Im Dezember 2019 feierte Afghanistan einen traurigen Jahrestag: Seit über 40 Jahren herrscht Krieg im Land am Hindukush, der 2019 wieder an Dynamik und Schrecken zugelegt hat. Aus diesem Anlass hat das VIDC am 2. Dezember 2019 den Journalisten Emal Haidary und die feministische Aktivistin und Forscherin Sahar Fetrat zu einer Diskussion nach Wien eingeladen. Ursprünglich hätte an der Diskussion auch Rahela Sidiqi vom Farkhunda Trust for Afghan Women's Education in London an der Diskussion teilnehmen sollen, allerdings wurde ihr von den österreichischen Behörden am Wiener Flughafen der Eintritt nach Österreich verwehrt, da sie ohne Visum mit ihrem britischen Flüchtlingspass nicht nach Österreich einreisen durfte. Zuvor war Frau Sidiqi mit demselben Reisedokument problemlos und ohne Visum in andere Schengen-Länder wie Deutschland und Dänemark eingereist. Moderiert wurde die Veranstaltung vor über 200 Besucher*innen (zur Hälfte aus der afghanischen Diaspora) vom afghanischen Migrationsforscher Ali Ahmad, der auch als Afghanistan-Konsulent für das VIDC tätig ist.
Ein „gebrochenes“ Land
„Afghanistan heute ist so gebrochen, so erschöpft und so unsicher wie seine Bürger*innen und die meisten von uns aus Afghanistan, die sich heute in diesem Raum aufhalten. (…) Afghanistan zwischen Krieg und Neuanfang, das sind Millionen von uns, die während des Taliban-Regimes geboren wurden und entweder in den Nachbarländern als Flüchtlinge oder in Afghanistan aufgewachsen sind, die nach der US-geführten Invasion in Afghanistan im Jahr 2001 ihr Schicksal neu gestaltet haben. Sie repräsentieren die Ambivalenz einer Generation, die sich weder zu Hause noch außerhalb ihrer Heimat sicher fühlt“, so der Befund von Fetrat. Wie konnte das geschehen? Stand am Anfang der Vertreibung der Taliban von der Macht doch die Hoffnung auf einen positiven Neunanfang, wie Haidary in seinem Eingangsstatement berichtete: „Fast eine Woche lang konnten die Menschen die Nachricht nicht glauben, dass die Taliban nicht mehr da waren und dass sie frei waren. Viele erinnerten sich nicht wirklich daran, was das Wort ‚Freiheit‘ bedeutete. Es war ein Neuanfang. Das Leben nach den Taliban ging schnell voran; Millionen von Flüchtlingen kehrten nach Hause zurück. (…) Die Mädchen begannen in die Schule zu gehen. Die Friedensmission der Vereinten Nationen, die Wahlen für die Präsidentschaft und zum Parlament, eine neue Verfassung, eine neue Währung, ein plötzlicher Wirtschaftsboom, Mobiltelefone und das Internet; alles schien auf dem richtigen Weg zu sein.“
Freiheit steht auf dem Spiel
Doch alle Errungenschaften und Freiheiten der Post-Taliban-Zeit scheinen wieder auf den Spiel zu stehen. „Nach fast 18 Jahren, geht es wieder einmal entweder um die Taliban und Terrorismus oder um Burkas und Bärte“, so Haidary: „Für die Welt sieht Afghanistan wie eine ‚unbezähmbare’ Nation aus. (...) Die Euphorie, die das Land nach der ‚Niederlage’ der Taliban überschwemmt hat, ist so gut wie vorbei. Sie wurde durch ein Gefühl der Enttäuschung, Frustration, Ungläubigkeit und Wut ersetzt. Skeptizismus und Zynismus haben den Optimismus der frühen Post-Taliban-Tage ersetzt.“ Gerade das zwischen der US-Administration und den Taliban geschlossene Friedensabkommen, welches ohne Beteiligung der afghanischen Regierung geschlossen wurde, schüren neue Ängste, wie Fetrat betonte: „Ich verließ Kabul im August 2018, um meinen Master in Gender Studies zu machen, und als ich im Sommer 2019 für meine Forschung nach Kabul zurückkehrte, bemerkte ich eine enorme Veränderung im öffentlichen Diskurs. Bei jeder Versammlung, bei jedem Essen und jeder Taxifahrt gab es ein gemeinsames Gespräch: Die Friedensverhandlungen mit den Taliban und die Frage der Rückkehr der Taliban an die Macht. (...) Ich habe beobachtet, dass Frauen im Allgemeinen und Feministinnen und Frauenrechtlerinnen im Besonderen besonders besorgt über die Ergebnisse eines möglichen Friedensabkommens mit den Taliban waren.“ Doch die afghanischen Frauen, so Fetrat, seien keineswegs untätige „Opfer“, die von der Geopolitik „gerettet“ werden müssten, sondern sie werden aktiv und wollen Teil eines Neuanfangs in Afghanistan sein: „Die westlichen Medien sind derzeit offensichtlich fasziniert davon, wie afghanische Frauen die mögliche Rückkehr der Taliban befürchten, nicht aber davon, wie afghanische Frauen in verschiedenen Provinzen sich dagegen wehren; wie sie mobilisieren, organisieren und zusammenarbeiten, um andere Wege des Widerstands zu finden und zu verhandeln.“
Kein Abtausch „Frieden“ vs. „Frauenrechte“
Auch für Haidary lässt sich die Zeit nicht einfach zurück drehen, auch wenn er keine Alternative zu den US-Taliban Friedensgesprächen sieht: „ Afghanistan verliert jeden Tag junge Männer und Frauen. Schulen werden niedergebrannt. Der Wiederaufbau wird rückgängig gemacht. Die Menschen werden entmutigt. (...) Die Afghan*innen warten verzweifelt darauf, dass Washington und die Taliban ein Abkommen zur baldigen Beendigung der Gewalt schließen.“ Die Menschen seien daher momentan zwar skeptisch aber durchaus hoffnungsvoll. Die Frage sei allerdings, wer den Preis für den Frieden zahlen wird, so Fetrat: „Was für ein Frieden, für wen? Wir können nicht zwischen Frieden und Frauenrechten verhandeln. Es kann nicht heißen, entweder Frauenrechte oder Frieden.“ Für Haidary habe sich das Land und seine Menschen in den 18 Jahren verändert. Gerade die Jugend würde nicht einfach die Rückkehr zu der Talibanzeit hinnehmen. Daher seine Hoffnung: „Es ist vielleicht zu spät für die Taliban, um zu versuchen, das Blatt zu wenden!“ Darauf möchte Fetrat sich allerdings nicht verlassen und sie ruft dazu, dass die USA und ihre Verbündeten ihre Verantwortung auch beim Rückzug aus Afghanistan wahrnehmen: „Es ist an der Zeit, den Frauen Afghanistans beizustehen, indem wir eine sinnvolle Vertretung an den Verhandlungstischen einfordern und hinterfragen, dass die Gewährleistung der Frauenrechte in der alleinigen Verantwortung der Frauen liegt.“
Netzwerkkonferenz
Die Diskussion über Krieg und Neunanfang in Afghanistan war Teil der Netzwerkkonferenz „ Knowledge Transfer and Support. The Role of the Afghan Diaspora in Europe”, welche das VIDC am 2. und 3. Dezember 2019 organisierte. Die Konferenz brachte erstmals in Österreich afghanische Diaspora-Organisationen und Expert*innen aus neun europäischen Ländern mit öffentlichen Institutionen, internationalen Organisationen und entwicklungspolitischen NGOs zusammen, um die Diversität afghanischer Vereine aufzuzeigen und Best-Practice-Beispiele aus verschiedenen europäischen Ländern zu diskutieren. In den Plenums und Workshops der Konferenz wurde über den Status Quo der Diaspora- und Migrationspolitik in Europa und Afghanistan gesprochen, sowie über Finanzierungsmodelle, die Vernetzung afghanischer Diaspora-Organisationen, die (Selbst-) Ermächtigung afghanischer Frauen, die Herausforderungen bei der Projektarbeit in Afghanistan und Pakistan und über die Probleme afghanischer Flüchtlinge in Pakistan und in Europa bei der Integration. Darüber hinaus wurden Empfehlungen für künftige Maßnahmen und für eine bessere Integration afghanischer Diaspora-Organisationen in die Entwicklungs- und Migrationspolitik entwickelt, die in dem Leitfaden A Guide to Afghan Diaspora Engagement in Europe. Examples of good practice and recommendations from the Vienna Networking Conference “Knowledge Transfer and Support” nachzulesen sind.
Zum historischen Hintergrund
1979 intervenierte die Sowjetunion militärisch in Afghanistan zur Unterstützung der kommunistischen Volkspartei, die im April 1978 mit einem Staatsstreich an die Macht gekommen ist. Es begann ein zehn Jahre andauernder Konflikt zwischen der sowjetisch gestützten Zentralregierung und den von den USA und Pakistan unterstützten Widerstandsgruppen der (islamistischen) Mudschahedin, der weite Teile des Landes verwüstete. Nach der Niederlage der Sowjets und der Zentralregierung
in Kabul folgten weitere Jahre des Bürgerkriegs, bis Mitte der 1990er Jahre die islamistischen Taliban die Kontrolle über das Land erringen konnten und ihre Schreckensherrschaft etablierten. Am 7. Oktober 2001 starteten dann die USA und ihre NATO-Verbündeten den „Krieg gegen den Terror“ als Antwort auf die Anschläge vom 11. September in New York und Washington. Diese Auseinandersetzung wurde auch als „Kampf um die Rechte und Würde der Frauen“ geführt (First Lady Laura Bush in der Los Angeles Times, 18.11.2001). Damit sollte sich das Blatt wenden und Frieden und Sicherheit sowie ein nachhaltiger Wiederaufbau eingeleitet werden, insbesondere die Frauen sollten von der Intervention des Westens profitieren. Seit dem Abzug der internationalen Kampftruppen 2014 verschlechtern sich die Sicherheit und die wirtschaftliche Situation im Land aber zusehends. Gerade die Frauen in Afghanistan gehen einer ungewissen Zukunft entgegen.werden könnte.