SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

Libanon: Ein täglicher Überlebenskampf

Von Helmut Krieger

VIDC Online Magazin Spotlight

Dieser Artikel wurde im VIDC Online Magazin Spotlight Oktober 2021 veröffentlicht. Wenn Sie den vierteljährlich erscheinenden Spotlight, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

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Autor*in


Helmut Krieger ist Senior Lecturer am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien sowie Konsulent des VIDC. Aktuell leitet er das Forschungsprojekt KnowWar, eine Kooperation zwischen der Universität Wien, dem Syrian Center for Policy Research, Mousawat, dem Center for Development Studies an der Birzeit University sowie dem Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung an der Universität Klagenfurt.

© Marwan Tahtah/ The Public Source

© Marwan Tahtah/ The Public Source

Ein Jahr nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut mit mehr als 200 Toten, über 6.000 Verletzten und der Zerstörung von annähernd 30.000 Häusern hat sich die umfassende Krise des Landes weiter in den Alltag der Bevölkerung eingebrannt. Seit der Explosion von August 2020, einer der größten nicht-nuklearen Explosionen aller Zeiten, hat die libanesische Währung an die 90 Prozent ihres Wertes eingebüßt, sodass etwa der Mindestlohn im Land von 675.000 Pfund gegenwärtig nur mehr ungefähr 35 US-Dollar entspricht. Geht man davon aus, dass eine vierköpfige Familie zumindest 150 US-Dollar monatlich benötigt, um grundlegende Bedürfnisse auch nur ansatzweise sicherstellen zu können, lässt sich erahnen, was Hyperinflation und ökonomische Krise im Alltag bedeuten.

Die Katastrophe des Alltags

Wenn die Weltbank davon spricht, dass die ökonomische Krise des Landes eine der schwersten eines Staates in Friedenszeiten weltweit seit 1850 ist, bedeutet das nicht nur, dass mittlerweile mehr als drei Viertel der Bevölkerung im Libanon gezwungen wird in Armut zu leben. Es bedeutet auch eine grundlegende Versorgungskrise mit Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs. Faktisch gibt es – wenn überhaupt noch – nur mehr ein bis zwei Stunden Strom am Tag, selbst dem etablierten System von privaten Stromgeneratoren fehlt mittlerweile der Diesel. Kühlketten können nicht aufrechterhalten werden, Krankenhäuser kämpfen mit permanenten Stromausfällen und Pumpstationen müssen abgeschaltet werden, sodass mittlerweile die Wasserversorgung in vielen Gebieten des Landes zusammengebrochen ist. Überdies bedeutet die umfassende Abhängigkeit des Landes von Importen, dass Medikamente nicht mehr erhältlich sind, Brot für die Mehrheit der Bevölkerung beinahe unerschwinglich geworden ist und der Versorgungsengpass mit Benzin dazu führt, dass sich kilometerlange Staus an den verbliebenen geöffneten Tankstellen bilden. Unter diesen Bedingungen wird der Alltag der Bevölkerung zu einem permanenten Kampf um die wenigen Ressourcen und Grundbedarfsgüter, so sie denn überhaupt noch leistbar sind. Eine derartige Situation führt auch zu verstärkter Emigration. Einerseits sind es hochqualifizierte Arbeitskräfte im Dienstleistungsbereich, Student*innen und Intellektuelle, die einen legalisierten Weg vorwiegend nach Europa in Angriff nehmen, und andererseits verwenden Marginalisierte ihr letztes Geld dafür, dem Land in kleinen Booten in Richtung Zypern zu entfliehen. Ein derartiger Braindrain wird zwangsläufig die Situation im Land durch den Verlust an qualifizierten Arbeitskräften und Wissen weiter verschärfen.  

Oligarchie und Geopolitik

Wie reagiert die herrschende Klasse auf den ökonomischen Zusammenbruch des Landes? Nachdem die libanesische Oligarchie noch schnell vor dem Ausbruch der Krise binnen weniger Monate an die 20 Milliarden US-Dollar auf ausländische, sprich europäische, Konten transferiert hatte, begann sodann die damalige provisorische Regierung im Jahr 2020, den Import von grundlegenden Gütern wie Weizen, Treibstoff oder Medikamente zu subventionieren. Zusammen mit der Repression der Sicherheitsapparate sollte dieses Subventionsprogramm dazu dienen, die massenhafte Protestbewegung im Land einzudämmen und eine vorübergehende ökonomische Beruhigung der Lage zu erreichen. Erreicht wurde genau das Gegenteil. Die Subventionierung von Importen von Grundbedarfsgütern wurde nicht nur schlecht administriert, sondern führte auch zu einer Befeuerung des Schmuggels nach Syrien und zum Horten von Waren wie Benzin und Medikamenten, um aufgrund der Hyperinflation einen besseren Verkaufspreis erzielen zu können. Faktisch wurde damit der Versorgungsengpass mit lebenswichtigen Gütern weiter verschärft. Der andere Grund für diese Katastrophe des Alltags liegt in den mangelnden Devisenreserven der Zentralbank. Die Finanzierung der Importe mit US-Dollar ließ die Devisenreserven noch weiter schrumpfen, sodass die Zentralbank vor einigen Wochen das Ende des Subventionsprogramms verkündete, nachdem sie einige Jahre zuvor noch wohlwollend darüber hinweggesehen hatte, als die Oligarchie ihre Gelder von den diversen libanesischen Banken abzog. Mit diesem Schritt mussten die Importe massiv gedrosselt werden.

Auf politischer Ebene versuchten die verschiedenen Machtblöcke im Land währenddessen einen Machtkompromiss so zu schmieden, dass eine neue Regierung zustande kommen kann. Als am 10. September die neue Regierung unter Premierminister Najib Mikati, einem der reichsten Geschäftsmänner des Landes, vorgestellt wurde, wurde klar, was Machtkompromiss bedeutet: Vor allem westliche Staaten wie Frankreich, die USA und Großbritannien sowie Regionalmächte wie Saudi-Arabien versuchen ihre libanesische Oligarchie an den Schalthebeln der Macht zu belassen, um die vom Iran unterstützte Hizbullah als zentralen politischen Faktor im Libanon einzudämmen. Im Gegensatz zur Rhetorik des französischen Präsidenten, der im Stil eines alten Kolonialherren den Kampf gegen eine korrupte Machtclique im Libanon verkündete, wird genau diese von westlichen Staaten unterstützt.

Der nun erreichte Machtkompromiss bleibt instabil, soll jedoch offensichtlich die Voraussetzung schaffen, den vollständigen Zusammenbruch des Landes zu verhindern und eine herrschende Elite als Block an der Macht abzusichern. Dazu werden auch Milliardenkredite des Internationalen Währungsfonds dienen, um die sich die neue Regierung bereits eifrig bemüht. Dass dessen Kreditauflagen zu einer weiteren Verschärfung der ökonomischen Verhältnisse führen wird, ist dabei allen vollkommen klar. Abgefedert werden soll eine derartige weitere Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation durch direkte Zahlungen an die ärmsten 500.000 Familien des Landes im Umfang von ca. 90 US-Dollar pro Monat für eine Familie. Unschwer ist bei diesem Programm zu erahnen, wie die einzelnen Regierungsparteien sich als Garant der Interessen ihrer eigenen sozialen Basis inszenieren werden, nachdem sie eben diese Basis in die Katastrophe des Alltags geführt haben.

Der kommende Protest

Die Protestbewegung der letzten Jahre wurde von der umfassenden ökonomischen und sozialen Krise überrollt und erscheint ob der ausbleibenden Veränderungen demoralisiert. Obwohl überdies viele Aktivist*innen von der alltäglichen Organisierung des Alltags aufgesogen werden, wenn sie das Land nicht schon verlassen haben, ist eines offensichtlich: der weitere Verlauf der Krise wird verschiedene Proteste nach sich ziehen. Allerdings wird eine kommende Protestbewegung aufgrund des Braindrain eine andere soziale Zusammensetzung haben – und damit wahrscheinlich auch andere Protestformen und Stoßrichtungen entwickeln (21. September 2021).   

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