Die Erneuerung der palästinensischen Bewegung. Eine transnationale Einheit von unten?

Bericht vom Webinar am 28. Oktober 2021 mit Yara Hawari, Ahmed Abu Artema und Mohammed El-Kurd

Medien

Rede von Mohamed El-Kurd vor der UNO am 30.11.2021

Mitwirkende

Yara Hawari

ist Senior Analystin bei Al-Shabaka: The Palestinian Policy Network. Sie promovierte im Fach Politik des Nahen Ostens an der Universität von Exeter, wo sie unterrichtete und weiterhin als Honorary Research Fellow tätig ist. Neben ihrer akademischen Arbeit, die sich auf Indigenous Studies und Oral History fokusiert, schreibt sie regelmäßig als politische Kommentatorin für verschiedene Medien, darunter The Guardian, Foreign Policy und Al Jazeera English.
 

Ahmed Abu Artema

ist ein palästinensischer Schriftsteller und Friedensaktivist. Er ist Autor des Buches "Organisiertes Chaos" und hat zahlreiche Artikel u.a. für das Journal of Palestine Studies, The Nation und die New York Times verfasst. Seine Familie wurde 1948 aus ihrem Haus im Ramle vertrieben, er wurde 1984 in Rafah, Gaza, geboren. Ahmed Abu Artema ist einer der Gründer des Great March of Return, einer Reihe von Demonstrationen, die seit 2018 an der Grenze zwischen Gaza und Israel stattfinden und das Recht auf Rückkehr fordern.
 

Mohammed El-Kurd

ist ein international tätiger und preisgekrönter Schriftsteller aus Jerusalem, dem besetzten Palästina. Seine Werke wurden in zahlreichen internationalen Medien veröffentlicht. RIFQA, sein erster Gedichtband, wird im Oktober 2021 bei Haymarket Books erscheinen.
 

Helmut Krieger

ist Sozialwissenschaftler, Forscher und Senior Lecturer am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien und Konsulent des VIDC. Derzeit ist er Projektkoordinator des von der ADA geförderten Forschungsprojekts "Knowledge Production in Times of Flight and War - Developing Common Grounds for Research in/on Syria (KnowWar)", einer Kooperation zwischen der Universität Wien, dem Syrian Centre for Policy Research, der Birzeit Universität im Westjordanland, der Alpen-Adria Universität in Klagenfurt und Mousawat, Beirut.
 

Autor*in

Natalie Luftensteiner

Das VIDC organisierte ein Webinar zu den palästinensischen Protesten, die seit Mai dieses Jahres in Gaza, der Westbank, in Israel, von palästinensischen Communities in arabischen Ländern sowie darüber hinaus organisiert werden. Zugeschaltet waren Yara Hawari, Ahmed Abu Artema und Mohammed El-Kurd. Moderiert wurde das Webinar von Helmut Krieger, der mit einer Zusammenfassung der Entwicklungen, die diese neue Massenmobilisierung ausgelöst hatten, die Diskussion begann. Unter anderem verwies er auf die Bedeutung von Vertreibungen von palästinensischen Familien aus dem Jerusalemer Stadtviertel Sheikh Jarrah und israelischer Polizeigewalt im Kontext der Al Aqsa Moschee der letzten Monate.

Einheit von unten - Unity Intifada?

Ahmed Abu Artema, einer der Organisator*innen des ‚Great March of Return‘ erläuterte die Relevanz dieser Protestform im Gazastreifen für den palästinensischen Kampf um Freiheit. Mitunter die wichtigste Auswirkung der Protestaktion sei die Wiederannäherung an die Wurzel des Problems gewesen – nämlich die Nakba und den Flüchtlingsstatus, von dem die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung betroffen ist. Dies zu erkennen und davon den Wunsch nach einer Rückkehr in ihre Heimat abzuleiten, sei ein wichtiges einendes Element, so Abu Artema.
Den Beginn des ‚Great March of Return‘ sieht er dabei nicht im Frühjahr 2018, sondern bereits 2011, einer Zeit der Revolten im arabischen Raum. Im Mai 2011 gab es bereits den ersten Marsch der Rückkehr, einige Protestierende wurden dabei von israelischen Grenzsoldaten erschossen, so Abu Artema. In einem Post zu Beginn des Jahres 2018 schlug er sodann einen erneuten Marsch der Rückkehr vor.

Am ersten Tag des Marsches, dem 30. März 2018, beteiligten sich mehr als 100.000 Menschen, um damit eindrücklich zu zeigen, dass die Bedeutung der Katastrophe von 1948, der Nakba, nicht einfach ein historisches Ereignis ist, sondern gegenwärtige Realitäten von Millionen bestimmt. Unter der grundlegenden Bedingung, dass eine zionistische Vision für den Raum eine würdevolle Existenz der palästinensischen Bevölkerung ausschließe, sei deren bloße Existenz bereits ein Akt des Widerstandes, so Abu Artema weiter, wobei die Ziele der Palästinenser*innen grundlegende legitime Rechte wie Freiheit, Würde und das Recht auf Reisen beinhalten würden. 
Als nächster Referent ging Mohammed El-Kurd ausführlicher auf die notwendigen politischen und organisatorischen Komponenten einer politischen Einheit innerhalb der palästinensischen Gesellschaft ein, nachdem sich die auch von ihm mitgetragene ‚Save Sheikh Jarrah‘ Kampagne als effizienter Katalysator zur Entwicklung einer derartigen Einheit herausgestellt hatte.
Grundsätzlich wichtig sei es, Verbrechen nicht in euphemistischer Sprache zu umschreiben, sondern sie klar zu benennen, so El-Kurd. So gehe es beispielsweise im Kontext von Sheikh Jarrah um Vertreibung, nicht um Räumungen. Ebenso benennen Palästinenser*innen, so der Aktivist aus Jerusalem, seit Jahren das Problem des Siedlungskolonialismus als Kolonialismus. Damit sei ein System gemeint, das die Existenz eines Apartheid-Regimes erlaube und auf israelischer Militärherrschaft und Polizeigewalt basiere. Vor allem aber liege diesem System eine lange Periode ethnischer Säuberung zugrunde. 

„Trotz der Fragmentierung sind wir alle Palästinenser*innen“

Israel folge dabei einer Politik des Teilens und Herrschens, die in den unterschiedlichen Lebensrealitäten von Palästinenser*innen sichtbar wird. Damit ist nicht nur die von der Kolonialmacht eingezogene territoriale Fragmentierung der verschiedenen palästinensischen Gebiete gemeint, sondern unter anderem auch unterschiedliche Rechtskonstruktionen für Palästinenser*innen, so El-Kurd, um in gewisser Weise Parallelwelten zu schaffen. Trotz dieser grundlegenden Bedingungen ist für ihn klar, dass es ein palästinensisches Wiedererwachen gibt, in dem die kolonialen Barrieren als physische Grenzen erkannt werden, denen ein Palästinensisch-Sein gegenübergestellt ist, das als verbindendes Fundament wirke.  Ebenso verdichte die Erfahrung von Gewalt unter militärischer Herrschaft permanent das, was er als Palästinensisch-Sein einführt, sodass diese kollektive Erfahrung ein weiteres Element in der Entwicklung palästinensischer Identität sei.  
Yara Hawari sprach in ihrem Beitrag ebenso die Bedeutung von Einheit an. Die historische Erfahrung von Palästinenser*innen sei dabei eine von Verdrängung und Vertreibung, die von Palästinenser*innen in ihren unterschiedlichen Räumen als ethnische Säuberung analysiert werde, was ein Gefühl von Verbundenheit und Unity begünstige. Yara Hawaris Überlegungen liegt ein plurales Verständnis der palästinensischen Gesellschaft zugrunde – nicht nur gebe es territoriale Trennlinien, sondern eben auch Ungleichheiten entlang analytischer Kategorien wie Geschlecht oder Klasse. Dabei betonte sie, dass eine palästinensische Einheit sehr viel schwieriger zu erreichen sei, da bestehende Bruchlinien in der palästinensischen Gesellschaft durch das israelische Regime nochmal besonders verschärft würden. 

Genug ist genug! Die internationale Gemeinschaft muss handeln!

Näher ging Yara Hawari auf die jüngste Kriminalisierung der sechs Menschenrechtsorganisationen in Israel ein. Keineswegs sei dies als neues Phänomen zu verstehen, das israelische Regime kriminalisiere die Zivilgesellschaft seit 1948. Die aktuellen Ereignisse lassen sich aber als bewusste Eskalation zur Schwächung und Zerstörung der palästinensischen Zivilgesellschaft begreifen. Sie stellte in ihren Ausführungen auch eine Verbindung zwischen der Kriminalisierung der Menschenrechtsorganisation Al Haq und deren Beitrag zur Anklage Israels vor dem Internationalen Gerichtshof her. Damit ist abermals der Moment gekommen, an dem die internationale Gemeinschaft handeln müsse. Yara Hawari beendete ihren ersten Beitrag mit einem Appell an eben diese. 
Im nächsten Schritt diskutierte sie die führende Rolle von Grassroots-Initiativen und ihr Transformationspotential hin zu politischer Macht. Mit Blick auf die erste Intifada in den frühen 1990er Jahren verwies sie auf die reiche historische Erfahrung von sozialen Bewegungen und Initiativen innerhalb der palästinensischen Zivilgesellschaft. Jene Ereignisse demonstrieren wie gut organisierte politische Arbeit außerhalb staatlicher Institutionen funktionieren kann, so Hawari. Lange Zeit fehlte jedoch die Vorstellungskraft, um überhaupt ähnliche Dynamiken auszulösen. Das sei das Resultat einer längeren Depolitisierung, wo NGOs, Förderstrukturen und eine neoliberale Terminologie politische Verständnisse und Begriffe eingenommen und somit politische Arbeit ersetzt hätten. An diesem Punkt gelte es anzusetzen, um die palästinensische Bevölkerung zu repolitisieren, so Hawari.
Ahmed Abu Artema kommentierte in seinem abschließenden Beitrag die Rolle der Jugend. Ausgehend von seiner eigenen Erfahrung – wohnhaft in Gaza und dementsprechend isoliert –sprach er die Schwierigkeit der Vernetzung unter jungen Menschen an. Doch trotz der physischen Barrieren würden sich Palästinenser*innen durch das gemeinsame Engagement zusammengehörig fühlen. Dieses Gefühl der Einheit müsse vor allem in den jüngeren Generationen gestärkt werden. 
Mohammed El-Kurd schloss die Diskussion mit einem Appell an internationale Solidaritätsinitiativen. Seiner Meinung nach sei lokale Organisierung sehr effektiv, um den palästinensischen Kampf für Freiheit zu unterstützen. Grundsätzlich müsse sich die internationale Gemeinschaft ihrer Verantwortung stellen und vor allem die eigenen Reaktionen auf die legitimen palästinensischen Forderungen und Rechte besonders in den letzten zwei Jahrzehnten in Frage stellen.