Gefangene Träume: Der Kampf Afghanistans unter der Herrschaft der Taliban

#11: Life under the Taliban

 © Saeed Ahmad

© Saeed Ahmad

Der folgende Artikel wurde von Pakteen* im Rahmen unserer Artikelserie „Life under the Taliban“ verfasst. Frauen und Männer aus verschiedenen Teilen des Landes und mit unterschiedlichen Perspektiven und Realitäten erzählen uns ihre Geschichten, wie sie trotz aller Widrigkeiten ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht verlieren. Pakteen lebt in Kabul und ist als Sozialwissenschaftler tätig.  

Die Menschen in Afghanistan leiden täglich 

Ich möchte nicht nur über meine persönlichen Erfahrungen berichten, die ich in den letzten drei Jahren unter den Taliban gemacht habe, sondern auch die Situation in Afghanistan insgesamt beleuchten. Vor der Machtübernahme durch die Taliban war ich ein hoffnungsvoller junger Mann, der leidenschaftlich seiner Ausbildung nachging und davon träumte, zu einem besseren Afghanistan beizutragen. Doch seit dem 15. August 2021 ist mein Heimatland zu einem riesigen Gefängnis geworden, welches die Hoffnungen vieler, vor allem junger Menschen wie mir, unterdrückt. In den vergangenen drei Jahren habe ich miterlebt, wie die Rechte, insbesondere von Frauen und Mädchen, ausgehöhlt wurden, wie Schulen geschlossen wurden und sich Verzweiflung breit gemacht hat. Viele Freund*innen sind geflohen und haben ihr Zuhause und ihre Träume zurückgelassen, während diejenigen von uns, die geblieben sind, mit Hoffnungslosigkeit und Angst zu kämpfen haben. Diese Erfahrung hat meine Sichtweise tiefgreifend verändert und mich mit einem tiefen Gefühl der Isolation und der Sehnsucht nach verlorenen Chancen erfüllt. Indem ich meine Geschichte erzähle, hoffe ich, auf die harten Realitäten aufmerksam zu machen, mit denen zahllose Afghan*innen, vor allem junge Menschen, konfrontiert sind, die trotz überwältigender Herausforderungen weiter für ihre Träume kämpfen.

Seit drei Jahren kämpfe ich unter dem Taliban-Regime, das unter dem Deckmantel des Islamischen Emirats als extremistisches Gebilde agiert und uns ein inakzeptables diktatorisches System aufzwingt. Die meisten jungen Afghan*innen leiden unter zunehmender Angst, Gewalt und Schikanen, die ihnen das Gefühl geben, nicht zu ihrem Land zu gehören. Die Handlungen des Regimes verletzen grundlegende Menschenrechte und Freiheiten und schränken die Rechte der Frauen, den Zugang zu Bildung und Beschäftigung sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung und persönliche Freiheit stark ein. Die Angst und die Gewalt, die das tägliche Leben durchdringen, schaffen ein Klima der Hoffnungslosigkeit, insbesondere für die Jugend. Diese Bedingungen widersprechen grundsätzlich den Grundsätzen von Würde, Freiheit und Chancen, die jedem Menschen zustehen. Jede Afghan*in ist zutiefst besorgt über die erheblichen Rückschritte bei den Rechten der Frauen, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu Bildung, die Schließung von Mädchenschulen, die wirtschaftlichen Möglichkeiten und die Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Diese Themen liegen allen Afghan*innen sehr am Herzen.

Viele meiner Freund*innen wurden von den Taliban inhaftiert, andere wurden gegen ihren Willen zur Ausreise gezwungen. Einigen Freund*innen wurde sogar der Besuch der Oberschule und der Universität für ihre Töchter untersagt. Viele Afghan*innen, vor allem außerhalb von Kabul, leiden. Unsere starken sozialen Bindungen machen es schwierig, unsere Familien zurückzulassen, da wir diese Verbindungen sehr schätzen. Leider haben viele qualifizierte Fachkräfte – Ärzt*innen, Ingenieur*innen, Wirtschaftswissenschaftler*innen und Universitätsprofessor*innen - Afghanistan aufgrund der Einschränkungen durch die Taliban verlassen. Jetzt befinden sich viele von ihnen im Ausland und kämpfen darum, die Möglichkeiten zu finden, die sie einst hatten.

Unterstützung der Taliban durch Ausländer*innen im Land

Mir ist aufgefallen, dass viele Ausländer*innen, die Afghanistan besuchen, die Taliban zu unterstützen scheinen und behaupten, dass sich die Sicherheits- und Wirtschaftsbedingungen täglich verbessern. Diese Besucher*innen verkennen jedoch oft die Realität für die dort lebenden Menschen. Ich persönlich bin aufgrund meines Aussehens mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Ich wurde angehalten und zu meiner Kleidung und meinen Haaren befragt, was zu Ermittlungen über meine Herkunft führte. In Afghanistan schneiden sich die Männer ihre Bärte nicht aus freien Stücken, sondern aus Angst vor den Taliban; selbst in staatlichen Einrichtungen wird dies erzwungen.
 
Nachdem die Taliban im August 2021 an die Macht zurückgekehrt waren, ersetzten sie das Ministerium für Frauenangelegenheiten durch das Ministerium für die Förderung der Tugend und die Verhinderung des Lasters, das die Frauen weiter misshandelt und die Jugend schikaniert. 
Die vorherige Regierung war zwar fehlerhaft und korrupt, aber sie bot zumindest einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft. Das derzeitige Regime ist in einem hoffnungslosen Ausnahmezustand gefangen. Diese Situation hat dazu geführt, dass die Mehrheit der Menschen im Land mit ständigen Problemen konfrontiert ist und die Verzweiflung von Tag zu Tag größer wird. In unserer Muttersprache bezeichnen wir diese Situation als "am Leben sein, aber zu den Toten zählen". Diese Situation ist nicht nur für die Afghanen erschreckend, sondern könnte auch zu erheblichen Problemen für die Region und die Welt führen, wenn sie anhält.

Geplatzte Träume 

Wir, die Jugend, träumten davon, dass das Doha-Abkommen zwischen den Taliban und den USA zu mehr Sicherheit und einem friedlichen Umfeld führen würde, in dem wir unsere Ausbildung fortsetzen könnten. Wir sehnten uns nach einem modernen, fortschrittlichen Leben mit Zugang zu verschiedenen Annehmlichkeiten und Technologien, die denen der Industrieländer ähneln. Wir träumten von einer besseren demokratischen Regierung, einer stabilen Wirtschaft, vielen Beschäftigungsmöglichkeiten, ausreichenden Nahrungsmitteln, modernen Wohnungen, gut gepflegten Straßen, einer hochwertigen Gesundheitsversorgung und einem fortschrittlichen Bildungssystem.

Leider sind unsere Träume zerplatzt. Nach der raschen und gewaltsamen Machtübernahme durch die Taliban am 15. August 2021 begannen Menschenrechtsverletzungen und die Aushöhlung der Demokratie, die die afghanische Jugend in ein erbärmliches und bedrückendes Umfeld stürzte. Das Land wurde für viele Afghan*innen, insbesondere für die Jugend, zu einem riesigen Gefängnis. Infolgedessen haben unzählige Afghan*innen, vor allem junge Menschen und manchmal auch ihre Familien, auf regulärem oder irregulärem Weg Zuflucht in den Nachbarländern und im Westen gesucht. Trotz zahlreicher Hindernisse und Gefahren auf ihrer Reise - wie raues Wetter, Mangel an Nahrung und Wasser, Schläge durch Grenzbeamte, Abschiebung, Raub, Ausbeutung durch Menschenhändler und die ständige Bedrohung durch den Tod - fliehen die Afghan*innen weiterhin. Die Verschlechterung der Sicherheitslage, die Folterung ehemaliger Mitarbeiter der Regierung und internationaler Organisationen, der eingeschränkte Zugang zu Bildung und Arbeitsmöglichkeiten, die extreme Armut, die unsichere Ernährungslage und der Bedarf an internationalem Schutz sind die Gründe für unsere Flucht.

Zwangs- und Frühverheiratungen, häusliche Gewalt und zahllose andere Härten wurden für die Afghan*innen zur täglichen Realität. Internationale Organisationen, die sich einst unermüdlich für Rechte und Demokratie einsetzten, wurden zum Schweigen gebracht und ihre Bemühungen zunichte gemacht. Junge Mädchen, die voller Träume und Hoffnungen waren, mussten mit ansehen, wie ihre Schulen und Universitäten unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Taliban geschlossen wurden. Bildung, insbesondere in Bereichen wie Wissenschaft und Kunst, wurde verboten. Die Taliban gaben verschiedene Entschuldigungen dafür an, dass sie die Schulen und Universitäten nicht wieder eröffnet haben, und ließen in den letzten drei Jahren immer wieder die Hoffnung aufkommen, dass sie schließlich wieder geöffnet werden würden. Diese Hoffnung hat sich jedoch nie erfüllt, was zu einem tiefgreifenden Vertrauens- und Hoffnungsverlust bei der Jugend geführt hat, die ihre Ausbildung abschließen möchte.

Als junger Mann glaube ich, dass die derzeitige Situation in Afghanistan das Ergebnis eines langjährigen Plans ist. Ich verbringe einen Großteil meiner Zeit damit, zu recherchieren und zu lesen, wie mein vom Krieg zerrissenes Land aus dieser tiefen Krise herauskommen kann. Es gibt Momente, in denen mich das Gewicht des Ganzen überwältigt und ich mich dabei ertappe, wie ich in Einsamkeit weine. Diejenigen von uns, die in Afghanistan geboren und aufgewachsen sind, teilen diese tiefe Traurigkeit. Weinen ist kein Zeichen von Schwäche; es ist Ausdruck eines tiefen Gefühls der Hilflosigkeit angesichts unserer Kämpfe.

Es schmerzt mich zutiefst, dass weder die internationale Gemeinschaft noch die afghanischen Kriegsherren, die in den letzten zwei Jahrzehnten ausgebildet wurden, das Ausmaß unseres Leidens wirklich verstehen. Die Extremisten von heute scheinen die Notlage unseres Volkes ebenso wenig zu verstehen. Diese Diskrepanz vertieft nur unsere Verzweiflung, während wir uns in diesen dunklen Zeiten nach echtem Verständnis und Unterstützung sehnen.
Ich wünsche mir eine Welt, in der unsere Stimmen gehört und unsere Kämpfe anerkannt werden. Ich hoffe auf eine Zukunft, in der Bildung für alle zugänglich ist, in der junge Afghan*innen ihre Träume ohne Angst verfolgen können und in der die internationale Gemeinschaft solidarisch mit uns ist. Wir sehnen uns nach einer gemeinsamen Anstrengung zum Wiederaufbau, zur Wiederherstellung der Hoffnung und zur Schaffung einer besseren Zukunft für die nächste Generation, die die Widerstandsfähigkeit und die Bestrebungen unseres Volkes widerspiegelt. 

*Name von der Redaktion geändert