„Corona hat geschafft, was der Krieg nicht geschafft hat“ posten einige Damaszener*innen auf Facebook, zusammen mit Bildern von geschlossenen Geschäften. Tatsächlich hatte es seit dem Aufstand 2011 immer wieder Aufrufe gegeben, einen Generalstreik einzuleiten und alle Läden zu schließen. Viele sind davon überzeugt: das hätte das Regime gestürzt. Auch, wenn die jetzigen Ladenschließungen in Damaskus Folge der Corona-Bestimmungen des syrischen Gesundheitsministeriums sind, führen diese Schließungen zu einer weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Situation in den vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten und setzen das Regime weiter unter Druck. Außerdem verdeutlicht die jetzige Situation die Unfähigkeit des Regimes, zu regieren. Doch wie sieht es in den anderen Gebieten Syriens aus?
Die Corona-Maßnahmen verschärfen die wirtschaftliche und politische Krise im Land
Bereits vor Covid 19 hatte sich die wirtschaftliche Lage durch die Bankenkrise im Libanon und die Abwertung der syrischen Lira verschlechtert und dazu geführt, dass „wir zum ersten Mal in all den Jahren gleich sind: allen Menschen, ob in Regime-Gegenden oder in Oppositionsgegenden geht es einfach richtig schlecht“, wie Amir Al-Raqi*, Aktivist aus Deir Azzor, der heute in der nordsyrische Stadt Azaz lebt, im Januar feststellte. „Die Preise unterscheiden sich von Tag zu Tag, manchmal sogar stündlich“, zitiert eine in Damaskus ansässige Journalistin eine Bewohnerin. Sie macht deutlich, wie sehr die Inflation den Alltag der Menschen prägt: man müsse sich nun genau überlegen, was man kaufe und „wir haben das Gefühl, als hätten sich der Krieg und die Epidemie gemeinsam gegen uns verschworen“.
Vom Regime kontrollierte Gegenden: mit neuen Sprachreglungen aus der Krise
Am 22. März wurde Syriens erster Covid-Fall vom Regime bestätigt. Die regimekritische Menschenrechtsorganisation „Syrian Observatory for Human Rights“ hatte jedoch schon zwei Wochen zuvor mit etlichen Ärzten in Damaskus, Tartus, Homs und Lattakia gesprochen. Diese berichteten, dass es zwar Corona-Fälle gebe und auch Tote, sie aber strenge Anweisungen von den Autoritäten bekommen hätten, nicht über einen Ausbruch von Corona zu sprechen. Dass den offiziellen Zahlen des Regimes in der Bevölkerung schon lange keiner mehr glaubt, zeigt ein unter Syrer*innen grassierender Witz: Syrien sei das einzige Land der Welt, welches Corona besiegt habe, in dem es die Krankheit umbenannt habe in „herkömmliche Lungenentzündung“. Inzwischen wurde der 48ste Krankheitsfall durch Corona bekannt gegeben (Stand 13. Mai). Der syrische Gesundheitsminister lässt derzeit verlautbaren, dass die syrische Armee „das Virus“ bekämpfe. Eine syrische Sprachreglung, die oft auch für syrische Oppositionelle benutzt wird.
„Auf jeden Fall sind wir nicht überrascht. Das syrische Regime hat doch schon unser ganzes Leben lang die Wahrheit vor uns versteckt. Am Anfang der Epidemie hat das Regime behauptet, dass es keinen einzigen Fall gäbe, dann wurden die Läden und Schulen geschlossen. Dann kam die Erklärung – und das war nun wirklich nur zum Lachen- es gäbe genau einen Krankheitsfall und genau einen Todesfall. Wir machten daraus einen Witz: die Todesrate an Corona in Syrien sei somit 100%“, so Yasmin aus der südsyrischen Provinz Suwaida und fährt fort: „Eine weitere Sache, die Regime-Befürworter genauso verärgerte wie Regime-Gegner war, dass Bashar Al-Assad keine einzige Rede oder Erklärung während dieser Krise abgegeben hat.“ Die Regierung hat während der Ausgangssperre den Staatsangestellten trotz der Schließung der meisten staatlichen Behörden weiterhin ihre Gehälter bezahlt, aber es gibt kein Sicherungsnetz für Tagelöhner oder Angestellte im privaten Sektor. „Das einzige, was uns bleibt, ist wie immer, takaful“ meint Yasmin. Es ist ein Ausdruck für die gegenseitige soziale Solidarität, die sich durch sogenannte „kostenlose Läden“ zeige, eine kleine Abteilung in den lokalen Supermärkten, die durch Spenden von Ladenbesitzer*innen und Kund*innen aufgebaut wurden. Hier können sich jene Menschen, die es brauchen, kostenlos bedienen.
Nordost-Syrien: Versagen der UN und Wasser als Waffe in der Epidemie
Der türkische Angriff auf Nordsyrien Anfang Oktober 2019 brachte vor allem drei Hauptherausforderungen für die zwei Millionen Menschen im Nordosten des Landes: Ein wichtiger Teil der medizinischen Infrastruktur befindet sich in dem von der Türkei besetzen Gebiet, somit auch die einzige funktionierende PCR (Polymerase Chain Reaction) Test-Maschine in Serêkaniyê / Ras al- Ain, durch welche auf Corona- Viren getestet werden kann, wie das Rojava Information Center berichtet. Dort befindet sich auch die Wasserstation Allouk, die die Hauptwasserquelle bildet für rund 460.000 Menschen in der Provinz al- Hasakeh – der Stadt al-Hasakeh, Tel Tamer und den IDP-Camps Al- Hol und Areesha. Bereits im Februar stellte die Türkei dort das Wasser für die Zivilbevölkerung ab. Erneut wurde das Wasser dann am 29. März abgedreht. Hasakeh Stadt etwa musste seitdem über Wassertrucks versorgt werden, welches nicht mal 50% der lokalen Wasserbedürfnisse stillte. Und anders als in anderen Teilen Syriens, arbeitet die World Health Organisation (WHO) seit Beginn diesen Jahres nicht mehr über Strukturen der Autonomen Selbstverwaltung, da es im Dezember 2019 das offizielle legale Mandat hierfür verloren hat.
Im Dezember 2019 legten Russland und China ein Veto gegen die Verlängerung der seit 2014 geltende UN-Resolution, welche grenzübergreifende humanitäre Hilfe – also nicht über die Regierung in Damaskus laufend - gestattet und somit direkte Hilfe und Koordination dessen durch die UN zur Folge hatte: Über fünf Jahre lang konnten somit von der Opposition gehaltene Gegenden direkt aus den angrenzenden Nachbarstaaten über vier Grenzübergänge versorgt werden. Die Kompromiss-Resolution 2504 schloss am Ende nur den Nordost-Syrien versorgenden Grenzübergang Yaroubiyah zum Irak, genau deswegen wurde die Autonome Selbstverwaltung nicht von der WHO mit Covid 19 Testkits ausgestattet. Auch die 20 Tonnen an medizinischem Equipment, welches die WHO in den Nordosten geschickt hatte, wurden zum größten Teil ins Qamishlo National Hospital gebracht. Dieses steht unter der Kontrolle des syrischen Regimes und ist somit all jenen Bewohner*innen des Nordostens, die Verfolgung durch das Regime zu befürchten haben, nicht zugänglich. „Am Anfang der Epidemie hatte wir genau davor Angst. Es gab nur dort Beatmungsgeräte. Stell dir vor, du wirst dort ins Krankenhaus eingeliefert, musst künstlich beatmet werden, du überlebst … aber dann nimmt dich der syrische Geheimdienst mit“, so Farhad aus Qamishlo. In besagtem Nationalen Krankenhaus verstarb der erste Corona-Tote der Nordost-Region Syriens am 2. April 2020. Eine Probe wurde zur Analyse nach Damaskus geschickt, die Gesundheitsautoritäten der Selbstverwaltung wurden jedoch erst zwei Wochen später von dem positiven Testergebnis in Kenntnis gesetzt, zu spät um effektive Kontaktverfolgung, geschweige denn effiziente Quarantäne für die Familienmitglieder anzuordnen.
Die Politisierung der humanitären Hilfe durch das syrische Regime ist kein neues Phänomen und ist charakteristisch für das Handeln der UN in Syrien. Ein Großteil der humanitären Hilfe geht über Damaskus, und somit bestimmt das syrische Regime ihre Verteilung, was dazu führt, dass es hierbei nicht um needs geht: auch schon in längst wieder unter Kontrolle des Regimes gebrachten Gegenden in Damaskus, wird die Unterlassung der Versorgung mit humanitärer Hilfe als Mittel zur Bestrafung gegen die einst aufständische Bevölkerung eingesetzt. 2019 habe das syrische Regime 50% der Anfragen der UN abgelehnt, um humanitäre Hilfe in Ghouta und Südsyrien zu leisten. Ohne Unterstützung der WHO bleibt der Selbstverwaltung jedoch nicht viel mehr übrig als Quarantäne-Center aufzubauen, Ausgangssperren zu erlassen und bei Verdachtsfällen die Isolierung von Stadtvierteln durchzuführen, wie zuletzt in Hasakeh Stadt geschehen. Der Kurdische Rote Halbmond hat inzwischen ein medizinisches Center, welches ausschließlich für Covid 19 Fälle genutzt werden soll, aufgebaut. Es hat allerdings nur eine die Kapazität für 120 Fälle. Andere Gebiete in der Selbstverwaltung wie Deir Azzor haben laut einer Studie des LSE eine Kapazität von Null. D.h. akute Fälle wären dazu gezwungen, durch mehrere Städte zu fahren, bis sie in Behandlung kommen könnten, mit dem entsprechenden Ausbreitungsrisiko.
Die Ausgangssperre wurde am 11. Mai zum dritten Mal bis Ende Mai, und somit nach Eid (23.5., Fest des Fastenbrechens) verschoben. Allerdings wurden Lockerungen zu den ursprünglichen Restriktionen eingeführt: nun gilt erst nach sieben Uhr abends eine Ausgangssperre und auch in den Läden dürfen nicht mehr als drei Personen anwesend sein. Der Verkehr zwischen den Städten funktioniert wieder. „Aber die Leute sind besorgt, alles ist viel teurer, was vorher 3000 SYP gekostet hat, kostet nun vier Mal so viel. (…) Sie treibt noch mehr als nur Corona um: die russischen Drohungen gegen das Assad-Regime führt dazu, dass viele meiner Freunde, die in Damaskus waren, gerade hierher zurück kommen: sie haben Angst, dass es nun einen unvorhergesehenen Wechsel gibt und wissen nicht, was das für uns alle hier hieße.“
Rif-Aleppo und Idlib: Wenn Infrastruktur zur Waffe wird
Seit April 2019 war die Realität der Zivilist*innen im Süden Idlibs vor allem durch andauernde Bombardierungen geprägt. Über 940.000 der der drei Millionen Bewohner*innen sind alleine seit Dezember 2019 geflohen, eine halbe Million von ihnen bereits zuvor aus anderen Teilen Syriens. Seit dem 5. März 2020 herrscht ein russisch-türkisch ausgehandelter Waffenstillstand – auch wenn dieser in den letzten Tagen eher brüchig zu sein scheint (Stand: 13.05.2020). Viele Zivilist*innen waren aus Idlib in das türkisch-besetzte Nord-Aleppo Umland geflohen, wo sie in einem der über 50 Flüchtlingslager oder oft einfach nur am Wegrand ausharrten, aber wenigstens nicht bombardiert wurden.
Als Corona-Maßnahme hatte die im September 2017 gegründete Salvation Government, die vorgeblich zivile Regierungsstruktur der militärisch dominanten Hai´at Tahrir Al Sham, am 30. März eine zwei-wöchige Schließung aller Übergänge nach Idlib verordnet (Verordnung 91). Dies hatte vor allem Chaos zur Folge: Tausende Menschen, die präventiv aus Angst vor dem Vorrücken des Regimes in die türkisch besetzen Gebiete Nord-Aleppos geflohen waren, versuchten nun zurückzukehren. Jene, die nicht zurückkehren können, weil das Regime ihre Städte und Dörfer eingenommen hatte, wie etwa die Bewohner*innen aus Saraqeb und Maarat An-Numan, demonstrierten in den vergangen Tagen in den Städten Idlib, Azaz und Jarablus: sie richten sich gegen die russische Besetzung ihrer Städte und verlangen ein Recht auf Rückkehr – mit internationalen Garantien. Viele können sich das Leben auf der Flucht kaum leisten, eine Rückkehr ist für sie eine Frage des Überlebens. Über Corona denken sie kaum nach- denn sie sind in einem andauernden Überlebenskampf.
Diskurse in Nordwest-Syriens drehen sich somit nicht erst seit Corona ums Überleben: eine der lokalen Zeitungen – eine Errungenschaft der Zivilgesellschaft der Revolution von 2011- titelte im April: „Lasst uns leben, bevor wir Angst vor Corona haben können“. Der Artikel beschäftigt sich mit der Situation in einem der über 50 Flüchtlingslagern alleine in Rif-Aleppo. Die Personen, die in dem Artikel zu Wort kommen, haben vielschichtige Fluchtgeschichten, einige leben schon seit fünf Jahren unter diesen Umständen, andere kamen mit der jüngsten Fluchtwelle Anfang des Jahres.
„Schon unter ´normalen Umständen´ ist die Situation in den Flüchtlingslagern nicht geeignet für Menschen: meistens gibt es kein fließend Wasser, die Toiletten und das Bad bestehen aus einem Wasserkrug und einem Stück Stoff, welches zum Schutz zwischen zwei Bäumen aufgehängt wird“, berichtet Manal Al-Saadawi, die seit Monaten, seit ihrer eigenen Flucht aus ihrem Heimatort Saraqeb kontinuierlich Wege sucht, andere Geflüchtete zu unterstützen. „Die Leute sind oft so arm, dass ich neulich angefleht wurde, einen Frisör in eines der Lager zu schicken, damit er den Kindern die Haare schneidet, weil ohne Wasser sonst die Läuse nicht einzudämmen sind“. Mit Corona steht nun die nächste Herausforderung an: Nawal und fünf andere Frauen fuhren bereits Anfang April in verschiedene Camps entlang der türkisch-syrischen Grenze. Es sind kleine Camps, oft einfach einige Zelte am Wegrand, weiter haben es die Bewohner nicht geschafft. Vorher hat die Frauengruppe Broschüren gedruckt, Masken genäht und Geld gesammelt, um Desinfektionsmittel zu kaufen. Sie gehen in die Camps und versuchen die Menschen über die Gefahr eines Ausbruchs von Corona zu informieren: „Wir haben keine andere Wahl, als das zu verhindern. Aber „stay at home“ ist keine Wahl für uns, wir müssen den Menschen Lösungen vermitteln, die sie auch umsetzen können“.
Die Lokalregierung von Hai´at Tahrir Al Sham ist auf diese unabhängigen Akteur*innen im Gesundheits- und des medizinischen Bereich angewiesen. Denn die medizinische Infrastruktur in Idlib wird fast ausschließlich von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zur Verfügung gestellt. Doch auch diese Einrichtungen wurden durch russische und syrische Luftschläge als Waffe gegen die Zivilbevölkerung zerstört: alleine seit Dezember 2019 wurden 84 medizinische Einrichtungen zerbombt oder waren gezwungen zu schließen.
Mit dem Corona-Song durch die Epidemie
Angesichts dessen bleibt nur die Möglichkeit der präventiven Aufklärung. Auch im „Language Home“ der Hilfsorganisation Mulham Volunteering Team wird mit dem auf Englisch selbst-gedichteten Corona-Song „How to defeat the Corona-Virus“ versucht, so vielen Menschen wie möglich Wissen übder das Virus zu vermitteln - und dabei gleichzeitig den Kindern Englisch beizubringen.
Die militärische Offensive des Regimes und seine Folgen
Wenn nun die Angriffe des Regimes und Russlands gegen Süd-Idlib wieder losgehen, wie es sich in den letzten Tagen angedeutet hat, und wieder Hunderttausende auf der Flucht sind, dann wird dies die Verbreitung des Virus noch vereinfachen und zwar in allen Teilen des Landes und über die Grenzen hinweg: die Menschen werden versuchen in die Türkei oder auch den Nordosten des Landes zu fliehen. Die Offensive wird nicht nur die Verbreitung des Virus zur Folge haben, es wird auch eben jene zivilgesellschaftlichen Strukturen, die aufgrund der jahrelangen Erfahrung der Selbstorganisation, das Vertrauen der Menschen haben und derzeit aktiv und effizient soziale Solidarität und Aufklärungskampagnen praktizieren sowie die medizinische Grundausstattung zur Bekämpfung des Virus aufbauen, vernichten.
*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.