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Sudan: Die gestohlene Revolution.

Mariam Wagialla im Gespräch mit Franz Schmidjell (VIDC Global Dialogue)

VIDC Online Magazin Spotlight

Dieser Artikel wurde in der Spotlight-Ausgabe Juni 2023 veröffentlicht. Wenn Sie den vierteljährlich erscheinenden Spotlight, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

Gesprächspartnerin*

Dr.in Mariam Mohamed Abdalla Wagialla ist Architektin und Stadtplanerin mit dem Schwerpunkt gendersensible Raumplanung. Die Aktivistin für Frauenrechte lebt seit zehn Jahren in Österreich, wo sie 2020 an der Universität für Bodenkultur (BOKU) in Wien promoviert hat. Von 1989 bis 2011 hat sie im "Ministry of physical planning and public utilities" in Khartum gearbeitet.

Der Kampf tobt in der Innenstadt von Khartum, © Okaz online

Die sudanesische Revolution von 2019 verkörperte einen hoffungsvollen Aufbruch für die Demokratiebewegungen in Afrika und der arabischen Welt. Nach monatelangen Protesten wurde der Langzeitdiktator Omar al-Baschir gestürzt und eine Übergangsregierung aus Zivilist*innen und Militärs gebildet. Die Rolle der Frauen, freie Medien und Gewerkschaften wurden gestärkt. Zwei Jahre hielt die spannungsgeladene Koalition. Im Oktober 2021 putschten die Militärs, um angeblich weiteres Chaos zu verhindern. General Abdel Fattah al-Burhan wurde de-facto Präsident, der Milizenführer Muhammad Hamdan „Hemedti“ Dagalo sein Stellvertreter. Aber dieses Bündnis hielt nicht lange und führte am 15. April 2023 zum bewaffneten Konflikt.

Schmidjell: Zwei Generäle kämpfen um die politische Macht im Sudan. Welche Gründe haben zum Ausbruch der bewaffneten Kämpfe zwischen der Armee unter General Burhan und den RSF-Milizen unter Muhammad Hamdan ("Hemedti") Dagalo geführt?

Wagialla: Die unmittelbare Ursache sind Meinungsverschiedenheiten wie und innerhalb welches Zeitraumes die paramilitärische Organisation RSF (Rapid Support Forces) von Hemedti in die Sudanese Armed Forces (SAF) integriert werden sollte. Dies ist eine der Bedingungen der politischen Rahmenvereinbarung vom 5. Dezember 2022, die den von den Generälen durchgeführten Staatsstreich beendet und die Macht an eine Zivilregierung übergeben hätte. Der Machtkampf zwischen den beiden Generälen begann unmittelbar nach dem Putsch gegen die Übergangsregierung unter Premierminister Abdallah Hamdok im Oktober 2021. Al-Burhan traf Entscheidungen zugunsten der Islamist*innen und Loyalist*innen des gestürzten al-Bashir Regimes, was Hemedti verärgerte. Dabei ging es nicht nur um die militärische Macht sondern auch um den wirtschaftlichen Einfluss. Der Streit wurde nach der Unterzeichnung der Rahmenvereinbarung vom 5. Dezember 2022 öffentlich. Hemedti näherte sich dem zivilen Oppositionsbündnis „Forces for Freedom and Change – Central Committee“ an und versprach, das Rahmenabkommen zu verteidigen. Al-Burhan gab dem Druck der Anhänger*innen des gestürzten Regimes nach.

Schmidjell: Welche Rolle spielen regionale Akteur*innen beim Konflikt? Wie siehst du die Rolle der Europäischen Union (EU) und europäischer Staaten, insbesondere die Anti-Migrationspolitik, in der die sudanesischen Sicherheitskräfte eine wichtige Rolle als „Türsteher*innen Europas“ gespielt haben?

Wagialla: Auf regionaler Ebene sind Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) am stärksten vom Konflikt betroffen. Ägypten unterstützt die Armee als strategischer Partner, insbesondere in der Frage des Renaissance-Staudamms. Die VAE verfügen über wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu den Anführer*innen der RSF - sie erhalten Gold aus den RSF-kontrollierten Minen und liefern Waffen. Es scheint jedoch, dass diese beiden widersprüchlichen Positionen die „Liga der arabischen Staaten“ dazu veranlasst hat, auf beiden Seiten eine neutrale Position einzunehmen. Die EU hat in der Vergangenheit ihre Interessen in den Vordergrund gestellt und um die Migration Richtung Mittelmeer zu verhindern, mit dem al-Bashir-Regime zusammengearbeitet. Jetzt drohen erneut Migrations- und Fluchtbewegungen Richtung EU. Da die EU kaum Einfluss auf die beiden verfeindeten Machthaber hat, beschränkte sich ihre Rolle lediglich darauf, die beiden zu drängen, die Kämpfe einzustellen.

Schmidjell: Die Verhandlungen in Jeddah (Saudi-Arabien) brachten mehrere Waffenstillstandsabkommen, die immer wieder gebrochen wurden. Können diese Gespräche dauerhaften Frieden bringen?

Wagialla: Die Nichteinhaltung der Waffenstillstandsvereinbarung zeigt, dass die Konfliktparteien keinen Frieden wollen und dass die Zustimmung zur saudisch-amerikanischen Vermittlung ein taktisches Manöver aufgrund des internationalen Drucks darstellt. Die Armee kündigte am 31.Mai die Aussetzung ihrer Teilnahme an und behauptete, die RSF würden gegen den Waffenstillstand verstoßen. Nach der Unterbrechung forderten saudisch-amerikanische Vermittler*innen die Wiederaufnahme der Verhandlungen und die Verpflichtung zu einem dauerhaften Waffenstillstand unter Einbeziehung ziviler politischer Kräfte.

Schmidjell: Gibt es Unterstützung aus der Bevölkerung für die beiden Generäle?

Wagialla: Ja, trotz der mehrheitlichen Opposition gegen den Krieg genießen beide Seiten des Konflikts eine eingeschränkte und instabile Unterstützung der Bevölkerung. Die Armee wird von Islamist*innen und den Loyalist*innen des alten al- Baschir Regimes unterstützt. Während die Unterstützung der RSF begrenzt ist, können selbst diejenigen, die sie unterstützen, nicht ihre Stimme erheben, aus Angst, des Hochverrats beschuldigt zu werden. Aufgrund der Übertretungen und Verbrechen der RSF während der Revolution eskalierte die öffentliche Wut gegen sie. Andererseits ist ihre Unterstützung durch arabisch-sprachige Volksgruppen in Darfur gewachsen, da diese angeblich einer rassistischen Verleumdungskampagne durch die Unterstützer*innen der Armee ausgesetzt sind. Dies deutet darauf hin, dass sich der Konflikt möglicherweise zu einem Bürgerkrieg entwickeln könnte.

Schmidjell: Die bewaffneten Kämpfe haben ein Land getroffen, in dem schon zuvor aufgrund von klimabedingten Wetterextremen und Wirtschaftskrise eine humanitäre Krise herrschte. Wie ist die humanitäre Situation aktuell?

Wagialla: Die humanitäre Lage ist dramatisch, insbesondere in der dicht besiedelten Hauptstadt Khartum, wo sich die Kämpfe konzentrieren und in mehreren Städten in Darfur. Angesichts der steigenden Zahl an Toten, Verletzten und Vertriebenen blieb laut Statistik die überwiegende Mehrheit in ihren Häusern gefangen, manchmal ohne Wasser, Strom oder sogar Nahrung. Die überwiegende Mehrheit hat auch ihre Lebensgrundlage verloren, insbesondere diejenigen, die im informellen Sektor arbeiten und ihren Lebensunterhalt durch Tageslohnarbeit verdienen. Die Gehälter der Staatsbediensteten wurden nicht ausgezahlt, und viele Arbeitnehmer*innen im Privatsektor wurden entlassen oder erhielten seit Kriegsausbruch keine Gehälter. Die Preise von Lebensmittel und Sprit stiegen mehrfach aufgrund der Nichtverfügbarkeit von Rohstoffen und der Einstellung der Lebensmittelversorgung, nachdem Fabriken, Märkte und Lebensmittelgeschäfte geplündert und niedergebrannt wurden. Anhaltende Kämpfe und das Fehlen einer sicheren Durchfahrt haben dazu geführt, dass die Hilfsgüter, die in Port Sudan nach wie vor in großen Mengen aufgetürmt sind, nicht zur Verfügung gestellt werden können. Hinzu kommt der fast vollständige Zusammenbruch des Gesundheitssystems.

Schmidjell: Zwei Drittel der Krankenhäuser wurden von den Konfliktparteien besetzt oder zerstört. Letzteres betraf insbesondere Geburtskliniken und andere Einrichtungen für Frauen. Welche Unterstützung gibt es für sie?

Wagialla: Die Zerstörung des Gesundheitssystems, einschließlich der staatlichen Geburtsklinik, und schwere Kämpfe, die die Bewegungsfreiheit einschränkten, haben viele Frauen, insbesondere schwangere Frauen, in Lebensgefahr gebracht. Wichtig zu erwähnen ist hier, dass mehr als 80 % der Frauen im Sudan von weiblicher Genitalverstümmelung (FGM/C) betroffen sind, was die Risiken während der Geburt erhöht. Seit Mitte April sind in einem Krankenhaus in El Daein mehr als 30 Neugeborene, aufgrund von Sauerstoffmangel in Krankenhäusern, gestorben. Die Ärztegewerkschaft (Sudan Doctors Union) versucht zusammen mit den lokalen Widerstandskomitees (Local Resistance Councils - LRC) temporäre Gesundheitszentren in Wohnnähe einzurichten, um insbesondere Frauen und Kinder zu versorgen. Für vergewaltigte Frauen gibt es einige Organisationen, die psychologische und gesundheitliche Unterstützung anbieten.  

Schmidjell: Während der Revolution 2019 waren die Frauen an vorderster Front. Welche Rolle spielten die Frauen bei der politischen Transition bzw. innerhalb der oppositionellen Parteien und Bündnisse?

Wagialla: Die starke Beteiligung von Frauen an der Revolution ist Ausdruck ihres unermüdlichen Widerstands gegen das gestürzte Regime über drei Jahrzehnte. Allerdings waren sie weder in der Verhandlungsphase noch bei der Bildung der Übergangsregierung ausreichend vertreten. Obwohl im Verfassungsdokument ein Frauenanteil von 40 % verankerrt ist, liegt ihr tatsächlicher Anteil in Ministerien und anderen hochrangigen Positionen bei weniger als 25 %. Kein Wunder, da Männer die Führung der meisten Parteien und der „Forces of Freedom and Change“ (FFC) dominieren. Leider gelang es den Frauen nicht, sich für ihre Ziele zu vereinen. Zudem wurde das zivile Frauennetzwerk „Mansam“ von der Zersplitterung der FFC getroffen.

Schmidjell: Die Katastrophe hat eine neue Form von Solidarität hervorgebracht. In Abwesenheit von staatlichen Strukturen und internationaler Hilfe haben Freiwillige und lokale Nachbar*innenschaftskomitees viel Hilfe geleistet. Von wem erhalten die „Local Resistance Committees“ Unterstützung?

Wagialla: Seit Ausbruch des bewaffneten Konflikts haben die LRC und alle revolutionären Kräfte Stellung gegen den Krieg bezogen und eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der von Gewalt Betroffenen gespielt. Da der Zugang zu zentralen Krankenhäusern schwierig ist, beteiligen sich die LRC in Abstimmung mit der Sudan Doctors Union an der Vorbereitung alternativer Gesundheitszentren in den Stadtteilen. Sie überwachen auch die Lebensmittelvorräte in den Vierteln, betreuen Familien, leisten ihnen Hilfe und kündigen in den Sozialen Medien an, dass sie Unterstützung von gemeinnützigen Menschen benötigen. Sie gehen auch auf die Bedürfnisse ein, die einige Bewohner*innen oder ihre entfernten Verwandten in den Sozialen Medien gemeldet haben. Manchmal erhalten sie auch Unterstützung von aus der Nachbar*innenschaft Ausgewanderten.

Schmidjell: Welche Rolle spielt die sudanesische Diaspora? Was fordert ihr von der Europäischen Union? Was könnten kleine Staaten wie Österreich tun?

Wagialla: Die sudanesische Diaspora spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Unterstützung der vom Krieg betroffenen Menschen: Erstens durch die finanzielle Unterstützung, die sie ihrer Großfamilie und ihren Freund*innen gewährt. Sie unterstützen auch die örtlichen Widerstandskomitees und Wohltätigkeitsorganisationen in ihrer ursprünglichen Nachbar*innenschaft oder in den Städten und Dörfern, die die Vertriebenen aufnehmen. Zweitens unterstützen sie den Gesundheitssektor finanziell. Drittens übermitteln sie Berichte, die die Situation im Sudan widerspiegeln, an Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen in Ländern, in denen sie leben. Weiteres organisieren sie Seminare, Solidaritätskundgebungen, Spendenaktionen und andere Veranstaltungen. Österreich kann zusätzlich zur humanitären Hilfe die EU dazu bewegen, eine stärkere Rolle bei der Lösung dieses verheerenden Konflikts zu spielen, denn die Auswirkungen werden zweifellos auch Europa erreichen (27. Juni 2023).

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