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„Die Ungleichheiten in Nord und Süd sind miteinander verflochten“

Entwicklungssoziologin Karin Fischer im Gespräch mit Martina Neuwirth (VIDC Global Dialogue)

VIDC Online Magazine Spotlight

Dieser Artikel wurde im VIDC Online Magazin Spotlight September 2022 veröffentlicht. Wenn Sie den vierteljährlich erscheinenden Spotlight, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

Österreichische Entwicklungstagung 2022

Die 8. Österreichische Entwicklungstagung (11.-13.11.2022, JKU Linz) widmet sich dem Thema „Globale Ungleichheiten“, zwei von VIDC Global Dialogue mitorganisierte Foren: „Ungleichheit gegenSteuern“ und „Ungleichheit, Migration und Klimagerechtigkeit“.

Gesprächspartner*innen


Karin Fischer war von 2016 bis Juni 2022 Konsulentin des VIDC im Bereich Internationale Wirtschaft. Sie leitet den Arbeitsbereich Globale Soziologie und Entwicklungsforschung am Institut für Soziologie an der Johannes Kepler Universität Linz.

Martina Neuwirth ist Referentin am VIDC für den Bereich Internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählt die internationale Steuerpolitik sowie Steuergerechtigkeit.

Foto auf Buchcover „Globale Ungleichheit." (Hg. Fischer & Grandner, 2022)

Foto auf Buchcover „Globale Ungleichheit." (Hg. Fischer & Grandner, 2022)

Neuwirth: Du beschäftigst dich schon lange mit dem Thema Ungleichheit. Unter anderem hast du einen lesenswerten Sammelband zur Globalen Ungleichheit mit herausgebracht. Erst im Juni 2022 ist eine aktualisierte 2. Auflage erschienen. Im Untertitel des Bandes heißt es, dass es da um Zusammenhänge zwischen Kolonialismus, Arbeitsverhältnissen und den Naturverbrauch geht. Was bedeutet das konkret?

Fischer: Das verdeutlicht zunächst einmal, dass Ungleichheit ein komplexes Phänomen ist und sich in vielen Feldern zeigen kann. Einkommen, Vermögen, Bildung fallen uns vielleicht sofort ein. Aber Ungleichheit zeigt sich auch bei politischen und sozialen Rechten, beim Zugang zu Information, im Ressourcenverbrauch, bei Unterschieden im Status und Ansehen und vielem mehr. Wir können annehmen, dass es Verbindungen zwischen den verschiedenen Formen von Ungleichheit gibt – aber vielleicht nicht bei allen und schon gar nicht automatisch. Das macht die Beforschung von Ungleichheit zu einer herausfordernden Angelegenheit. 
Die Ungleichheitsformen lassen sich in Bezug auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen – zum Beispiel zwischen sozialen Klassen und Geschlechtern, zwischen Minderheiten und der Mehrheitsgesellschaft – und auf verschiedenen räumlichen Ebenen untersuchen, etwa zwischen Stadt und Umland, zwischen Ländern, Ländergruppen und zwischen Nord und Süd. Zumindest wenn wir die Daten haben – und das ist oft nicht der Fall. 
Was uns in der Ungleichheitsforschung besonders herausfordert, ist die Tatsache, dass wir es nicht nur mit verschiedenen, sich überlappenden Ungleichheitsformen zu tun haben, sondern dass sich die Ursachen für Ungleichheiten nicht an nationale Grenzen halten. Anders gesagt: lokale, nationale und globale Dynamiken überlagern sich. Das wird auf den ersten Blick oft nicht deutlich. Wir sind ja gewohnt, Ungleichheit vor allem lokal – dort wo wir leben, im Nationalstaat, vielleicht noch auf EU-Ebene – wahrzunehmen. Dabei ist ganz viel von dem, was lokal passiert, überregionalen Dynamiken geschuldet. Bei sozialökologischen Ungleichheiten wird das offensichtlich: das, was an einem Ort passiert, hat Auswirkungen an anderen Orten. Und das trifft auch auf globalisierte Finanzmärkte, Immobilienmärkte, Grenz- und Migrationsregime, die internationale Arbeitsteilung, internationale Handelsverträge und Steuer- und Investitionsabkommen zu. Soziologisch ausgedrückt: Wir leben in lokalen Sozialräumen, deren Ungleichheitsstrukturen weltgesellschaftlich und weltwirtschaftlich eingebettet sind. Das Verdienst des VIDC ist es, Ungleichheitsverhältnisse im globalen Maßstab zum Thema zu machen. Eine wichtige Aufgabe. Denn das verdeutlicht Zusammenhänge, die ich mit einer „nationalen“ oder einer europäischen Brille nicht entdecke. Und dass der Kolonialismus im Untertitel des Sammelbandes steht, verweist darauf, dass Ungleichheit Geschichte hat. 

Neuwirth: Bleiben wir beim Kolonialismus. Nach dem 2. Weltkrieg, insbesondere in den 1960er Jahren, als die meisten Länder in Afrika unabhängig wurden, gab es eine Aufbruchstimmung. Die „Dritte Welt“ wollte abseits des Ost-West-Konflikts einen eigenen Entwicklungspfad einschlagen. Als Bruno Kreisky vor 60 Jahren das VIDC gründete, tat er das gemeinsam mit Persönlichkeiten der „Dritten Welt“, wie Tom Mboya aus Kenia oder Ahmed Ben Salah aus Tunesien. Das Institut sollte zu einer friedvollen Zusammenarbeit zwischen den „Industrieländern“ und den „Entwicklungsländern“, wie man damals sagte, beitragen. Heute kann man sagen, dass der „Dritte Weg“ gescheitert ist. Mit Ausnahme einiger “Emerging Economies” in Asien, konnten sich ärmere Staaten kaum aus der Abhängigkeit des „reichen Nordens“ befreien. Woran liegt das? Übertreiben diejenigen, die auf neokoloniale Strukturen verweisen? Schließlich ist der Kolonialismus doch seit mehr als 60 Jahren Geschichte.

Fischer: Ein von mir sehr geschätzter Wirtschaftshistoriker, Paul Bairoch, hat gesagt: Die Kolonialherrschaft ist nicht der einzige Grund für den Aufstieg des Westens. Aber sie hat dazu beigetragen, dass die kolonisierten Länder arm geblieben und ab einem bestimmten Zeitpunkt noch ärmer geworden sind. Das Ummodeln dieser Gesellschaften und ihre Zurichtung auf die Bedürfnisse der politischen und wirtschaftlichen Zentren hat Folgen. Das zementiert einen bestimmten „Entwicklungsweg“ ein und verengt Handlungsräume. Wir sind damals wie heute mit einem von ungleichen Machtbeziehungen geprägtem Weltmarkt und einer politischen Ungleichheitsordnung konfrontiert. Genau darum geht es, wenn wir über Ungleichheit reden: um Machtasymmetrien. Die zweite Seite der Medaille hast du angesprochen: die Frage der politischen Selbstorganisation. Die „Dritte Welt“ hat vielleicht auch in den 1960er und 70er Jahren, als sie eine neue Weltwirtschaftsordnung auf die politische Agenda gesetzt hat, nicht mit einer Stimme gesprochen. Aber heutzutage sind wir von einer solchen einigenden, progressiven politischen Bewegung der „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) leider weit entfernt.

Neuwirth: Manche Phänomene bzw. Probleme diskutieren wir ja auch in Österreich. Ich denke da etwa an die Arbeitsausbeutung von Migrant*innen, beispielsweise in der Pflege oder der Ernte. Gibt es einen Globalen Süden auch bei uns in Europa?

Fischer: Ja. Ungleichheit reproduziert sich auf jeder räumlichen Ebene, in jedem Land, in der EU – überall gibt es Kern und Rand, oben und unten, drinnen und draußen. Das Beispiel, das du genannt hast, zeigt aber auch, dass der Kolonialismus immer noch Ungleichheit in unseren Alltag transportiert. Er begründet auch heute noch den Wert geleisteter Arbeit: Die Kosten für migrantische Arbeit sind möglichst gering zu halten. Auch die sozialen und staatsbürgerlichen Rechte derer, die sie ausführen, sind zu begrenzen.

Ich will Ungleichheit hierzulande nicht kleinreden. Natürlich leben wir in ungleichen Gesellschaften, und das in steigendem Ausmaß seit den 1980er Jahren. Aber zugleich leben wir, und damit meine ich tatsächlich „wir“, die Gesellschaften des Globalen Nordens, auf Kosten von Land, Rohstoffen und Ressourcen, die anderswo ausgebeutet werden, und auf Kosten billiger Arbeit, die anderswo oder auch hier erbracht wird. Das sorgt für den ständigen Zufluss billiger Waren. Anders wäre es angesichts steigender sozialer Ungleichheit und prekärer Beschäftigungsverhältnisse in Österreich gar nicht möglich, das Konsumniveau und die politische Stabilität zu erhalten. Darüber hinaus bringt das Leben in einem relativ reichen Land Wohlfahrtsgewinne auch für ärmere Schichten, weil es einen öffentlichen Sektor gibt, Sozialleistungen, Sicherheit. Und das vergrößert nochmals die Ungleichheit zwischen den Lebensbedingungen in relativ armen und relativ wohlhabenden Ländern.

Neuwirth: Welche Maßnahmen könnten Ungleichheiten verringern, die vor allem die Menschen im Globalen Süden benachteiligen? Und welche Rolle siehst du da für Organisationen der Zivilgesellschaft wie das VIDC?

Fischer: Eine globale Perspektive in der Ungleichheitsforschung fordert dazu auf, soziale und räumliche Ungleichheiten zusammenzudenken. Das heißt unter anderem, soziale Ungleichheit in unseren Gesellschaften zu adressieren und die globale Ungleichheitsordnung nicht zu vergessen. Ich behaupte, beides gehört zusammen. Immer und überall geht es darum, das Davonziehen der „Oberen“ zu verhindern, die „Unten“ zu stärken und die Ausgeschlossenen zu integrieren. Ich finde die Traditionslinie des VIDC ungebrochen wichtig, nämlich den Blick auf den Süden, auf die „Ränder“ zu richten und Stimmen aus dem Globalen Süden stark zu machen. Das hat man mal „Third Worldism” genannt. Ich stehe zu dieser radikalen Dritte-Welt- oder Süd-Perspektive, auch in der Ungleichheitsforschung. Das schließt mit ein, Ungleichheitsstrukturen in Nord und Süd als verflochtene Geschichte zu sehen (20. September 2022).

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