"'Krisenregion Sahel' ist ein einzigartiges, bemerkenswertes Buch. Denn im deutschen Sprachraum gibt es kaum Literatur zu der Region; schon gar nicht in einem so vielseitigen Ausmaß“, so Verleger Johannes Hofbauer, der den Abend moderierte. In dem Sammelband berichten dreizehn Autor*innen über die politischen, ökonomischen, religiösen, ethnischen und klimatischen Krisen in der Sahelzone. Während sich die erste Hälfte des Buches den einzelnen Ländern der Sahelregion ¬– Senegal, Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, Nigeria, Tschad, Sudan und Eritrea ¬– widmet, fokussiert die zweite Hälfte auf Themen wie die Rolle des Islam, die Stellung der Frau, die Auswirkungen des Klimawandels und vieles mehr. Laut Autor und Co-Herausgeber Günther Lanier sind die neun porträtierten Länder sehr unterschiedlich. „Was den Sahel zusammenhält ist nicht die Politik, sondern die Geografie und Ökologie“, argumentierte er. Es sind Projekte wie die Errichtung der sogenannten Great Green Wall, eines begrünten Streifens von West nach Ost, die die Länder miteinander verbinden. Darüber hinaus können einige grenzüberschreitende Phänomene –wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen – festgestellt werden.
Welche Krisen sind gemeint?
Die Länder des Sahel stellen, mit wenigen Ausnahmen, im kapitalistischen Weltsystem die Peripherie der Peripherie dar. Man könne kaum von einer ökonomischen Krise sprechen, denn dazu müsste vorher einmal was funktioniert haben“, argumentierte Günther Lanier. Als tatsächliche Krise sieht er den Terrorismus. Ein Schlüsselereignis für das Aufkommen von terroristischen Gruppen in der Sahelregion war der Sturz von Muammar Gaddafi 2011 in Libyen, infolgedessen viele Waffen in Umlauf kamen. Vor allem in Mali, Burkina Faso, Niger, Nigeria, Kamerun und Tschad ist der Terrorismus heute stark verbreitet. Das Versagen von Staaten identifiziert Günther Lanier dabei als Nährboden: „Der Terrorismus kann sich dort ausbreiten, wo der Staat vernachlässigt.“ Vernachlässigung etwa im Sinne von unzureichender gesundheitlicher Versorgung und Polizeipräsenz, aber auch von fehlenden wirtschaftlichen Möglichkeiten. Als einzigen Ausweg sieht Lanier folglich die Verbesserung der Lebensbedingungen in der Sahelzone.
Unterdrückt, aber sichtbar – die Rolle der Frauen
Die unterdrückten Frauen der Sahelregion seien durchaus sichtbar, so Günther Lanier. Beispielhaft dafür verwies er auf den Frauenmarsch von 2014 gegen den damaligen Präsident Blaise Compaoré in Burkina Faso, welcher wesentlich zum Sturz des Staatschefs beitrug. Mitautorin Ishraga Mustafa Hamid bezog sich ebenfalls auf den Aktivismus von Frauen. Sie erzählte von ihrem Heimatland Sudan, wo Frauen bereits in den 1940er Jahren im Kampf gegen den Kolonialismus sehr aktiv waren. In dieser Zeit entstand auch die erste Frauenbewegung, und das Frauenwahlrecht konnte erkämpft werden. Auf Grund eines Militärputsches im Jahre 1958 (zwei Jahre nach der Unabhängigkeit) gingen die bereits erkämpften Rechte wieder verloren. Ein Kreislauf, der sich mehrfach wiederholte – von einer Revolution über einen erneuten Militärputsch zur Demokratie, gefolgt vom nächsten Militärputsch. Dennoch, wie Ishraga Mustafa Hamid festhielt, blieben die Sudanesinnen stark und kämpfen nach wie vor für die (Rück-) Gewinnung ihrer Rechte und ihrer Stellung in der Gesellschaft. So waren bei der Revolution 2018 zwischen 60-70 Prozent der Demonstrant*innen weiblich. Die Jugendlichen und Frauen wollen den Sudan nicht verlassen, sie wollen ihr Land verändern“, erklärte die Autorin.
Die Auslagerung der Migrationsabwehr
Franz Schmidjell, ebenfalls Mitautor, widmete sich dem Thema Migration. Zum Schutz der EU-Außengrenzen wurde die „externalisierte Fluchtabwehr“ seit 2015 im Sahel intensiviert. Ein Beispiel dafür ist der Staat Niger: Das Land wurde 2015 gedrängt, ein Anti-Migrationsgesetz einzuführen. Dieses Gesetz hatte nicht nur auf Migrant*innen gravierende Auswirkungen, sondern auch auf die lokale Bevölkerung. Regionale, grenzüberschreitende Wirtschaftskreisläufe wurden unterbrochen, zahlreiche Personen aus dem Tourismusgewerbe arbeitslos oder verhaftet. Migrant*innen wichen in der Folge auf neue, weitaus gefährlichere Routen aus. „Dort geschehen jetzt die tödlichen Unfälle – da passiert es, dass die Fahrer in der Nacht verschwinden, weil sie Angst haben, von Militärpatrouillen verhaften zu werden“, erklärte Franz Schmidjell.
Solidarität, die Hoffnung gibt
Laut Ishraga Mustafa Hamid kann vor allem die Diaspora als Hoffnungsträger gesehen werden. Sie erzählte, wie in Zeiten der Krise, als der Sudan (mitunter wegen fehlendem Strom und Internetzugang) von der Außenwelt abgekapselt schien, die Unterstützung der im Ausland lebenden Sudanes*innen entscheidend war. „Die Diaspora aus dem Ausland hat es geschafft, mit ihnen zu kommunizieren und alles auf Social Media zu verbreiten. Ohne die Solidarität und Lobbyarbeit hätte die Welt den Schrei der Sudanes*innen nicht gehört“, erzählte Ishraga Mustafa Hamid. Auch auf die Einladung des Generals Abdel Fattah Burhan nach London anlässlich der Beerdigung von Queen Elizabeth reagierte die Diaspora: Zahlreiche Menschen gingen auf die Straße. Und das sei sehr wichtig, denn solange die USA und Großbritannien den Militärputsch anerkennen, bleibe die Situation im Sudan kritisch. Wie Franz Schmidjell betonte, gilt es auch das Potential von lokalen und regionalen Initiativen wahrzunehmen. Das Netzwerk Alarme Phone Sahara beispielsweise versucht Migrant*innen mittels Aufklärungsarbeit über die Risiken und Rettungsaktionen zumindest ein wenig Sicherheit zu geben. Für eine auf Menschenrechte gerichtete Entwicklungspolitik sei eine solidarische Zusammenarbeit mit Initiativen wie Alarme Phone Sahara wichtig. Darüber hinaus verwies er auf die vorbildliche Migrationspolitik Ugandas. Im Gegensatz zu anderen Nationen werden hier Flüchtlinge nicht in Lager gesteckt, sondern es werden sogenannte „settlements“ errichtet, die zu eigenen Kleinstädten werden. Neu angekommene Familien werden registriert, bekommen ein Stück Land zur Verfügung gestellt und dürfen arbeiten. Die Kinder besuchen die örtlichen Schulen. Natürlich verfügt Uganda nur über begrenzte Ressourcen und es treten auch Spannungen auf, „aber zumindest ist es von der Politik her ein sehr guter Ansatz, und ich denke, von Uganda zu lernen würde auch Österreich guttun“, so Franz Schmidjell.
Auswirkungen des Klimawandels
Laut Günther Lanier nehmen als Folge der Klimakrise die Extremwetterereignisse wie Starkregen oder Trockenheit zu. Gleichzeitig sind die Kapazitäten der Staaten, mit diesen umzugehen, beschränkt. So betonte Günther Lanier: „Ganz allgemein sind die Klimaauswirkungen in Afrika vor allem deswegen schlimmer, weil Afrika weniger Mittel hat, um sich dagegen zu schützen.“
Bei der eineinhalbstündigen informativen Diskussion durfte die Frage nach der Bedeutung des Wortes „Sahel“ nicht fehlen: es ist arabisch und steht für „Ufer“ oder „Küste“ – gemeint ist das Südufer der Sahara.