehr und Reintegration im Landesbüro von IOM Österreich sowie die Autorin dieses Beitrags, Waslat Hasrat-Nazimi.
Nahid Sediq Olumi lebt seit zwanzig Jahren in den Niederlanden und ist seit vielen Jahren für das Banu Magazin in unterschiedlichen Positionen tätig. Durch ihre Arbeit möchte sie eine Stimme für Frauen in Afghanistan sein, die nicht für sich selbst sprechen können. „Der Friedensprozess ist heute nur so weit, weil Frauen diesen Weg geebnet haben. Wie kann ein Frieden ohne die Bevollmächtigung von Frauen funktionieren?“, fragt sie in ihrer Rede.
Ein Frieden ohne die Beteiligung von Frauen hat wesentlich weniger Chancen ein langanhaltender Frieden zu sein, so Asiye Sel. Sie unterstreicht, dass Studien belegen, dass durch die Beteiligung von Frauen die Chancen auf einen nachhaltigen Frieden steigen. Die UN verabschiedete unter anderem deshalb am 30. Oktober 2000 die Sicherheitsratsresolution 1325. Die Beteiligung von Frauen in Friedens- und Sicherheitsprozessen ist das Kernstück dieses Mandats. Frauen sollen in allen internationalen, nationalen und regionalen Entscheidungsgremien und Mechanismen zur Vermeidung und Lösung von Konflikten stärker repräsentiert sein.
Zwischen 1990 und 2017 waren trotzdem nur 8% der Verhandlungsführer*innen bei Friedensgesprächen weltweit weiblich. Die gewünschten Ziele werden auch nach zwanzig Jahren nicht vollkommen erreicht. 2018 beschloss die Europäische Union den „EU Strategic Approach to Women, Peace and Security“ und verabschiedete gleichzeitig den dazugehörigen Regionalen Aktionsplan. Die Rechte von geflüchteten und migrantischen Frauen und Menschenrechtsaktivistinnen sollen besonders geschützt werden. Darüber hinaus sollen sie vermehrt als Beraterinnen bei Friedensprozessen fungieren. Dies wäre auch auf die Unterstützung von geflüchteten Frauen in Europa anzuwenden. Ein weiteres Ziel, das nicht ausreichend erfüllt ist.
Asiye Sel zieht auch Parallelen zu den Kämpfen der Frauen in Afghanistan für Gerechtigkeit und den Bemühungen von Frauen in Österreich. „Auch hier werden Frauen immer noch diskriminiert“, erklärt Sel.
Kaum Fortschritte in 100 Jahren
Afghanistans Frauen machen jedoch scheinbar keinen Fortschritt in ihren Forderungen nach Gleichberechtigung. Im Jahr 1919 bekamen afghanische Frauen das Recht zu wählen. Noch ein Jahr bevor Frauen in den USA dieses Recht zugesprochen bekamen. 100 Jahre später könnte der Unterschied der Frauenrechte in diesen beiden Ländern kaum größer sein. Heute dürfen Frauen wieder wählen, nachdem ihnen das Wahlrecht zu Zeiten des Taliban Regimes weggenommen wurde. Seit dem Fall der Taliban im Jahr 2001 haben sich viele ihre Rechte zurückerkämpft, jetzt werden diese erneut bedroht.
Am 29. Februar 2020 unterzeichneten die Taliban und die USA einen Friedensdeal in Doha, Katar. Dieser Deal regelt den Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan. Im Gegenzug werden die Taliban keine US-Soldaten angreifen und versichern, dass Afghanistan nie wieder ein Rückzugsort für Terroristen werden kann.
Die Interessen der afghanischen Bevölkerung werden in diesem Deal nicht berührt. Die Rechte der afghanischen Frauen nicht einmal erwähnt. In innerafghanischen Gesprächen sollen diese Belange einzeln besprochen werden. Die Frage ist jedoch, warum die USA Frauenrechte nicht als Bedingung an das Abkommen geknüpft haben. Schließlich waren es unter anderem die Rechte von afghanischen Frauen, die mit als Grund für die Invasion der USA in Afghanistan angegeben wurden. Die damalige Bush-Regierung hatte es sich als Ziel auf die Fahnen geschrieben, die afghanischen Frauen zu erretten. Mit Terroristen wolle man nicht verhandeln, hieß es damals. Hätte man sich damals vorstellen können, dass 20 Jahre später alles wieder rückgängig gemacht werden würde?
In den innerafghanischen Gesprächen sind Frauen in geringer Anzahl vertreten - die Delegation der afghanischen Regierung sieht fünf Frauen für die Gespräche vor. Eine von ihnen, die Aktivistin und Parlamentarierin Fawzia Koofi, wurde vor einigen Tagen angeschossen. Sie überlebte verletzt. Sie und die vier weiteren Frauen sollen bei den Gesprächen Frauen in Afghanistan vertreten. Doch wie realistisch ist es, dass sie alle Frauen vertreten können, vor allem Frauen, die in ländlichen Gebieten leben?
Wenn der ferne Krieg ganz nah ist
Die internationale Gemeinschaft werde die Frauen in Afghanistan aber nicht aufgeben. Die Internationale Organisation für Migration (IOM), ist eine der Organisationen, aus Europa und den Nachbarländern zurückgekehrte Frauen in Afghanistan unterstützt. Jessica Herz von IOM, stellt in ihrer Rede auf dem Panel die Arbeit der UN-Organisation vor, die beispielsweise Frauen in Afghanistan unterstützt, wenn sie ein kleines Unternehmen gründen wollen.
Der Frieden in Afghanistan mag in Europa weit weg erscheinen. Tatsächlich sind die Konsequenzen der Zukunft des kriegsgeschundenen Landes aber auch hier spürbar. In Österreich ist die kleine afghanischen Gemeinde mittlerweile zu einer großen Community von 50.000 Menschen angewachsen. Damit bilden Afghan*innen die zehntgrößte Gruppe von Migrant*innen in Österreich. Gawhar Musleh ist eine von ihnen. Unter schwierigsten Bedingungen schaffte sie es nicht nur die Schule trotz Bildungsverbot für Mädchen abzuschließen. In Schulen im Untergrund lernte sie weiter, bevor sie nach dem Sturz der Taliban dann später zur Universität gehen und ihr Medizinstudium abschließen konnte. Heute ist sie Vorsitzende der Frauenabteilung des Vereins AKIS. „Sie können sich vorstellen, was meine und die Meinung meiner Familie zum Frieden mit den Taliban ist“, schließt Musleh in ihrer Rede ab. Für sie kann es auf diese Weise keinen Frieden geben. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an die Zeiten, in denen sie und ihre Familie in Angst und Schrecken lebten (18. September 2020).