Am. 4. November 2021 veranstalteten das VIDC und das International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) eine Podiumsdiskussion unter dem Titel „Klimakrise befeuert Vertreibung“. Die Veranstaltung in Wien fand vor dem Hintergrund der Skepsis gegenüber dem Verlauf der 26. Klimakonferenz der Vereinten Nationen statt, die vom 31. Oktober bis 12. November 2021 in Glasgow über die Bühne ging. Michael Fanizadeh vom VIDC eröffnete die Diskussion mit der Feststellung, dass die Menschen im globalen Süden von den kurz- und langfristigen Auswirkungen des Klimawandels besonders betroffen seien. Das liege daran, dass sie weniger Möglichkeiten hätten, sich an Bedrohungen wie häufigere und intensivere Wetterereignisse anzupassen. Infolgedessen sind die Menschen zunehmend gezwungen, ihre Herkunftsorte zu verlassen. Fanizadeh ergänzte, dass nach Angaben des UNHCR bis Ende 2020 sieben Millionen Menschen durch Umweltkatastrophen vertrieben wurden. Nach dieser Einführung wurde die Veranstaltung mit Präsentationen der drei Podiumsteilnehmer*innen und einer Diskussion unter Einbeziehung des Publikums fortgeführt. Moderiert wurde die Veranstaltung von Daniela Paredes Grijalva.
Adil Najam: Wir leben im „Zeitalter der Anpassung“ - der Klimawandel ist kein Zukunftsthema mehr
Der Vortrag von Adil Najam konzentrierte sich auf den Zusammenhang zwischen Klima und Vertreibung und die Auswirkungen auf die Gesellschaft von der globalen bis zur lokalen Ebene. Najam ging in seinem Vortrag auf die folgenden Fragen ein: Wie sollten wir Klimawandel und Anpassung verstehen? Was bedeutet es, im „Zeitalter der Anpassung“ zu leben? Wie fordert Migration das Klimadenken heraus, und umgekehrt? Najam sprach in seinem Vortrag darüber, dass der Klimawandel bereits stattfindet und daher eher ein aktuelles als ein zukünftiges Problem ist: „Indem wir über den Klimawandel als ein zukünftiges Problem sprechen, machen wir uns vor, dass wir Zeit zum Handeln haben. Da die Welt nicht bereit ist, die Bedrohung durch den globalen Klimawandel abzumildern, leben wir heute bereits im 'Zeitalter der Anpassung'. Das bedeutet, dass wir jetzt über die Auswirkungen des Klimawandels und nicht mehr nur über seine Eindämmung sprechen müssen. Beim Klimaschutz geht es also nicht mehr nur um CO2-Management, sondern vielmehr auch um die Anpassung an die verschiedenen Auswirkungen des Klimawandels.“
Ausgehend von dem Fall, dass das Risiko der Übertragung von z.B. Dengue-Fieber durch die globale Erwärmung erhöht wird, argumentierte Najam weiter, dass die wichtigsten und wahrscheinlichsten Auswirkungen das Wasser betreffen, d.h. den Anstieg des Meeresspiegels, Dürren und Überschwemmungen. Die sich verändernden Wassersysteme in Verbindung mit dem fortschreitenden Verlust von Ökosystemen führen zu veränderten Nahrungsmittelsystemen, die wiederum die Lebensgrundlage der Menschen bedrohen und somit die Mobilität der Menschen fördern würden. Daher sei die klimabedingte Migration aufgrund der unsicheren Lebensgrundlage für Najam vor allem wirtschaftlich motiviert. Najam fügte hinzu, dass diejenigen migrieren werden, die über das meiste soziale, persönliche, physische, menschliche und finanzielle Kapital verfügen. Daher sind diejenigen, die unfreiwillig immobil sind, diejenigen mit geringer Anpassungsfähigkeit. Najam beendete seinen Vortrag mit der Feststellung, dass wir von der Verwaltung von Flüchtlingen zur Vermeidung von Vertreibung übergehen müssten, von der Maximierung der Sicherheit zur Minimierung der Unsicherheit, von der Anpassung als Problem zur Anpassung als Lösung und von der Klimaunterstützung zur Klimagerechtigkeit.
Raya Muttarak: Von Frauen geführte Haushalte tragen bei Einkommensschocks eine dreifache Last
Raya Muttarak ging auf die geschlechtsspezifische Dimension der klimabedingten Migration ein. Sie tat dies, indem sie sie aus der Perspektive der unterschiedlichen Anfälligkeit und Anpassungsfähigkeit betrachtete. Zunächst definierte Muttarak den Begriff Risiko als eine Kombination aus Gefährdung, Anfälligkeit und Belastung. Zu den wichtigsten Risikofaktoren gehören für sie dabei individuelle Faktoren wie Alter, Geschlecht und Bildung sowie Faktoren auf der Meso- und Makroebene wie die öffentliche Gesundheitspolitik und die Infrastruktur. Anhand einer Studie aus Südafrika veranschaulichte Muttarak, dass Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand dreifach belastet sind, wenn sie Einkommensschocks, z.B. durch klimabedingte Ereignisse, erleiden. Diese dreifache Belastung komme darin zum Ausdruck, dass eine Frau aufgrund ihres oftmals geringeren Einkommens, ihrer geringeren Bildung und ihres schlechteren Zugangs zu Ressourcen weniger in der Lage ist, Schocks zu bewältigen (geschlechtsspezifische Belastung). Darüber hinaus hätten Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand mehr abhängige Personen als solche mit männlichem Haushaltsvorstand oder mit zwei Haushaltsvorständen (Belastung durch den Haushaltsvorstand). Schließlich würden die Frauen die Hauptlast des Haushalts tragen, da sie Pflege- und Haushaltspflichten übernehmen und gleichzeitig ein Einkommen erzielen müssen. Eine Studie in Indien ergab jedoch, dass die Anpassungsfähigkeit von Frauen unterschiedlich sein kann, da die hohe Bildung einer Mutter die Tatsache kompensieren kann, dass ein Haushalt arm ist.
Muttarak ging auf diesen Zusammenhang zwischen Migration und Anpassung an den Klimawandel ein und wies darauf hin, dass Menschen aus den mittleren Einkommensgruppen diejenigen sind, die im Falle von Klimaschocks wegziehen würden. Es sind also weder die Reichsten noch die Ärmsten, die abwandern würden. Dies verdeutlicht für sie, dass auch diejenigen, die unfreiwillig immobil sind, in die Diskussion einbezogen werden müssen. Muttarak schloss ihren Vortrag, indem sie die Komplexität des Genderaspekts in der klimabedingten Migration hervorhob. Sie argumentierte, dass wir Migration als Anpassung entlang eines Kontinuums von erzwungener und freiwilliger Migration betrachten sollten, dass Migrationsentscheidungen sowohl von der individuellen als auch von der Haushaltsebene beeinflusst werden und schließlich, dass es noch keine konsistenten Beweise für geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Reaktion von Migrant*innen auf Klimaschwankungen gäbe.
Jane Linekar: Soll ich bleiben oder gehen? Klimawandel und die Entscheidung, wegzuziehen (oder nicht)
Jane Linekar konzentrierte sich in ihrem Vortrag nicht nur auf die Frage der Migration, sondern auch auf Gründe für Immobilität. Sie betonte, dass wir sowohl eine sichere Migration als auch eine nachhaltige Anpassung ohne Mobilität ermöglichen müssten. Dazu sollte man wissen, welche Wünsche und Fähigkeiten die Menschen haben und wie ihre Lebenswirklichkeit in Bezug auf Migration aussieht. Darüber hinaus zeigen Linekars Untersuchungen, dass nur sehr wenige internationale Migrant*innen Umweltfaktoren als Grund für ihren Umzug angeben würden (fünf Prozent der Befragten), sondern vielmehr betonen, dass Umweltfaktoren bei der Entscheidungsfindung eine Rolle unter vielen gespielt haben (40 Prozent der Befragten). Damit bestätigt sich, was bereits gesagt wurde: Die sich verändernde Umwelt wirkt als Stressmultiplikator für den Lebensunterhalt, und die Menschen verlassen ihre Heimat in der Regel aus mehreren Gründen.
Linekar stellte den Zuhörer*innen ihre aktuellen Forschungsarbeiten vor, die sich mit Migrationsentscheidungen auf individueller und Haushaltsebene in sieben afrikanischen Orten befassen, die von klimabedingten Ereignissen betroffen sind. Diese Auswirkungen würden von steigenden Meerestemperaturen, Überschwemmungen und Versalzung in informellen Siedlungen in Lagos und den Außenbezirken von Alexandria bis hin zu unvorhersehbaren Niederschlagsmustern und Dürren in ländlichen Gebieten der Sahelzone und in Angola reichen. Zu den Schlüsselfragen, mit denen sich das Projekt befasst, gehören die Auswirkungen von Bewältigungsstrategien statt nachhaltiger Anpassungsstrategien, wenn die Menschen immobil bleiben, die Beteiligung der Regierungen an der Migration als Anpassungsstrategie und die Veränderung der Mobilitätsmuster von Hirten. Darüber hinaus zielt das Projekt darauf ab, die Mobilitätsmuster derjenigen zu verstehen, deren Lebensunterhalt nicht direkt vom Klima abhängt, die aber von den steigenden Lebensmittelpreisen und der geringeren Wassersicherheit infolge des Klimawandels betroffen sind. Abschließend betonte Linekar, dass Klimawandel und Mobilität miteinander verknüpft sind und dass wir die kontextspezifischen Realitäten der verschiedenen Gemeinschaften verstehen sollten. Sie erklärte, dass es von entscheidender Bedeutung sei, Antworten auf den Klimawandel zu entwickeln, um eine lebensnotwendige Flucht im Vorfeld zu verhindern, bevor sie stattfindet. Dazu müssten wir den Betroffenen zuhören und wirksam auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingehen.
Diskussion: Es geht um Klimagerechtigkeit, Handlungskompetenz und Intersektionalität
Die Diskussion drehte sich hauptsächlich um die Themen Klimagerechtigkeit, Handlungskompetenz und Intersektionalität. Raya Muttarak begann die Diskussion mit dem Hinweis auf Forschungslücken, die sowohl in der quantitativen Erfassung der Heterogenität der klimabedingten Mobilität - die z.B. geschlechtsspezifische Aspekte einschließt - als auch in der Untersuchung von Ziel- und Transitorten liegen, wo die Anfälligkeit der Migrant*innen hoch bleiben oder sogar zunehmen könne. Jane Linekar wies auf die Frage der Intersektionalität hin und betonte, dass diejenigen, die von klimatischen Ereignissen betroffen sind, bereits sehr anfällig seien. Darauf zu reagieren sei eine Frage der Klimagerechtigkeit und müsse von der Basis her angegangen werden, was bedeute, dass man wissen sollte, welche Ressourcen diejenigen, die sich bewegen, und diejenigen, die freiwillig bleiben, zur Anpassung benötigen. Adil Najam griff diese Punkte auf, indem er betonte, dass niemand einfach nur vom Klima betroffen sei, sondern dass eine Person aus bestimmten Gründen verwundbar sei, z.B. durch Intersektionalität. Politische Maßnahmen, die sich auf Klimagerechtigkeit und Anpassung konzentrieren, sollten dies daher auf eine ganzheitliche Weise angehen. Hoffnungsvoll stimme ihn, dass politische Maßnahmen zur Unterstützung der Existenzgrundlagen der Menschen pragmatisch umgesetzt werden könnten.
Die Bedeutung der Klimagerechtigkeit von der globalen bis zur lokalen Ebene und die Bedeutung eines ganzheitlichen politischen Diskurses waren die zentralen Botschaften der Fragerunde. Klimagerechtigkeit bedeutet hier, dass lokale Maßnahmen, z. B. CO2-Emissionen, globalen Einfluss haben. Außerdem erfordern lokale Probleme sowohl globale Maßnahmen als auch kontextspezifische lokale Anpassungen. Dies kann unter anderem dadurch erreicht werden, dass angesichts des Klimawandels nachhaltigere und vielfältigere Lebensgrundlagen geschaffen und gleichzeitig die lokalen Gemeinschaften gestärkt werden. Aus politischer Sicht rief Najam dazu auf, die Stimmen aus der Entwicklungspolitik stärker in den Diskurs über Klima und Migration einzubeziehen. Muttarak fügte hinzu, dass Migration ein politisch sensibles Thema sei und dass Konflikte und daraus resultierende Flüchtlingsströme, die wiederum zu politischen Spannungen beitragen würden, in bestimmten Kontexten von klimatischen Ereignissen beeinflusst werden könnten. Daher sollten wir die Komplexität dieser Ereignisse verstehen. Linekar wies ferner darauf hin, dass die meisten Migrationsbewegungen innerhalb einer Region stattfinden würden. Sie rief daher dazu auf, die Perspektive zu stärken, dass Mobilität oft innerhalb einer Region und nicht international stattfindet, z. B. von Afrika nach Europa. Schließlich drängten die Diskutant*innen darauf, die vom Klimawandel beeinflusste transnationale Migration durch eine translokale Perspektive, durch die Erleichterung der Migration und durch Schutzmechanismen für diejenigen, die unterwegs sind, zu meistern.