SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

„Wir müssen einen viel besseren Weg finden, um zusammenzuleben.“

Dr. Rula Hardal im Gespräch mit Michael Fanizadeh (VIDC Global Dialogue)

A Land For All - Two States One Homeland


A Land For All ist eine gemeinsame Bewegung von Israel*innen und Palästinenser*innen, die davon überzeugt sind, dass der Weg zu Frieden, Sicherheit und Stabilität für alle über zwei unabhängige Staaten, Israel und Palästina, in einem gemeinsamen Rahmen führt, der es beiden Völkern ermöglicht, zusammen und getrennt zu leben.

Mehr Informationen zur Bewegung finden Sie hier.

Gesprächspartner*innen


Rula Hardal ist Co-Direktorin von A Land for All und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Shalom-Hartman-Institute for Israeli and Jewish Identity in Jerusalem. Bis vor kurzem hat sie an palästinensischen Universitäten gearbeitet, vor allem an der Al-Quds-Universität in Jerusalem und an der American University in Ramallah (Westbank). Sie stammt ursprünglich aus Peki'in und lebt derzeit in Ramallah.

Michael Fanizadeh ist Politikwissenschaftler. Seine Arbeitsbereiche bei VIDC Global Dialogue sind Migration und Entwicklung, Menschenrechte und Antidiskriminierung mit einem regionalen Fokus auf den Nahen und Mittleren Osten. 

Kontrollpunkt bei Bethlehem. Einreise in die Westbank, © imageBROKER/Wolfgang Noack/Alamy Stock Photo

Kontrollpunkt bei Bethlehem. Einreise in die Westbank, © imageBROKER/Wolfgang Noack/Alamy Stock Photo

(28. Mai 2024) Rula Hardal ist Co-Vorsitzende von A Land for All, einer palästinensisch-israelischen Bewegung, die sich für eine konföderale Zweistaatenlösung in Israel und Palästina einsetzt. Die Bewegung möchte Demokratie, Bewegungsfreiheit, Souveränität, Gerechtigkeit und Sicherheit für alle Menschen in Israel/Palästina erreichen: „Dieses Land zwischen dem Meer und dem Jordan ist eine geografische und historische Einheit, die beide Völker als ihre Heimat betrachten. Man kann darin Grenzen ziehen, aber man kann keine Mauern errichten. Anstatt es zu entzweien, sollten beide Völker es teilen.“ Auch Jerusalem sollte eine Stadt bleiben, die allen Menschen und Religionen offensteht, wie A Land for All in ihren grundlegenden Prinzipien betont.

Fanizadeh: Frau Hardal, könnten Sie sich bitte kurz vorstellen? Wie begann Ihr Engagement für eine konföderale Zweistaatenlösung? 

Hardal: Bis vor kurzem habe ich an palästinensischen Universitäten gearbeitet, vor allem an der Al-Quds-Universität in Jerusalem und an der American University in Ramallah (Westbank), wo ich Professorin für Politikwissenschaft war. Davor lebte ich zehn Jahre in Deutschland, habe dort promoviert und an der Universität Hannover gelehrt. Als ich 2015 zurückkam, beschloss ich, in Palästina zu leben und zu arbeiten. Ich wohne heute in Ramallah und arbeite als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Shalom-Hartman-Institute in Israel und als Co-Direktorin von A Land for All.

Mein politisches Engagement begann vor etwa vier Jahren, als ich dachte, dass ich mich über meine akademische und wissenschaftliche Arbeit hinaus engagieren sollte. Und durch meine sehr engen Beziehungen zu den Palästinenser*innen, die unter der Besatzung leben, und mit Israel*innen mit unterschiedlichem ideologischen politischen Hintergrund, bin ich allmählich zu der Überzeugung gelangt, dass die Mehrheit der Palästinenser*innen und der Israel*innen nicht so denkt, wie ich es tue: Mit einer postnationalen Denkweise. Deshalb ist es sehr schwer, für einen einzigen demokratischen Staat einzutreten. Ein Einheitsstaat bedeutet die Fortsetzung der gegenwärtigen Situation: eine Ein-Staat-Realität, ein Ein-Staat-Rechtssystem und ein Ein-Staat-Politiksystem, in dem de facto das einzige Regime für die Palästinenser*innen und die Israel*innen die israelische Regierung ist. Aber wir haben eine binationale Realität im Sinne von zwei Bevölkerungen, zwei nationalen Gruppen und zwei nationalen Bewegungen, und wir haben einen Kampf zwischen zwei Nationen, zwei Gruppen von Menschen.

Fanizadeh: Die Situation in Israel und Palästina hat sich nach dem 7. Oktober noch einmal verschärft. Dennoch betonen Sie in Ihren Beiträgen, dass der schreckliche Moment heute auch eine Chance für die Zukunft mit sich bringt … 

Hardal: Eigentlich bin ich nicht so optimistisch und hoffnungsvoll, ich bin realistisch. Ich habe meine Ängste und meine Sorgen über die aktuelle Situation und die Zukunft. Wir erleben gerade wieder eine besonders gefährliche Phase, aber schwierig ist es seit Jahrzehnten. Besonders in den letzten Jahren haben wir gesehen, dass die israelischen Regierungen vom Diskurs über die palästinensische Frage und sogar vom Sprechen über Lösungen oder jeglicher Art von Verhandlungen abgerückt sind. Sie sprechen von der Schaffung einer neuen Realität, in der das grundlegendste kollektive Recht des palästinensischen Volkes, das Selbstbestimmungsrecht, verweigert wird. Und dabei spielt es keine Rolle, ob du eine Palästinenserin mit israelischer Staatsbürgerschaft bist wie ich, oder ein Palästinenser aus dem Westjordanland, der unter militärischer Besatzung lebt.

Fanizadeh: Es gibt auf beiden Seiten das Narrativ, dass immer die andere Seite die Schuld trägt. In diesem Zusammenhang betonen Sie die Bedeutung von Anerkennung und Versöhnung als Prinzipien, wenn es um die Lösung des Konflikts geht. Wie können wir das verstehen?

Hardal: Ich stimme nicht mit dieser Sichtweise überein, die versucht, eine Art Gleichgewicht und Symmetrie zwischen der israelischen und der palästinensischen Darstellung herzustellen. Was vor sich geht, ist nicht symmetrisch, und wenn Sie wollen, können wir noch spezifischer werden und über die Besetzung des Westjordanlandes im Jahr 1967 sprechen.  Aber das ganze Problem begann im Jahr 1948. Seitdem praktiziert die israelische Regierung ihre politische Beziehung mit dem palästinensischen Volk als eine kontinuierliche Negation des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und eine Politik der Kolonisierung, Unterdrückung und Ausgrenzung. Was wir jetzt in Gaza, in der Westbank und gegen die palästinensischen Bürger*innen im Staat Israel erleben, ist kein gerechter Krieg und es ist keine gerechte und legitime militärische Reaktion auf das, was am 7. Oktober durch die Hamas verursacht wurde. 

Fanizadeh: Aber was Versöhnung und Anerkennung angeht, so leben beide Völker in Israel/Palästina …

Hardal: Genau, und das ist einer der wichtigsten Punkte unserer politischen Vision. Aber bevor wir über Versöhnung und Anerkennung sprechen, müssen wir die sehr wichtige Verbundenheit beider Völker mit diesem Land anerkennen, und anstatt weiter über Narrative zu streiten, wem das Land gehört und wem dieses Land als Heimatland gehört hat, können wir es teilen. Das ist der erste Punkt. Der zweite und der dritte Punkt sind miteinander verknüpft:  Gleichheit und Selbstbestimmung. Und wenn wir über Gleichheit im Sinne von individueller und kollektiver Gleichheit sprechen, dann müssen wir auch über Selbstbestimmung sprechen. Selbstbestimmung im Sinne von zwei Staaten, nicht einem Staat Israel und einer Art Autonomie des palästinensischen Volkes. Nein, zwei unabhängige, demokratische und souveräne Staaten. 

Das vierte und fünfte Prinzip sind Anerkennung und Versöhnung. Weil die nationalen Narrative der beiden Völker seit vielen Jahren umstritten sind und wir aufgrund des lang andauernden blutigen Konflikts anfangen müssen, über Anerkennung zu sprechen. Als Palästinenserin anerkenne ich das kollektive Gedächtnis und die Geschichte des jüdischen Volkes. Vor der Gründung des Staates Israel prägte dies das Bewusstsein, die Einstellung und die gesamte kollektive Auffassung des jüdisch-israelischen Volkes, einschließlich seiner Ängste, seiner Traumata und so weiter. Und auch die Ängste und Traumata, die durch die Interaktion zwischen ihnen und dem palästinensischen Volk hier vor Ort in den letzten 70 - 80 Jahren entstanden sind. Auf der gleichen Grundlage glauben wir, dass die jüdische Bevölkerung Israels anerkennen sollte, was es den Palästinenser*innen in der Nakba angetan hat, einschließlich dessen, was jetzt geschieht, und anerkennt, dass sie das gleiche Recht haben, zu diesem Land zu gehören und ihren Staat zu errichten. 
Es geht uns um Versöhnung: Versöhnung im Sinne des Aufbaus einer lebensfähigen, nachhaltigen Zukunft. Denn es reicht nicht aus, nur über Frieden zu sprechen und Friedensabkommen zwischen den beiden Völkern zu unterzeichnen. Auch in Zukunft ist es notwendig, das gesamte Konzept der Versöhnung im Auge zu behalten und die Versöhnung auf allen Ebenen des gemeinsamen Lebens zu integrieren.  

Fanizadeh: Gibt es heute noch eine Chance für solche Debatten?

Hardal: Wir und andere Gruppen, die versuchen, einen anderen Diskurs jenseits des binären Diskurses von „wir“ oder „sie“ zu führen, stehen immer noch am Rande, besonders in der israelischen Gesellschaft. Das Hauptproblem, das wir jetzt haben, ist nicht neu, aber seit dem 7. Oktober ist es viel radikaler geworden und zwar auf israelischer Seite. Die jüdische Bevölkerung in Israel hatte sich daran gewöhnt, dass es möglich ist, über die schrumpfenden Prinzipien der israelischen Demokratie zu sprechen, zum Beispiel letztes Jahr während der ganzen Demonstrationen gegen die geplante Justizreform, ohne ein Wort über die Besatzung zu verlieren. Aber was am 7. Oktober geschah, hat ihnen gezeigt, dass man den Konflikt nicht verwalten und das palästinensische Volk nicht hinter Mauern stecken kann. Ich denke, eines der Probleme liegt darin, dass sie aufwachen und wissen, dass das, was wir vor dem 7. Oktober hatten, nicht wiederkehren wird. Aber sie haben keine Ahnung, wie sie von diesem Zustand wegkommen können.

Fanizadeh: In einem Interview erwähnen Sie, dass Sie sehr stark in der palästinensischen und israelischen Gesellschaft verwurzelt sind, dass Sie aber mit dem Gefühl leben, nicht wirklich dazuzugehören. Wie sollten wir das verstehen?

Hardal: Ich bin Teil der palästinensischen Erzählung und des palästinensischen Diskurses, aber ich bin sehr gut informiert über die israelischen Diskurse. Ich lebe auch in Israel, nehme an vielen akademischen und politischen Debatten in Israel teil, und meine Kenntnisse über die vielfältigen ideologischen und politischen Strömungen unter den Israel*innen sind sehr gut. Ich lebe in beiden Gesellschaften, genauso sind meine wissenschaftlichen Interessen. Diese besondere Position prägt meine politische Vorstellungskraft auf andere Weise gegenüber der Palästina-Israel Frage, anders als z.B. Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten und in der Diaspora. Es gibt eine riesige Kluft zwischen dem nationalen Narrativ und der Vorstellung von der Zukunft zwischen den Palästinenser*innen hier und in der Diaspora. Die Mehrheit der Palästinenser*innen hier betont immer noch die Fähigkeit, diesen Ort zu teilen, zusammenzuleben – zwar auf getrennte, aber auch auf integrative Weise mit der jüdischen Bevölkerung Israels zusammen – was sich der andere Teil des palästinensischen Volkes in der Diaspora vielleicht nicht vorstellen kann. 

Ich kann nicht über Lösungen nachdenken, die neue Ungerechtigkeiten für die jüdischen Israel*innen verursachen könnten. Nicht, weil ich nett bin, oder sie liebe, sondern weil ich ein Mensch bin und weil ich nicht davon sprechen kann, das palästinensische Volk von der Besatzung von jeglichen Kolonialmächten zu befreien, indem ich Ungerechtigkeiten für ein anderes Volk schaffe. Ich habe das Gefühl, dass ich als Palästinenserin die Verantwortung habe, über andere Menschen nachzudenken, nicht nur politisch, sondern auch ethisch und moralisch. 

Fanizadeh: Abschließend, Ihre Vision basiert auf der Anerkennung, dass beide Völker zu diesem Land gehören, und auf dem Verständnis, dass nur Partnerschaft und persönliche und kollektive Gleichberechtigung ein sichereres und besseres Leben für alle bringen werden. Sehen Sie hier immer noch Lösungsansätze?

Hardal: Über Lösungen und eine bessere Zukunft zu sprechen, ist in diesen Tagen schwierig. Die derzeitige fanatische Ultra-Nationale Regierung in Israel und die zunehmend radikalen Stimmen in der israelischen Gesellschaft sind echte Hindernisse für jeden Fortschritt aus dieser Katastrophe. Aber wir sind der Meinung, dass es eine Tatsache gibt, auch wenn es emotional schwierig ist und die Menschen sich nicht einig sind: Die meisten Menschen werden weiterhin hier leben – Palästinenser*innen und jüdische Israel*innen. Wir müssen einen viel besseren Weg finden, um zusammenzuleben. Und zwar gemäß unseren politischen Prinzipien auf integrative Weise oder mit einem integrativen Ansatz, bei dem wir eine Art Trennung zwischen beiden Völkern haben, aber nur im Sinne einer politischen Trennung, im Sinne von zwei politischen Einheiten, zwei unabhängigen, souveränen und demokratischen Staaten.

Vielmehr geht es um Integration und Teilhabe. Darum, das alte Paradigma der klassischen Zweistaatenlösung von Trennung und Segregation durch Teilhabe und Integration zu ersetzen. Wir leben beide auf einem sehr kleinen geografischen Raum, wir teilen die Wirtschaft, die Währung – sogar in Gaza. Wir haben die gleichen begrenzten natürlichen Ressourcen: Wasser, Klima, öffentliche Gesundheit … , und wir müssen Wege finden, wie beide Völker weiterhin hier leben können. Das Überraschende ist vielleicht, dass unsere Bewegung seit dem 7. Oktober um 1000 Prozent gewachsen ist. Denn viele Menschen erkennen trotz der Grausamkeiten, die wir erlebt haben, trotz des fehlenden Vertrauens zwischen den Menschen und trotz des fehlenden Optimismus in Bezug auf die Zukunft an, dass wir uns ändern müssen. Es ist tatsächlich machbar, wir müssen Kompromisse eingehen, in der Lage sein, über die alten Schubladen hinauszudenken und neue, kreative Denkweisen für die Zukunft zu entwickeln.

Frau Dr. Hardal, vielen Dank für das Gespräch.

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