Abschrecken oder aufnehmen - Wohin bewegt sich die europäische Asylpolitik?

Von Judith Kohlenberger

VIDC Online Magazin Spotlight

Dieser Artikel wurde in der Spotlight-Ausgabe Juni 2024 veröffentlicht. Wenn Sie den vierteljährlich erscheinenden Spotlight, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

Autorin*

Judith Kohlenberger ist Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien, dem Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip) und dem Jacques Delors Centre Berlin. Sie ist Sprecherin des Integrationsrats der Stadt Wien, Mitherausgeberin der Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung und Host des Podcasts Aufnahmebereit. Zuletzt erschienen ist das Buch “Gegen die neue Härte” (2024).

Brand Flüchtlingslager Lipa, Bihać, Bosnien-Herzegowina, 23/12/2020, © SOS Balkanroute

Als „historischer Durchbruch“ wird die Ende 2023 erzielte und im April 2024 beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) seitens der Politik gerne tituliert. Der „Asylkompromiss“, wie ihn Medien und Expert*innen deutlich weniger euphorisch bezeichnen, soll nun endlich Ordnung in das vermeintliche Chaos an Europas Grenzen bringen. Hinter der Ausnahmesituation, die längst zu einer chronischen geworden ist, stehen jedoch grundlegende Versäumnisse. Versäumnisse, die einen Tribut fordern, und zwar nicht nur von jenen, die in Europa Schutz suchen (Kohlenberger, 2024a). Wie sich der europäische Kontinent im globalen Flüchtlingsschutz positioniert und welche Wertigkeit er dem Asylrecht zumisst, wird entscheidend sein für seine Glaubwürdigkeit nach außen und unser Zusammenleben im Inneren.

Zentrale Bausteine der GEAS-Reform

Im Kern lässt sich die hochkomplexe GEAS-Reform auf drei zentrale Bausteine zusammenfassen: Schnellverfahren in Ankunftszentren an den Außengrenzen, verpflichtende flexible Solidarität für alle Mitgliedstaaten und verstärkte Rückführungen. Kenner*innen der EU-Asylpolitik ist bereits anhand dieser Schlagworte klar: So neu ist das nicht (Glorius, 2023).
Tatsächlich ist vieles dessen, worauf sich die EU nach langen und zähen Verhandlungen geeinigt hat, schon lange möglich und fand, etwa in Pilotprojekten, bereits statt. Da wären zuallererst die sogenannten „Schnellverfahren“ an den EU-Außengrenzen für Migrant*innen aus Ländern mit einer historisch niedrigen Anerkennungsquote. Quer durch die EU-27 muss diese Quote bei unter 20% liegen, um Migrant*innen im Rahmen dieser Grenzverfahren (die tatsächlich keine echten, vollwertigen Asylverfahren darstellen) in Anhaltezentren für die Dauer von bis zu zwölf Wochen festzuhalten. Während dieser Zeit findet ein Gesundheitsscreening statt und es wird über den Schutzbedarf entschieden. Fällt diese Entscheidung – wie in der Mehrzahl der Fälle zu erwarten ist – negativ aus, darf die Person rückgeführt werden, ohne jemals auf europäisches Festland vorgelassen worden zu sein. Die einzige Ausnahme stellen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dar. Alle anderen Migrant*innen, darunter auch ankommende Familien, können, je nach Herkunftsland und bisheriger Anerkennungsquote, in ein solches Grenzverfahren fallen.
Auch die „flexible Solidarität“ eröffnet die Möglichkeit der schleichenden Unterwanderung des bestehenden internationalen Flüchtlingsschutzes. Denn künftig erhalten Geflüchtete ein Preispickerl – wenn auch ein umgekehrtes. Die € 20.000 pro Flüchtling muss nämlich ein EU-Staat an einen anderen EU-Staat zahlen, um sie dort unterzubringen und vom eigenen Staatsgebiet fernzuhalten. Auch die Beteiligung an Rückführungen oder am „Kapazitätenaufbau“ in anderen Nicht-EU-Ländern stellen legitime Varianten dar, um die Aufnahme von Schutzsuchenden auf dem eigenen Territorium zu verhindern. Das ist nicht nur eine äußerst zynische Definition von „Solidarität“ (Saracino, 2019), sondern eröffnet den Mitgliedstaaten auch eine bequeme Möglichkeit, sich aus der Verantwortung zu stehlen und „den anderen“ die logistisch und innenpolitisch herausfordernden Fragen der Unterbringung, Versorgung und Integration von Flüchtlingen zu überlassen.
Neben diesen wichtigsten Eckpunkten wird auch die Definition der „sicheren Herkunftsstaaten“ insofern reformiert, als sie künftig mehr nationalstaatliche Autonomie zulässt, was den bereits bestehenden „Wettbewerb nach unten“ weiter verschärfen kann. Das wäre das Gegenteil der angestrebten Vereinheitlichung des europäischen Asylsystems, sondern könnte Mitgliedstaaten nur weiter motivieren, nationale Alleingänge zu starten. Veritable Alternativen zur aktuellen Abschreckungsrhetorik und -politik auf nationaler und europäischer Ebene, wie etwa legale Fluchtrouten und eine Diversifizierung von Arbeitsmigrationsmöglichkeiten, spart die Reform dagegen aus.

Alles nur graue Theorie?

Mit mehr als 900 Seiten und zehn Rechtsakten ist der Plan zur Neuausrichtung des europäischen Asylsystems äußert ambitioniert und stellt, folgt man der massiven Kritik von Hilfsorganisationen und Expert*innen (Pro Asyl, 2023; Metzger, 2023), eine drastische Verschärfung bisheriger Asylregeln dar. Ob dieser Plan aber jemals Realität werden wird, bleibt fraglich. Angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre müssen wesentliche Eckpunkte der Reform als reines Wunschkonzert mancher Mitgliedstaaten abgetan werden. Der deutsche Rat für Migration wies in einer ersten Stellungnahme auf Evidenz aus Pilotprojekten an den EU-Außengrenzen hin, die eine Art Blaupause für die jetzige Reform darstellen (Hänsel und Kasparek, 2020). Die Evaluierung dieser Projekte zeigte, dass menschenrechtliche Standards in Auffangzentren an der Grenze nicht eingehalten werden konnten. Ebenso wenig war Rechtsbeistand gewährleistet, vielmehr wurden Anwält*innen und NGOs kriminalisiert. Verbessert wird dadurch die Situation in den Mittelmeeranrainerstaaten wohl kaum.
Ähnlich unwahrscheinlich ist, dass durch die Reform Sekundärmigration, also die Weiterreise von Schutzsuchenden von einem EU-Mitgliedsstaat in einen anderen, unterbunden wird. Weder Länder mit Außengrenzen noch Geflüchtete selbst hätten irgendeinen Anreiz dazu, im Gegenteil; niemand wird freiwillig in den Auffangzentren in den Grenzländern bleiben, doch zurück werden viele der abgelehnten Asylwerbenden ebenfalls nicht wollen. Noch dazu, weil ein zentraler Baustein der Reform, nämlich die Rückstellung von Geflüchteten in sichere Herkunftsländer oder Drittstaaten, ohne deren Einbeziehung beschlossen wurde. Welche Länder sich konkret dazu bereit erklären werden, die eigenen Staatsbürger*innen oder gar nur durchgereiste Migrant*innen aufzunehmen, bleibt offen. 
Bereits zum Zeitpunkt der formalen Verabschiedung der Reform kündigten mehrere Mitgliedstaaten, darunter Ungarn, Polen und die neue niederländische Rechtsregierung unter Geert Wilders an, sich in keiner Weise an der Asylverantwortlichkeit Europas beteiligen zu wollen – noch nicht einmal durch Ausfallszahlungen an andere Mitgliedstaaten, obwohl genau dieses Schlupfloch schon ein Entgegenkommen der Kommission gegenüber den migrationsskeptischen Nationalregierungen darstellte. Besonders pikant ist das angesichts der Tatsache, dass mit der ungarischen Ratspräsidentschaft ab Juli 2024 ein Land mit dem Beginn der Umsetzung der Reform betraut sein wird, das sich seit Jahren (erfolgreich) gegen jegliche Beteiligung an Europas Asylverantwortung wehrt. Mittlerweile kommen mehrere EuGH-Urteile zweifelsfrei zu dem Schluss, dass die ungarischen Asylregeln – die einer de facto Abschaffung des Asylrechts gleichkommen – gegen geltendes EU-Recht verstoßen. Allein, auf Sanktionen gegen Ungarn konnten sich die restlichen 26 Mitglieder bisher nicht einigen, will man doch den ohnehin schon bröckelnden Zusammenhalt in der Union nicht noch weiter gefährden.
Doch nicht nur in punkto Verantwortungsteilung tun sich Hürden auf. Die Reform droht auch hinter das zentrale Versprechen der EU-Innenminister*innen zurückzufallen, damit das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Die Annahme, dies würde durch mehr Abschottung und Auslagerung von Asylverantwortlichkeit gelingen, unterliegt einem fundamentalen Trugschluss, nämlich: Je „schärfer“ die Verfahren, desto weniger Menschen würden sich auf den Weg nach Europa machen. Dem muss auf Basis der wissenschaftlichen Evidenz und der Erfahrungen der letzten Jahre, die sukzessive Verschärfungen des EU-Asylregimes mit sich brachten, deutlich widersprochen werden: Je schärfer, härter und abgeschotteter Europas Umgang mit Schutzsuchenden ist, desto höher das Risiko zu verunfallen, oder eben sogar zu sterben, für all jene, deren Flucht alternativlos ist.

Außengrenzen wirken nach innen

Mitunter heftiger als die abschreckende Wirkung der GEAS-Reform auf Schutzsuchende außerhalb Europas könnten die Effekte der neuen Asylregeln auf die Gesellschaft im Inneren ausfallen (Heins und Wolff, 2023). Durch Zugeständnisse der politischen Mitte an restriktive, das Flüchtlingsrecht einschränkende Positionen verschiebt sich die Grenze des Sag- und Machbaren immer weiter nach rechts. Die Anbiederung an radikale Ränder lässt Illiberalität und Autoritarismus erstarken, macht unsere Gesellschaften intoleranter und härter gegen alles, was als „fremd“ wahrgenommen wird (Kohlenberger, 2024b). Rassistischen, menschenverachtenden Positionen wird somit nicht die Macht entzogen, sondern sie werden salonfähig gemacht: Das bereitet den Boden für rechte Parteien, die den Diskurs bei nächster Gelegenheit wieder ein Stück zu ihren Gunsten verschieben.
Die europäische Grenzpolitik forderte in den letzten Jahren einen immer höheren Tribut, und zwar nicht nur von jenen, die in Europa Schutz suchen. Für unsere Härte zahlen wir einen Preis – im ökonomischen, vor allem aber im ideellen und rechtlichen Sinne.