Die Lesung am 28. September 2020 fand Corona bedingt vor lediglich 50 Gästen in der Hauptbücherei Wien statt und wurde auf dem VIDC Facebook Channel live gestreamt. Ein Interview mit dem irakisch-kurdischen Autor Bachtyar Ali wurde per Video zugeschaltet.
Bachtyar Alis Roman, der im Irak verboten wurde, beschreibt das Leben von Perwana und ihren Freundinnen in einer von Männern und Religion dominierten Umgebung: Die Väter, die Brüder, aber auch die tyrannischen Hüterinnen von Sitte und Glauben sitzen ihnen im Nacken. Eine Frau nach der anderen verschwindet aus der Stadt, auf der Suche nach besseren Orten. Wo ziehen sie hin? Und was geschieht mit denen, die bleiben?
„Es ist ein Buch für heute. Nicht nur, weil es die verschiedenen Facetten der Gewalt im Nahen Osten und die Geschlechterrollen so klug reflektiert, sondern auch, weil es eindringlich vorführt, wie gefährdet Freiheit ist.“ (Bücher am Sonntag)
Interview mit Bachtyar Ali
Für die Veranstaltung hat Bachtyar Ali mit der Moderatorin Ani Gülgün-Mayr ein Gespräch über das Buch sowie über die politischen und sozialen Hintergründe im Irak geführt, welches wir hier in Auszügen wiedergeben. Im nebenstehenden Video kann das ganze Interview nachgehört werden.
Ani Gülgün-Mayr: Ihr Buch versetzt uns in die Zeit von Saddam Hussein. Sie beschreiben eine sehr gewaltbereite Gesellschaft, auch die kurdisch-irakischen Menschen machen da keine Ausnahme. Hat sich die Situation für Sie in den letzten Jahrzehnten verändert?
Bachtyar Ali: Ja natürlich, aber eine richtige, radikale Wende haben wir nicht erreicht. Die Gefahr für die Frauen ist immer noch da. Den Roman kann man aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, aber dieser Konflikt zwischen Liebe und Religion bleibt im Zentrum. Dieser Konflikt ist immer noch aktuell. Sie wissen, die Liebe hat sehr viel mit persönlicher Freiheit zu tun. Und persönliche Freiheit ist in vielen islamischen Gesellschaften fast unmöglich. (...) Aber die Liebe hat sehr viel revolutionäres Potential.
Gülgün-Mayr: Inwieweit hat der Krieg gegen den Iran, der darauffolgende Krieg gegen Kuwait und die weiteren Konflikte die religiösen Konservativen im Irak gestärkt?
Ali: Sehr viel! Als ich den Roman geschrieben habe, hat der Faschismus im Irak ein nationalistisches Gesicht gehabt. Aber danach kamen die Islamist*innen, kamen Al Kaida, ISIS und all die anderen extremistischen Islamist*innen. Vorher war das eigentlich nicht vorhersehrbar. Man konnte nicht wissen wie stark die Islamist*innen sind. All diese angesprochenen Konflikte haben eine hoffnungslose Generation erzeugt. Und diese hoffnungslose Generaton fand in diesem Extremismus ein bisschen Trost. Die Gewalt ist eigentlich überall im Orient, die Gewalt ist in der Familie, in der Schule und überall im politischen Bereich: Gewalt gegen die Frauen, gegen die Kinder, gegen die Natur, gegen die Tiere. Aber warum ist die Gewalt so präsent? Wir haben keinen Dialog zwischen Machthabern und Machtlosen, zwischen Starken und Schwachen, zwischen Unterdrückten und Unterdrückern. Die benötigte Sprache für Kommunikation ist nicht da.
Gülgün-Mayr: Sie haben sich bei Ihrer Schreibform für den magischen Realismus entschieden, das ist eine Form bei der man die Realität mit Mystik und Magie koppelt. Ist das für Sie eine Strategie im Umgang mit ihrem Herkunftsland?
Ali: Als ein Autor aus dem Orient habe ich immer in einer Welt voller Paradoxe gelebt. Daher versuche ich über die absurde Seite des Lebens, über die unlogische Seite der Gesellschaft zu schreiben. Der Orient ist voller Paradoxe, z.B. verwenden die Menschen die neueste Technik, aber sie denken immer noch wie vor hundert Jahren. Oder: Man redet sehr viel über Demokratie und Menschenrechte, aber sogar die Wahlen sind dafür da, mehr Diktatoren zu produzieren. (...) In einer solchen Gesellschaft kann man nicht wie ein europäischer Autor schreiben.
Perwanas Abend
Die Originalausgabe von Perwanas Abend erschien im Irak bereits 1998. Wobei der Roman uns in die Zeit der Diktatur Saddam Husseins versetzt. Er beschreibt die irakische Gesellschaft als äußerst gewalttätig und patriachal, auch die kurdisch-irakische Gesellschaft macht da keine Ausnahme.
Rund um die Lesung haben die beiden kurdischen Musiker*innen Sakîna Teyna und Salah Ammo ein musikalisches Intermezzo angestimmt. Sakîna Teyna kam aus Varto, dem Norden der Türkei, Salah Ammo aus Rojava in Syrien nach Wien. Beide sind heute aus dem Musikleben der Stadt nicht mehr wegzudenken. Ab und an treffen sie sich privat oder bei Festen und singen ihre Lieder.
Bachtyar Ali: Perwanas Abend (Roman), Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim, Unionsverlag 2019.