Man darf mit einiger Sicherheit sagen, dass die große Mehrzahl der Europäer bis vor wenigen Monaten keine Ahnung hatte, wo Tigray ist. Afrikareisende mochten die bergige, atemberaubend schöne Landschaft vielleicht kennen, aber es ist auch gar nicht so einfach, zum Kafta Sheraro oder in den Simien-Nationalpark zu kommen.
Ein Konflikt hat diese zerklüftete Region – immerhin so groß wie Ober- und Niederösterreich und die Steiermark zusammen – nun in das Auge der Weltöffentlichkeit gerückt. Tigray ist nur eine von neun Regionen in Äthiopien. Aber es ist die, die drei Jahrzehnte das Land dominierte, nachdem die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) maßgeblich am Sturz des menschenverachtenden kommunistischen Regimes beteiligt war, dem unzählige Menschen zum Opfer gefallen waren. Erst Ministerpräsident Abiy Ahmed Ali machte der privilegierten Situation ein Ende. Ein Konflikt, der von November an blutig ausgetragen wird zwischen der äthiopischen Armee und der TPLF, und in dem verschiedene Milizen, angeblich auch ausländische Armeen, vor allem die eritreische, mitmischen. Niemand weiß, wie vielen Menschen der Konflikt das Leben gekostet hat. Klar ist aber, dass Hunderttausende, möglicherweise Millionen Menschen, seitdem auf der Flucht sind.
Es gehört zum Mandat von UNHCR, dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, sich um diese Menschen zu kümmern. Die etwa 500 Mitarbeiter sind über das ganze Land verteilt, weil es überall Flüchtlinge gibt: seit Jahrzehnten beherbergt Äthiopien Hunderttausende Flüchtlinge. Mehr als 800.000 gibt es, wobei die größte Gruppe aus dem Südsudan (365.000) kommt, gefolgt von Somalia (204.000) und dann Eritrea (178.000). In den vier Flüchtlingscamps in Tigray leben 96.000 Eritreer, die seit den 90er Jahren und verstärkt seit etwa 15 Jahren aus ihrer Heimat geflohen sind. Eritrea wird immer wieder für Menschenrechtsverletzungen kritisiert. Menschen können zu einem Militärdienst gezwungen werden, der 20 Jahre dauern kann. Freie Meinungsäußerung ist ebenso unbekannt wie Pluralismus.
UNHCR musste Tigray sofort nach Ausbruch des Konfliktes verlassen
Versorgt wurden die Flüchtlinge von UNHCR in Zusammenarbeit mit dem Welternährungsprogramm WFP und anderen Partnern. Bis die Kämpfe begannen. „Wir mussten von einem auf den anderen Tag raus“, sagt Richelle Haines. Die Amerikanerin arbeitet seit zehn Jahren für UNHCR in Äthiopien und spricht fließend Amharisch und Tigrinisch. „Wir mussten diese Menschen, für die wir ein Mandat haben und von denen viele zu Freunden geworden waren, allein lassen. Als wir gingen, machten alle dieselbe Geste: Sie zuckten ostentativ mit den Schultern, als würden sie sagen: Warum geht Ihr? Was soll das?“ Eine Wahl hatten Haines und ihre 90 Kollegen jedoch nicht.
Adi Harush und Mai-Aini heißen die beiden südlichen Camps in der Region. Shimelba und Hitsats die beiden nördlichen. Alle vier Camps mit Zehntausenden Männern, Frauen und Kindern waren mit Beginn der Kämpfe abgeschnitten von jeglicher Versorgung. Keine Nahrung. Kein sauberes Wasser. Schulen und Ambulanzen geschlossen. Erst nach mehr als eineinhalb Monaten durften die ersten Konvois mit Nahrungsmitteln wieder in die beiden südlichen Camps fahren. Die beiden nördlichen sind auch nach vier Monaten noch immer unerreichbar. Hilfe für die etwa 20.000 Flüchtlinge aus Shimelba und Hitsats gibt es so gut wie nicht. Die Camps , so legen Satellitenbilder und die Aussagen von Flüchtlingen nahe, wurden zerstört. Vermutlich absichtlich.
Das Leben einer Alleinerzieherin im Flüchtlingscamp und die Hoffnung auf Resettlement
„Wir hatten große Angst“, sagt Liya. Die 39-Jährige ist aus Asmara, der Hauptstadt Eritreas, geflohen. Mit ihren drei Töchtern lebt sie nun in Mai-Aini, einem Flüchtlingscamp im südlichen Tigray. Mai-Aini selbst wurde nicht zerstört. „Aber wir haben die Explosionen gehört. Und die Schüsse. Die Kinder haben große Angst gehabt, gerade nachts“, sagt sie. „Ich auch.“
Liya floh aus Eritrea, weil auch sie den Militärdienst antreten sollte. „Ich sagte: Ich kann nicht, ich habe ein Baby“, erzählt sie, „Aber das interessierte sie nicht. Dann gib es eben solange weg, sagten sie. Aber da war niemand, dem ich vertraute.“ Sechs Monate saß sie dafür im Gefängnis, eine Bekannte kümmerte sich solange um das Kind. Nach der Entlassung floh Liya.
Drei Töchter hat sie: Asmarina ist zwölf, Rahwa fünf und Mariam vier. Zu viert leben sie auf acht, neun Quadratmetern in einer Steinhütte im Flüchtlingscamp. Ein Fenster hat die Unterkunft immerhin, Strom und Wasser nicht. „Den Kanister mit Wasser zu schIeppen ist schwer. Zu Hause habe ich einfach den Hahn aufgedreht“, sagt Liya. „Und ich musste erst lernen, mit Holz zu kochen: Holz sammeln, dann ein Feuer entfachen und alles so machen, dass man damit auch kochen kann. Ich kannte es ja nur, einfach den Gasherd anzumachen.“
Halten Flüchtlinge in der Not zusammen? Oder kümmert man sich nur um die eigenen Sorgen? „Es läuft viel über Verwandtschaft. Aber ich habe keine Verwandten hier. Manche Nachbarn helfen mir, manche nicht. Und hin und wieder will ein Mann dann, dass ich ihm auch einen Gefallen tue. Sexuell natürlich. Wenn die dann begriffen haben, dass da nichts läuft, ist man Luft für die.“
Die meisten Flüchtlinge leben in Familien. „Es ist für jeden schwer. Aber für alleinstehende Frauen besonders“, sagt UNHCR-Mitarbeiterin Haines. „Es gibt kein sauberes Wasser, es gibt keine Kliniken, es gibt keine Hygieneartikel. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es ist, einen Menstruationszyklus und kein sauberes Wasser zu haben. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, unter diesen Umständen schwanger zu sein und auch noch ein Kind zu bekommen.” In den Monaten, in denen Mai-Aini und das nahe Camp Adi Harush abgeschnitten waren, kamen 86 Kinder zu Welt. Das Licht der Welt erblickt als Flüchtlingskind.
Liya und ihre Tochter Asmarina haben einen gemeinsamen Wunsch: dass die Schule weitergeht. “Sie gehörte immer zu den besten“, sagt Liya stolz und streichelt ihrer Tochter über den Kopf. Die Zwölfjährige kniet vor der Bank, auf der sie sonst sitzt. Darauf liegt ihr Schulheft, in dem sie sorgfältig ihre Hausaufgaben macht. Auf manchen Seiten klebt ein Heiligenbildchen, ihr liebstes zeigt Jesus. „Wenn man Flüchtling ist, sucht man Trost im Glauben“, sagt Liya fast entschuldigend. Wenn abends die Kinder endlich schlafen, liest sie in ihrem Gebetbuch oder bastelt. Etwa silberne Girlanden, die im Sonnenlicht funkeln. „Das ist die Folie von der UNHCR-Nahrung“, sagt sie lachend. Das „Happy Birthday“ sei veraltet. „Das ist lange vorbei, aber die Kinder lieben es so.“ Lieber bunte Buchtstaben als eine graue Steinwand.
Mai-Aini hat auch eine Kirche. Bunt bemalt sind die Wände des schlichten Baus. Davor hängen leere Wasserflaschen. Es ist ein sehr einfaches Windspiel, aber es erfüllt seinen Zweck. Die meisten Menschen in dem Flüchtlingscamp sind orthodoxe Christen. Einige von ihnen werden das Camp nie verlassen: Mai-Aini hat auch einen Friedhof.
Liya möchte nicht hierbleiben. „Ich hoffe auf Resettlement“, sagt sie. Das ist ein Programm von UNHCR, um die bedürftigsten Flüchtlinge in ein anderes Land zu bringen. Doch es gibt viele Flüchtlinge und viel zu wenige Plätze. Liya hofft dennoch. Und betet. „Mein größter Wunsch ist, dass meine Töchter nicht in einem Flüchtlingscamp aufwachsen.“ (1. März 2021).