Inmitten von Luftangriffen, Panzerbeschuss und Häuserkampf leisten im Gazastreifen Teams von Ärzte ohne Grenzen Nothilfe – ein Tropfen im Ozean der Bedürfnisse. Ein Bericht über die schwerwiegenden sozialen und medizinischen Folgen des Krieges, die Ohnmacht der Helfer*innen – und die Kraft der Worte.
Als die Wehen einsetzten, war es für Maha (Name geändert) Zeit, das Krankenhaus aufzusuchen. Sie stand kurz vor der Geburt ihres Kindes. Eine Erfahrung, die sie mit unzähligen Frauen auf der ganzen Welt verbindet – und die ihr Leben verändern sollte. Unter normalen Umständen wäre das Aufsuchen der Klinik ein alltäglicher Vorgang gewesen. Doch die Umstände waren nicht normal. Maha lebt im Gazastreifen. Was das bedeutet, bekam sie zu spüren, als sie in der Klinik ankam: Sie wurde abgewiesen. Die Einrichtung in Rafah, an der Grenze zu Ägypten, war völlig überlastet. Wegen israelischer Angriffe, die binnen kurzer Zeit Hunderttausende Menschen in die Kleinstadt gespült hatte. So kam es, dass Maha trotz Wehen in ihr Zelt zurückkehren musste. Später, als die Geburt einsetzte, schaffte sie es nicht mehr zurück ins Krankenhaus. Sie gebar ihren Sohn in einer öffentlichen Toilette. Er war tot.
Der Preis der Hilfe
Das Schicksal von Maha wurde im Jänner 2024 von Pascale Coissard, der Nothilfekoordinatorin für Ärzte ohne Grenzen, dokumentiert. Sie besuchte gerade das Emirati Maternity Hospital in Rafah, wo Maha nach ihrer Totgeburt medizinisch versorgt wurde.
Die medizinische Hilfsorganisation, international bekannt als MSF (für Médecins Sans Frontières), ist bereits seit 1989 in den autonomen Palästinensergebieten tätig. Nach dem brutalen Hamas-Angriff auf israelische Zivilist*innen am 7. Oktober und inmitten des darauf folgenden blutigen Krieges im Gazastreifen haben die MSF-Teams ihre Arbeit ausgeweitet. Sie gehören zu den wenigen internationalen Helfer*innen, die weiterhin vor Ort tätig sind. Eine Hilfe, die sie selbst als „Tropfen im Ozean“ bezeichnen. Für diesen Einsatz haben die MSF-Mitarbeiter*innen – von denen die meisten selbst aus dem Gazastreifen stammen – einen hohen Preis bezahlt. Bis Ende Februar mussten sie und ihre Patient*innen aus neun Gesundheitseinrichtungen flüchten. Die Gründe: Panzer- und Artilleriebeschuss, Luftangriffe, Scharfschütz*innen, Bodentruppen. Und Evakuierungsbefehle der israelischen Armee. Schwer verletzte Menschen mussten die Spitäler überstürzt verlassen. Meist zu Fuß, manchmal im Rollstuhl oder sogar im Krankenbett.
Eine Augenzeugin aus Österreich
„Meine palästinensischen Kollegen und Kolleginnen sind schwer verunsichert und sehr verzweifelt“, berichtet Mitarbeiterin Lisa Macheiner auf dem TikTok-Kanal der Organisation. Die Österreicherin ist als Projektleiterin für den Hilfseinsatz von Ärzte ohne Grenzen in Rafah zuständig. „Sie suchen mich immer wieder auf und fragen: ‚Was sollen wir tun, wo sollen wir hin gehen? Was sollen wir unseren Kindern antworten?‘ Und brechen dabei in Tränen aus. Ich weiß nicht, was ich ihnen antworten soll. Es ist schwierig, noch Worte zu finden für die Situation.“ Sie beschreibt eine Ohnmacht, die derzeit angesichts des Krieges viele Menschen lähmt. Trotzdem ist es wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen. Genau das macht Ärzte ohne Grenzen. Wie sonst soll die Weltöffentlichkeit von den Kriegsgräueln erfahren? Wenn medizinische Einrichtungen angegriffen werden und auf Rettungswagen geschossen wird, weil Hamas Kämpfer*innen darin vermutet werden? Wenn medizinisches Personal und Patient*innen festgenommen oder sogar bei Kämpfen und Angriffen getötet werden? Eigentlich sieht das Humanitäre Völkerrecht einen strengen Schutz medizinischer Einrichtungen im Krieg vor. Dieser endet aber, wenn ein Spital von einer der Konfliktparteien genutzt wird, um außerhalb der humanitären Aufgaben eine „Handlung zu begehen, die den Feind schädigt". Im Zweifelsfall, wenn also unklar ist, ob das Spital dafür missbraucht wird, sollte davon ausgegangen werden, dass dies nicht der Fall ist.
Worte gegen das Wegschauen
Helfer*innen wie Lisa Macheiner und ihre Kolleg*innen sorgen dafür, dass das Leid und das Unrecht, das den Menschen im Gazastreifen widerfährt, zumindest nicht unbeachtet bleiben. Im Jargon von Ärzte ohne Grenzen nennt man das „témoignage“, auf Deutsch: Bezeugen. Das bedeutet, dass die Teams öffentlich über das berichten, was sie direkt am Ort des Geschehens selbst sehen und von ihren Patient*innen erfahren. Damit die Weltöffentlichkeit nicht wegschauen kann – und so hoffentlich genügend internationaler Druck auf die Kriegsparteien entsteht, ihre Waffen ruhen zu lassen.
Auch im Gazastreifen versucht MSF, die Aufmerksamkeit auf das menschliche Leid und die medizinischen Folgen des Krieges zu lenken. Diese sind enorm: Die Gesundheitsbehörden im Gazastreifen berichteten bis Ende Februar von 29.000 Toten und 69.000 Verletzten. „Der Großteil unserer Patienten und Patientinnen sind Frauen und Kinder, die verwundet sind“, erzählt Projektleiterin Macheiner, „Kriegsverwundete mit schwersten Verbrennungen und Traumaverletzungen.“ Fast die gesamte Bevölkerung des kleinen Stückchen Lands – flächenmäßig kleiner als Wien – ist auf der Flucht. Auch dies hat massive gesundheitliche Auswirkungen auf die gut zwei Millionen Einwohner*innen des Streifens.
„Alles ist überfüllt“
1,5 Millionen davon suchen Schutz in Rafah. „Mit so vielen Vertriebenen ist die Lage erschreckend“, berichtet MSF-Nothilfekoordinatorin Pascale Coissard. „Alles ist überfüllt, Menschen leben in Zelten, Schulen und Krankenhäusern.“ In all dem Chaos ist die medizinische Versorgung längst kollabiert. Das hat nicht nur Folgen für die Verletzten. Auch reguläre Patient*innen finden kaum noch Hilfe. Patient*innen wie die schwangere Maha. Der Zugang zur Schwangerschaftsvorsorge und Geburtshilfe wurde durch den Krieg weitgehend lahmgelegt. Die UNO schätzt, dass rund 50.000 Frauen im Gazastreifen schwanger sind, rund 20.000 Babys wurden seit Kriegsbeginn geboren. Viele kommen in Zelten auf die Welt; Frauen, die das Glück haben, einen Platz in einem Kreißsaal zu bekommen, müssen gleich nach der Geburt mit ihren Neugeborenen zurück in ihre Zelte. Oft unter alarmierenden hygienischen Bedingungen.
Hilfe für Schwangere
Lisa Macheiner und ihr Team versuchen bestmöglich zu helfen. Etwa, indem sie die letzte funktionierende Geburtsklinik in Rafah unterstützen. Das Emirati Maternity Hospital ist durch die massive Fluchtbewegung in die Stadt überfordert: „Die Zahl der Geburten vor dem Krieg hat sich verdreifacht“, berichtet Coissard. Ärzte ohne Grenzen hat Gynäkolog*innen, Pflegepersonal, Hygienefachkräfte sowie Hilfsgüter in das Krankenhaus entsandt. Auf dem Parkplatz wurde eine Erweiterung der Entbindungsstation eingerichtet, wodurch diese auf 20 Betten wuchs. Allein in der ersten Woche versorgten die Teams 170 werdende Mütter. In einer weiteren Klinik in Rafah bietet Ärzte ohne Grenzen Schwangerschaftsuntersuchungen an. Dieses so wichtige Vorsorgeangebot konnten viele Schwangere seit Kriegsbeginn nicht mehr wahrnehmen: „Nachdem ich geflüchtet bin, war es schwierig Transport und medizinische Hilfe zu finden“, berichtete etwa Patientin Rana Abu Hameida dem MSF-Team.
Appell an den UNO-Sicherheitsrat: „Was werdet ihr tun?“
Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen können nur einen kleinen Teil der Bedürfnisse abdecken. Laut Amnesty International wird humanitäre Hilfe seitens Israel weitgehend blockiert und behindert. Als Besatzungsmacht ist Israel nach internationalem Recht verpflichtet, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung im Gazastreifen sicherzustellen.
Die scheinbar ausweglose Situation veranlasste Ärzte ohne Grenzen am 22. Februar zu klaren Worten an den UNO-Sicherheitsrat: „Wir waren, wie so viele, entsetzt über das Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober, und wir sind entsetzt über die Reaktion Israels. Wir spüren die Trauer der Familien, deren Angehörige am 7. Oktober als Geiseln genommen wurden. Wir spüren das Leid der Familien der willkürlich in Gaza und im Westjordanland Inhaftierten“, so der MSF-Generalsekretär Chris Lockyear. Er endete seine Rede mit einem eindringlichen Appell: „Wir fordern den Schutz, den das Internationale Humanitäre Völkerrecht verspricht. Wir fordern einen Waffenstillstand beider Kriegsparteien. Wir fordern den nötigen Spielraum, um die Illusion von Hilfe in sinnvolle Unterstützung zu verwandeln. Was werdet ihr tun, um das zu ermöglichen?“ Jedoch endete das Treffen des Sicherheitsrats ohne Resolution für einen Waffenstillstand, die am Veto der USA scheiterte. Die Begründung: Die Resolution könne Verhandlungen zwischen den USA, Ägypten, Israel und Katar über eine Pause der Kampfhandlungen sowie die Freilassung der Hamas-Geiseln gefährden. Die Kämpfe im Gazastreifen gingen auch bei Redaktionsschluss weiter (20. März 2024).