Die Klimakatastrophe vollzieht sich mit all ihrer zerstörerischen Kraft, das haben uns die vielen Waldbrände heuer in Europa überdeutlich gezeigt. Die Länder und Menschen des Globalen Südens sind besonders anfällig für die Folgen und können sich weniger schützen. Insbesondere der indische Subkontinent wird von der Klimakrise heimgesucht: Millionen von Menschen mussten sich allein heuer vor den kurzfristigen Folgen- beispielsweise Überschwemmungen- oder den langfristigen Folgen des Klimawandels- wie beispielsweise Dürren- in Sicherheit bringen. Besonders hart getroffen hat es im Herbst 2022 Pakistan, wo beinahe ein Drittel des Landes überflutet war. Darüber hinaus waren auch Indien und Bangladesch von einem außergewöhnlich starken Monsunregen im September stark betroffen.
Michael Fanizadeh hat über die Auswirkungen der Klimakatastrophe in Südasien mit der indischen Migrationsforscherin Paula Banerjee gesprochen. Banerjee war Vortragende bei der VIDC/WIDE-Veranstaltung „Fluchtursache Klimawandel?!“ am 10. November in Wien sowie bei der 8. Entwicklungstagung 2022 in Linz. Dabei betonte sie, dass es um mehr als „nur“ um die Bewältigung der Klimakrise gehe: „Es geht darüber hinaus, es geht um die Würde der Menschen, es geht um ihr Leben und um internationale Gerechtigkeit.“
Fanizadeh: Wie wird die Klimakrise in Ihrem Land bzw. am indischen Subkontinent sichtbar?
Banerjee: Sie betrifft uns alle in vielfältiger Weise, denn die Klimakrise ist nicht nur eine Klimakrise, sondern auch eine Ressourcenkrise und eine Gesundheitskrise. Es ist eine Krise der Zukunft und eine Krise, die bereits heute in der Gegenwart stattfindet. Wir sind alle in unserem täglichen Leben davon betroffen. Die große Hitze bei uns in diesem Jahr war furchtbar, und ich zitiere aus einer Statistik, die mich daran erinnert, was wir gerade durchmachen: 34 Millionen Menschen werden allein in Indien bis 2030 wegen der Hitze ihre Arbeit verlieren. Dieses Jahr gab es Dürren in den indischen Provinzen Jharkhand, Bihar und Bengal. Wobei Bengal und das Nachbarland Bangladesch der Reisgürtel der Region sind. Wenn es dort eine Trockenperiode gibt, werden die Lebensmittelpreise teurer. Und was nach der Dürre übriggeblieben ist, wurde dann von den Überschwemmungen weggerissen. Wir nennen es jetzt Inflation, aber es ist nicht nur ein ökonomisches Problem, sondern hat auch mit der Klimakrise zu tun.
Fanizadeh: Welchen Einfluss hat die Klimakrise auf Migration und Vertreibung? Wie wirkt sich das in Ihrer Region aus?
Banerjee: Wie ich bereits gesagt habe, die Klimakrise ist nicht einfach nur die Klimakrise, es geht um große Vertreibungen; und wenn wir über Südasien sprechen, geht es immer um Millionen. Allein 12 Millionen Kinder sind derzeit von der Klimakatastrophe in Südasien betroffen. 18 Millionen Menschen müssen in der Region in den nächsten fünf Jahren wegen dem Klimawandel auswandern. Die Menschen verlassen ihre Heimat aber nicht nur wegen der Dürre oder Überschwemmungen, diese Ereignisse werden immer begleitet vom Mangel an Ressourcen, Nahrungsmittelknappheit und Hunger. Menschen sind gezwungen zu gehen. Das wird manchmal so dargestellt, als würden diese Menschen aus wirtschaftlichen Gründen migrieren. Aber nein: Die Situation ist lebensbedrohlich. Deshalb flüchten Millionen Menschen. Laut Statistiken der Internationale Arbeitsorganisation „ILO“ haben wir in Indien bereits 400 Millionen migrantische Arbeiter*innen. Als Ergebnis dieser Hitzewelle und der Überschwemmungen werden jetzt 40 Millionen von ihnen permanent vertrieben.
Fanizadeh: Wo kommen diese migrantischen Arbeiter*innen her?
Banerjee: Die meisten kommen aus Indien selbst. Dazu kommen Menschen aus Nepal, die in Indien ebenso als Intern-Vertriebene gelten. Und Bangladesch ist ebenso betroffen von der Klimakrise und muss mit Vertreibung umgehen. Der angstmachende Teil dabei ist: In Bengal und Bangladesch haben wir regelmäßig Überschwemmungen wegen Taifunen und Wirbelstürmen. Zu Beginn der Corona-Pandemie im Mai 2020, als die Menschen so große Angst hatten zusammen zu kommen, hatten wir z.B. den Zyklon Amphan. Als Ergebnis mussten zehntausende Menschen die Küstenregion Sunderbans verlassen und in Schulräumen übernachten. Es gab keine Möglichkeit für Social Distancing.
Fanizadeh: Eine Studie von CARE aus dem Jahr 2020 hat gezeigt, dass Frauen und Mädchen stärker von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind als Männer. Wird dieser Aspekt in der Debatte und bei den ergriffenen Maßnahmen ausreichend berücksichtigt?
Banerjee: Frauen sind am nächsten dran an der landwirtschaftlichen Produktion, wir sprechen hier von indigenen Frauen. Ihr Status, ihr Leben, hängt davon ab was sie produzieren. Aber es geht nicht nur um die Produktion, sondern auch um die Verteilung. Frauen sind für ihre Familien verantwortlich und müssen Essen organisieren. Wenn ein Mann das macht wird ihm applaudiert, aber wenn eine Frau es nicht machen kann, wird sie verflucht. Frauen haben auf die Alten, Schwachen und Kinder aufzupassen. Frauen haben deshalb die engste Beziehung zum Land, denn ihr Leben hängt davon ab. In Bezug auf Migration: Frauen entscheiden nicht, dass sie migrieren, sie werden dazu gezwungen. Viele Frauen migrieren gegenwärtig, weil alle Krisenländer mitbekommen haben, dass die Remittances (Rücküberweisungen in die Herkunftsländer und -familien, M.F.) höher sind, wenn Frauen statt Männer migrieren. Daher sind die Zahlen mittlerweile fast gleich hoch wie bei den Männern. Wir sprechen jetzt von der Feminisierung von Migration. Das passiert nicht, weil so viele Frauen migrieren möchten, auch wenn es sich vielleicht einige wünschen, aber hinter dem Wunsch steht meistens eine Notwendigkeit. Die Verantwortung der Familie liegt jetzt in ihren Händen. Wenn z.B. der Vater an Corona verstorben ist, ist oftmals ein weibliches Familienmitglied als nächstes dran. Z.B. die 16 Jahre alte Tochter. Ihre Sexualität wird oftmals als Ressource der Familie gesehen und ihre Arbeitskraft wird nicht als ihre Arbeitskraft anerkannt, sondern als Arbeitskraft der Familie. Und manchmal werden dabei Kollateralschäden in Kauf genommen.
Fanizadeh: Laut Klimaministerin Leonore Gewessler will Österreich in den kommenden vier Jahren mindestens 50 Millionen € für Projekte zur Stärkung der Resilienz gegenüber dem Klimawandel in „Entwicklungsländern“ bereitstellen. Ist das genug Unterstützung für die besonders von der Klimakrise betroffenen Länder des Globalen Südens?
Banerjee: Es ist zunächst keine Frage des Geldes, sondern des Respekts. Es geht darum anzuerkennen, dass der Globale Süden nicht um Geld bettelt. Die ganze Sache der Zahlungen für die Klimaschäden- diese Anliegen fordern die Länder des Globalen Südens ein. Vom Globalen Norden braucht es ein Verständnis für die Ursachen des Problems. Wer hat die Probleme wirklich verursacht? Wobei ich ein Problem mit der Homogenisierung habe, denn es geht nicht einfach um den „Globalen Norden“, sondern um die Industrie des Globalen Nordens, und manchmal sind die Regierungen im Globalen Süden genauso Täterinnen. Es geht um die reichen Leute, die die Erde am meisten ausgebeutet haben, sie sollten am meisten zurückgeben. Das Problem ist aber, dass die meisten Staaten von den reichen Leuten, von reichen Lobbys, dominiert werden. Dennoch ist es einfach das Recht der Menschen im Globalen Süden, dass sie Schadenersatz fordern. Daher sollte die Zivilgesellschaft im Globalen Norden und Süden zusammenstehen und gemeinsam ihre Rechte auf Schadenersatz geltend machen (16. Dezember 2022).