Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die am 14. Mai in der Türkei stattfinden, stellen nicht nur für die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), die seit 2002 an der Macht ist, einen historischen Wendepunkt dar, sondern auch für die Opposition, die aufgrund der Wirtschaftskrise an Kraft gewonnen hat, und für die Kurd*innen, die spätestens seit 2015 unter schweren Repressionen leiden.
Die Regierung von Tayyip Erdoğan wird bei den Wahlen am 14. Mai mit der „Volksallianz“-Wahlkoalition (Cumhur Ittifakı), einem Bündnis aus türkischen und islamistischen Parteien, antreten. Der Hauptteil dieses Bündnisses besteht aus Erdoğans islamistischer AKP und Devlet Bahçelis türkischer Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Dazu gehören auch die kurdisch-islamistische Partei der freien Sache (Hüda-Par), eine Version der Hisbollah, die in den 1990er Jahren mit ähnlichen Methoden wie der sogenannte Islamische Staat (IS) Morde an Kurd*innen verübte und deren Haltung zu Frauenrechten sich nicht von der der Taliban in Afghanistan unterscheidet, sowie die islamistisch-türkische Neue Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah-Partisi).
Diese Allianz agitiert gegen eine friedliche Lösung der kurdischen Frage, gegen erstarkte Frauen- und LGBTIQ-Bewegungen und gegen die kurdische Bewegung in Syrien und verspricht die Abschaffung der Gesetze zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen im eigenen Land. Betrachtet man alle Komponenten dieser Allianz, so sehen wir, dass eine rechtsextreme Koalition gebildet wurde, wie es sie in der Geschichte der Türkei noch nie gegeben hat.
Oppositionsbündnisse
Diesem Bündnis stehen vor allem zwei Allianzen gegenüber. Die „Allianz der Nation“ (Millet Ittifakı) bestehend aus der sozialdemokratisch ausgerichteten Republikanische Volkspartei CHP, der säkular-nationalistischen IYI-Partei, die aus einer Abspaltung von der MHP hervorgegangen ist, der liberal-islamistischen Deva-Partei, die von Leuten gegründet wurde, die sich von der AKP losgesagt haben, und der vom ehemaligen AKP-Vorsitzenden Ahmet Davutoğlu gegründeten Zukunftspartei (Gelecek Partisi).
Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu ist der Präsidentschaftskandidat der Allianz der Nation und er ist nicht nur ein starker Präsidentschaftskandidat gegen Tayyip Erdoğan, sondern er schafft es auch, Parteien unterschiedlichster Ideologien im selben Bündnis zu halten: Durch seinem einigenden Diskurs gegenüber der von Erdoğan polarisierten Gesellschaft ist er ein Versprechen für Kurd*innen, Alevit*innen, Frauen und Jugendliche.
Das zweite Oppositionsbündnis für „Arbeit und Freiheit“ (Emek ve Özgürlük İttifakı) besteht aus kurdischen und sozialistischen Bewegungen. Hauptträgerin dieses Bündnisses ist die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP). Da die HDP jedoch aufgrund des Einflusses der AKP und der MHP auf die Justiz von einem Verbot bedroht ist, wird sie bei den Wahlen am 14. Mai unter dem Namen Grüne Linkspartei (Yeşil Sol Parti) antreten. Die Arbeiter*innenpartei der Türkei (Türkiye İşçi Partisi), die in letzter Zeit in den sozialen Medien und unter den weißen Mittelschichten populär geworden ist, und die Partei der Arbeit (Emek Partisi), die für ihre Organisation innerhalb der Arbeiter*innenklasse bekannt ist, gehören ebenfalls zu diesem Bündnis. Diese Allianz für Arbeit und Freiheit wird keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufstellen und unterstützt Kemal Kılıçdaroğlu bei der Präsidentschaftswahl.
Die Fronten bei den Wahlen sind klarer denn je
„Werden sie dieses Mal gehen?“ Dies ist die häufigste Frage, die sich die Menschen in der ganzen Türkei derzeit stellen. Denn die AKP und ihr Vorsitzender Erdoğan haben trotz der Wahlniederlage vom 7. Juni 2015 die Macht nicht abgegeben, sondern die Türkei am 1. November 2015 in einem chaotischen und gewalttätigen Umfeld erneut in Wahlen geführt und sich dadurch die Macht wieder gesichert. Aufgrund dieser Erfahrung gibt es die Befürchtung, dass Erdoğan und seine AKP-Partei die Macht nicht aufgeben werden, selbst wenn sie die Wahlen am 14. Mai verlieren sollten.
Viele meinen, dass die AKP sich mit aller Macht an der Macht festklammern werden, da sie eine Strafverfolgung in Folge ihrer Politik und vor allem was die vielen Korruptionsvorwürfe betrifft fürchten und daher sogar vor einem Bürgerkrieg nicht zurückschrecken würden. Am 19. April erklärte ein junger islamistisch-nationalistischer Aktivist, der offenbar der AKP angehört, auf Twitter, dass er die Adressen der Oppositionellen kenne und sogar wisse, wann deren Kinder aus dem Haus gingen und zurückkämen, und dass er einen Bürgerkrieg anzetteln werde, wenn Erdoğan die Wahlen verlieren würde. Ähnliche Drohungen, Einschüchterungen und Erpressungsvideos kursieren in den sozialen Medien.
Auf der anderen Seite wurde in den letzten Tagen ein in Istanbul gedrehtes Video von Millionen von Menschen in den sozialen Medien geteilt, welches als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins, der durch die autoritäre Politik eingeschüchterte türkische Gesellschaft gedeutet werden kann. Das Video zeigt einen Taxifahrer bei einem heftigen Streit mit dem Besitzer eines Luxus-Jeeps, auf dessen Nummernschild „AKP“ steht. Während der AKP-Besitzer des Jeeps den Taxifahrer, der ihm nicht ausweicht, als „Terrorist“ beschuldigt und jemanden auf seinem Telefon um Hilfe bittet, gibt der Taxifahrer nicht nach und erwidert: „Sie sind der Terrorist.“
Die gestohlene Wahl vom Juni 2015
Bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 gewann die von vielen Kurd*innen unterstützte HDP 13 Prozent der Stimmen und 80 Parlamentssitze. Die AKP hingegen erhielt 40 Prozent der Stimmen, verlor aber 69 Parlamentssitze im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen und verpasste damit die Chance, alleinige Regierungspartei zu bleiben. Erdoğan sah den Hauptgrund für seine Niederlage am 7. Juni nicht im Erfolg der HDP, sondern in den seit 2013 bestehenden Friedensgesprächen mit der kurdischen Rebellenorganisation PKK. Aus diesem Grund wurden die Friedensgespräche zwischen der AKP und der PKK, die 2013 begonnen hatten, nach der Wahlniederlage der AKP am 7. Juni abgebrochen. Da Erdoğan die Wahlergebnisse vom 7. Juni nicht akzeptieren konnte, gab er seine „Friedensrhetorik“ gegenüber den Kurd*innen auf, verbündete sich mit der MHP und verfolgte seither eine militaristische Rhetorik und Militäroperationen.
Nach dem 7. Juni verhinderte Erdoğan die Bildung einer Koalitionsregierung und führte die Türkei am 1. November 2015 in Neuwahlen. Vor diesen Wahlen kündigte die PKK im Oktober an, dass sie einen einseitigen Waffenstillstand ausrufen und ihre bewaffneten Aktionen einstellen werde. Nach dieser Ankündigung versammelten sich zahlreiche politische Parteien, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen in der Hauptstadt Ankara und organisierten am 10. Oktober eine große Friedenskundgebung, auf der ein Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen gefordert wurde. IS-Kämpfer verübten bei dieser Kundgebung dann ein Massaker und töteten 103 Menschen. Nach diesem Massaker verhallte die Waffenstillstandsankündigung der PKK ungehört. Der damalige AKP-Vorsitzende und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu betonte als Folge des Terroranschlags: „Wir haben nach dem Anschlag in Ankara eine Umfrage durchführen lassen, es gibt einen Aufwärtstrend bei unseren Stimmen.“
Bei den Wahlen vom 1. November und im Kontext der politischen Unruhen erhielt die AKP dann genügend Stimmen, um wieder an die Macht zu kommen, und Erdoğan, der seine Macht gefestigt hatte beschleunigte seinen Autoritarismus und sein Bestreben, die Türkei in ein „Ein-Mann-Regime“ umzuwandeln. Bereits nach den Wahlen vom 7. Juni wurden alle Führungskräfte der HDP inhaftiert oder vor Gericht gestellt und die kurdische Bewegung mit massiven Militäroperationen überzogen. Danach liquidierte Erdoğan auch seinen ehemaligen Verbündeten, die im Staat organisierte islamistische Fethullah-Gülen-Sekte. Nachdem der Putschversuch von Anhänger*innen und Offizieren der Fethullah-Gülen-Sekte innerhalb der türkischen Armee am 15. Juli 2016 gewaltsam niedergeschlagen wurde, wurde nach einem fragwürdigen Referendum am 16. April 2017 das „Präsidialsystem nach türkischem Vorbild“ eingeführt, von dem Erdoğan glaubte, dass es ewig halten werde.
Die Repression gegen die Kurd*innen wird nicht reichen
Doch weit gefehlt: die Türkei wurde nicht, wie versprochen, gestärkt, sondern Erdoğans Präsidialsystem hat in jeder Hinsicht versagt. Indem das Regime die Justiz zu einem bloßen Machtapparat gemacht hat, um schwere Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Verbrechen zu vertuschen, hat er die Türkei in eine schwere wirtschaftliche und politische Krise gestürzt. Nachdem die AKP vor jeder Wahl und jedem Referendum nach 2015 den Zusammenbruch der Mittelschicht und den Hunger eines großen Teils der Gesellschaft mit antikurdischer Rhetorik und Praktiken sowie Operationen gegen die Kurd*innen in Nordsyrien zu verschleiern versucht hat, ist sie nun an einem Punkt angelangt, an dem diese Rhetorik ihre Wirksamkeit verloren hat.
Nach 2015 hat die AKP bei allen Wahlen und Volksabstimmungen für Militäroperationen gegen die Kurd*innen in Nordsyrien geworben, und es ist nicht unmöglich, aber sehr schwierig für die AKP, vor dem 14. Mai eine ähnliche Aktion durchzuführen. Der Grund für diese Schwierigkeit ist nicht nur die Ablehnung eines solchen Einsatzes durch die USA, sondern auch die Tatsache, dass sich das Land in einer schweren Wirtschaftskrise befindet. Das Erdbeben vom 6. Februar, welches elf Provinzen der Türkei heimsuchte und nach offiziellen Zahlen mehr als 50.000 Todesopfer forderte, war der Anfang vom Ende für die AKP. Die AKP, die Millionen von Menschen, die unter den Trümmern eingeschlossen waren, erst nach drei Tagen Hilfe zukommen lassen konnte, scheint selbst mit einer Kriegsstrategie gegen die Kurd*innen nicht in der Lage zu sein, ihre Macht zu konsolidieren.
Aber Erdoğan hat nach wie vor einen erheblichen Einfluss auf fast 40 Prozent der Gesellschaft und er kontrolliert alle Staatsgewalten, einschließlich der Armee und der Justiz. Aufgrund der Erfahrungen der Wahlen vom 7. Juni 2015 besteht daher die Sorge, dass das Wahlergebnis am Abend des 14. Mai verfälscht werden könnte und die AKP im Falle einer Niederlage einen Teil der von ihr kontrollierten paramilitärischen Kräfte mobilisieren und einen neuen antikurdischen Aufstand anzetteln könnte. Die AKP setzt die kurdische Bewegung bereits jetzt mit einer Rhetorik des „Kampfes gegen den Terrorismus“ stark unter Druck, um ihre Basis im Vorfeld der Wahlen zu festigen. Am 15. April wurden mehr als hundert Personen in 21 Städten, darunter 10 kurdische Journalist*innen, im Rahmen einer in Diyarbakır durchgeführten Untersuchung festgenommen. Ein Großteil der Festgenommenen sind Rechtsanwält*innen, Schauspieler*innen oder HDP-Führungskräfte.
Wäre eine ähnliche Aktion gegen nicht-kurdische Journalist*innen, Anwält*innen oder Schauspieler*innen durchgeführt worden, hätte Erdoğans größter Rivale Kemal Kılıçdaroğlu nicht gezögert, eine scharfe Erklärung abzugeben, und die gesamte Opposition hätte sich erhoben. Aber wenn es um die Kurd*innen geht, schweigt auch Erdoğans Gegner Kılıçdaroğlu. Denn er hat Angst, dass er von Erdoğan der „Solidarität mit Terroristen“ bezichtigt werden könnte, wenn er auf diese Operationen reagiert. Manche glauben sogar, dass Erdoğan diese Operationen als Falle für Kılıçdaroğlu aufgestellt hat, damit er darauf reagieren muss, denn die größte Unterstützung für Kılıçdaroğlu gegen Erdoğan kommt von der kurdischen Bewegung, und Erdoğan versucht, sicherzustellen, dass Kılıçdaroğlu die Unterstützung der Kurd*innen verliert, indem er zu den antikurdischen Maßnahmen schweigt. Auch wenn Erdoğan immer noch der Spielmacher zu sein scheint, befindet sich die kurdische Bewegung nicht in einer passiven Position zwischen diesen beiden Rivalen. Tatsächlich hat die HDP bereits klargestellt, dass sie für jeden Kandidaten gegen Erdoğan stimmen wird, egal wer es ist.