SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

'Alle heißt alle!' Aktuelle soziale Kämpfe im Irak und dem Libanon

Bericht von der Podiumsdiskussion am 20. Jänner 2020

Vortragende


Janan Aljabiri

ist irakische Feministin und seit 2012 Vorsitzende der Kurdish and Middle Eastern Women’s Organization in Großbritannien. Derzeit vertritt sie auch die International Federation of Iraqi Refugee im Irak.

Lara Bitar

ist Gründungsherausgeberin von The Public Source, einer unabhängigen Medienorganisation mit Sitz in Beirut, die sich auf investigativen Journalismus spezialisiert hat. Sie lebt und arbeitet in Beirut als Forscherin, Nachrichtenproduzentin und Autorin.

Schluwa Sama

ist irakisch kurdische Schriftstellerin und Doktorandin an der University of Exeter, Großbritannien. Ihre Arbeitsschwerpunkte konzentrieren sich auf die politische Ökonomie des Irak und Kurdistans und den ländlichen Raum.

Helmut Krieger

ist Sozialwissenschafter, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Senior Lecturer am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien sowie Konsulent des VIDC.

Autorin

Natalie Luftensteiner

Kooperation


Die Paneldiskussion ‚All means all!‘ vor 150 Besucher*innen widmete sich den derzeitigen Entwicklungen und sozialen Bewegungen im Irak und im Libanon. Die gegenwärtigen Proteste im Irak und Libanon ordnet Magda Seewald in ihrer Einleitung als Fortsetzung der Proteste seit 2010/11 ein. Gemeinsamkeiten in den beiden Ländern sieht sie in der Implementierung neoliberaler Politiken, den korrupten Eliten und den auf Patronage basierenden politischen Systemen entlang religiöser Zugehörigkeiten, was schließlich zur Verarmung eines großen Bevölkerungssektors führe. Helmut Krieger, Moderator der Diskussion, betonte in seiner Moderation, dass der Slogan ,All of them means all of them‘, der sich im Libanon gegen die politischen Eliten richtet, als Ausdruck der sozioökonomischen als auch der politischen und sozialen Lage im Land verstanden werden könne. Gleichzeitig entwickelte sich im Oktober letzten Jahres, eine Protestbewegung, die sich ausgehend von Bagdad hauptsächlich in den irakischen Süden erstreckte, so Krieger. Gefordert wurden vor allem inklusive sozioökonomische und politische Rechte für die Bevölkerung.

Proteste im Libanon

Lara Bitar rekapitulierte die Entstehungsgeschichte und den Kontext der gegenwärtigen Protestbewegung im Libanon, über die in westlichen Medien unter dem Titel ,WhatsApp Revolution‘ berichtet wurde. Am 17. Oktober 2019 verbreiteten sich Gerüchte, der Telekommunikationsminister würde eine Steuererhebung bis zu 6$ pro Monat für Anrufe über Kurznachrichtendienste wie WhatsApp, Viber, Signal usw. planen. WhatsApp sei ein viel verwendetes Medium im Libanon, gerade weil die Kosten für die reguläre Telekommunikation für die Mehrheit der Bevölkerung kaum erschwinglich seien. Die Kombination mit weiteren Steuererhöhungen kurbelten die Wut der Bevölkerung, die auf den libanesischen Straßen ohnehin schon über Monate spürbar war, weiter an. Seit Beginn des Jahres gab es verschiedenste Formen von Mobilisierung. So demonstrierten Angestellte des öffentlichen Sektors zu Jahresbeginn gegen geplante Austeritätsmaßnahmen. Blicke man noch weiter zurück, erinnere man sich an die Massenmobilisierung im Jahr 2015, die unter dem Namen ,Anti-Garbage‘ Proteste bekannter wurde. Diese Demonstrationen hielten für Monate an, resultierten allerdings in keinen konkreten Veränderungen im Umgang mit der Müllkrise. Lara Bitar beurteilt die Situation schließlich als Ressentiment gegenüber der akkumulierten Unverantwortlichkeit des libanesischen Staates. Die Bevölkerung reagiere darauf seit Jahren mit zahlreichen kollektiven Protestaktionen, die eine Kombination von Sit-ins, Straßenblockaden und Streiks seien und sich letztendlich seit 2017 intensivierten. Wenige Tage vor dem 17. Oktober 2019 entflammten im Libanon außerdem großflächige Waldbrände, die zu starken Zerstörungen führten. Wieder versagte die libanesische Regierung bei der Eindämmung. Während sich die ökonomische Situation im Lande weiterhin verschlechterte, griff das Regime härter gegen die informelle Wirtschaft durch. Die Kombination all dieser Faktoren hätte schließlich zu den Protesten geführt. Die Arbeiter*innenklasse sei ursprünglich die Trägerin der Proteste gewesen. Damit verbunden hätten sich gerade in den ersten Tagen auch militantere Aktionen und direktere Konfrontationen zwischen Protestierenden und staatlichen Sicherheitskräften beobachten lassen. Bereits nach den ersten drei Tagen habe sich allerdings eine stärkere Mobilisierung der Mittelklasse erkennen lassen. Mit der Übernahme der Mittelschicht ging eine weniger militante Protestform einher, so Bitar. Während der letzten drei Monate seien öffentliche Räume zurückerobert worden, anhand jener sich eine sehr offene Protestkultur entwickelte, in der unter anderem Zukunftsvorstellungen für die Gesellschaft und das politische System diskutiert werden würden. Zusammengefasst meint Lara Bitar, reagiere das Regime nicht auf den Ärger und die Bedürfnisse der Bevölkerung, allfällige Reformvorschläge würden misslingen, während sich die ökonomische Lage in den letzten drei Monaten zunehmend verschlechtert hätte.

Ökonomische Hintergründe im Irak

Janan Aljabiri sieht die Ursache für die gegenwärtigen irakischen Aufstände in der hohen Arbeitslosigkeit. 2003 adaptierte das irakische Regime neoliberale Politiken. Dies führte zu einer Ausdehnung des Privatsektors, die auf eine Vereinbarung mit den USA, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zurückgehe. Der wichtigste Wirtschaftssektor, nämlich der private Ölsektor, würde im Irak nur ein Prozent der gesamten Arbeitskräfte von rund elf Millionen, beschäftigen. Während der öffentliche Sektor davon vier Millionen beschäftigen würde. Der Rest der verfügbaren Arbeitskräfte sei entweder erwerbslos oder würde sich in prekären Arbeitsverhältnissen befinden. Vor allem junge hochqualifizierte Menschen seien davon betroffen. Die Problematik sieht Janan Aljabiri vor allem darin, dass der Irak per se ein reiches Land sei, doch die Wohlstandsverteilung auf Klientelismus beruhe. Das politische System konstituiert sich durch verschiedenste Parteien, wobei jeder Partei ein eigenes Ministerium zugeteilt wird. Die Einnahmen aus dem Ölsektor werden unter den Ministerien verteilt. Der hohen Korruption im Lande sei es geschuldet, dass die verteilten Budgets schlussendlich in den Taschen der politischen Parteien landen würden, statt in Leistungen für die Bevölkerung, wie Elektrizität, Wasser, Gesundheitsversorgung. ,All of them means all of them‘ würde diesen Missstand zum Ausdruck bringen. Es gäbe keine Arbeitsplätze, und wenn doch, würden sie in klientilistischer Manier im Gegenzug für politische Loyalität vergeben werden. In der Unzufriedenheit der irakischen Bevölkerung ließe sich eine Kontinuität erkennen. Als 2011 erstmals eine große Massenmobilisierung stattfand, beeinflusst vom so genannten ‚Arabischen Frühling‘, stand die Reform des Systems im Mittelpunkt der Forderungen. Im Sommer 2015 formierte sich ausgehend von Basra eine Protestbewegung, die Strom forderte, als die Temperaturen bis zu 50 Grad erreichten. 2015 kam unter den Protestierenden erstmals die Verbindung zwischen politischem Islam und Religion auf, indem sie kritisierten wie staatliche Dienstleistungen im Namen der Religion zurückgehalten wurden. 2018 kam es erneut in Basra zu einer sich ausdehnenden Massenmobilisierung, initiiert von jungen hochqualifizierten Arbeitslosen. Die Aktionsformen hätten sich erweitert, illustriert wurde dies unter anderem am Beispiel der Belagerung von Ölanlagen. 2019 wurden über drei Monate hinweg wiederum Sit-ins von hochqualifizierten jungen Menschen organisiert. Die aggressive Gewaltanwendung seitens der Regierung seit dem ersten Tag der Proteste, mit denen die Demonstrierenden konfrontiert waren, führte zu mehr Mobilisierung, so dass heute Millionen auf die Straßen gehen würden. Die Regierung hätte laut Janan Aljabiri vier Taktiken der Repression angewendet: jene der physischen Gewalt, es gäbe bereits 700 Tote und 4000 Verletzte. Demonstrierende organisieren ihre Proteste, indem sie in Zelten große Plätze belagern. In der Nacht des 28. November wurden etwa 60 Protestierende in Zelten getötet. Janan Aljabiri nennt dies die Taktik des Massakers. Die dritte Taktik sei es, Krieg zwischen dem Iran und den USA zu kreieren. Die Aufmerksamkeit solle vom Aufstand auf die Spannungen zwischen den USA und dem Iran verschoben werden. Nach der Tötung des iranischen Offiziers Soleimani hätte sich die Situation vorerst beruhigt. Anlässlich dessen würde die Regierung allerdings die USA wieder als Hauptproblem identifizieren, in der Hoffnung von der eigenen Legitimitätskrise abzulenken. Aljabari bezeichnet sich dies als vierte Taktik.

Hoher Grad an Selbstorganisation

Schluwa Sama unterstrich zudem den politökonomischen Hintergrund des nach 2003 unter der Führungsriege der USA implementierten Systems im Irak. Ökonomische Interessen in der Region, vor allem am Ölreichtum, würden klientilistische patrimoniale Strukturen etablieren. Die Betonung der bewussten Institutionalisierung eines solch politischen Systems sei hinsichtlich der westlichen diskursiven Stereotypisierung über die irakische Gesellschaft besonders wichtig. Gerade jüngere Menschen würden sich im Irak von den politischen Parteien nicht mehr repräsentiert fühlen. Die von den Campierenden am Tahrir Platz beachtliche selbstorganisierte zivile Infrastruktur, die von medizinischer Versorgung bis zu eigenen Sicherheitskräften reicht, zeige einen Lernprozess aus den Erfahrungen früherer Protestbewegungen. Seit dem 1. Oktober 2019 hätte sich ein dynamischer Prozess entwickelt, der zu besseren Vernetzungsmechanismen und Widerstandstaktiken führe. Der Protest bestehe aus verschiedensten Bevölkerungssegmenten, der hohe Grad an Selbstorganisierung führe zu veränderten Klassenbeziehungen, die sich auch in respektvolleren Umgangsformen äußern würden, weil sie sich selbst als kollektiven Teil der Revolution begreifen würden.. Widerstand in Form von Boykott richte sich auch gegen ausländische Produkte. 2003 setzte eine verstärkte Privatisierungswelle, sowohl in der Ölproduktion, die hauptsächlich auf den globalen Markt ausgerichtet sei, als auch im Agrarsektor ein. Die Protestierenden seien als Produzent*innen und Konsument*innen lange Zeit in einem Abhängigkeitsverhältnis gehalten worden, dessen Auflösung in den Protesten hohe Priorität hätte.

Frauen und die Proteste

Angesprochen auf die Bedeutung von feministischen Initiativen und Frauenbewegungen erläuterte Lara Bitar, dass westliche Medien protestierende Frauen im Libanon zum Teil fetischisiert, als sonderbar dargestellt haben. Aus feministischer Perspektive hält Lara Bitar fest, dass die starke Einbindung von Frauen für Feminist*innen vor Ort ganz und gar keine Ausnahme darstellen würde, sondern auch schon in vergangenen Kämpfen um soziale Gerechtigkeit integraler Bestandteil von libanesischen Protestbewegungen war. Das bedeute natürlich noch nicht, dass dieses Verständnis von allen Demonstrierenden geteilt werden würde, doch die feministische Bewegung innerhalb der Proteste sei sehr sichtbar. Janan Aljabiri wiederum lenkte den Blick auf die kontinuierliche Verschlechterung der Situation für Frauen im Irak unter dem neuen Regime. Nach 2003 etablierten sich jedoch einige Frauenorganisationen mit dem selbsterklärten Ziel, Frauenrechte und Gleichheit zu fördern. Während der Proteste 2019 würden sie sich aktiv beteiligen, wobei sie sich einem erhöhten Risiko von Repressionen und Attacken aussetzen würden.

Ausblicke

Lara Bitars Aussichten für die Proteste im Libanon wären noch vor wenigen Wochen positiver gewesen. Aufgrund der eskalierenden Situation vermutet sie für die kommende Zeit einen noch repressiveren Sicherheitsapparat. Die aggressive gewalttätige Konfrontation, ausgehend von den Sicherheitskräften, liest sie als Signal für die Deklarierung eines Krieges gegen die Demonstrationen. Dennoch seien positive Entwicklungen hervorzuheben. Erstens dringe allmählich durch, dass es sich nicht um einen Religions- sondern um einen Klassenkonflikt handle. Zweitens sei die junge Generation, als Trägerin der Proteste, nicht wie ihre Elterngeneration von Bürgerkriegstraumata belastet. Deshalb würden sie mit Entschlossenheit und Hartnäckigkeit für ein würdevolles Leben im Libanon kämpfen. Etwas hoffnungsvoller schätzt Schluwa Sama die Perspektive für die irakischen Proteste ein. Die Menschen würden weiterhin kämpfen, gerade weil es keine Alternative geben würde. Die hohen Verluste und das Ausmaß der Gewalt würden keinen Weg zurück erlauben. Ähnlich wie Lara Bitar für die libanesische Protestbewegung bilanzierte, würde sich auch durch die irakischen Demonstrationen eine neue kollektive Identität herausbilden, die nicht mehr auf konfessionellen Kategorien beruhe. Solange das ökonomische Problem nicht geklärt wird und die Bedürfnisse der Menschen weiterhin ignoriert werden, fügt Janan Aljabiri hinzu, würden Revolten kontinuierlich wiederkehren.

Spotlight - das Online Magazin des VIDC

Sie wollen Spotlight, das Online Magazin des VIDC, sowie Einladungen zu Veranstaltungen und Dokumentationen erhalten?
Bitte tragen Sie Ihre E-Mail-Adresse ein: 

Bitte warten...

Klicken Sie für eine verbindliche Anmeldung auf den Link im Email.
Diese Vorgangsweise stellt sicher, dass niemand Ihre Email-Adresse missbrauchen kann.