Afghanistan: Sechs Monate nach der Katastrophe

Podiumsdiskussion vom 3. März 2022

Mitwirkende


Heela Najibullah

ist Doktorandin am Institut für Religionswissenschaft der Universität Zürich und hat ihren MA in Friedens-, Konflikttransformations- und Sicherheitsstudien an der Universität Innsbruck gemacht. Sie ist Autorin eines Buches über Versöhnung und soziale Heilung in Afghanistan. 

Horia Mosadiq

ist eine afghanische Menschenrechtsaktivistin und Journalistin. Als Kandidatin für den Sacharow-Preis 2021 war sie unlängst Keynote Speakerin bei den Afghan Women Days im EU-Parlament. Sie ist seit 23 Jahren in Afghanistan und in der Region Südasien tätig.

Jared Rowell

ist Landesdirektor des Danish Refugee Council in Afghanistan. Rowell ist für ein Team von über 700 Mitarbeitern verantwortlich, die in 18 Provinzen des Landes in einer Reihe von Sektoren tätig sind und sich auf humanitäre Hilfe und längerfristige dauerhafte Lösungen konzentrieren.

Moderation: Ali Ahmad

ist Doktorand am Department für Migration und Globalisierung an der Donau-Universität Krems (DUK). Er erhielt seinen Master-Abschluss in Friedens- und Konfliktstudien von der European Peace University (EPU). Ahmad arbeitet seit 2015 als Konsulent für das VIDC.

Eröffnung: Michael Fanizadeh

ist Politikwissenschaftler. Seine Arbeitsschwerpunkte bei VIDC Global Dialogue sind Migration und Entwicklung, Menschenrechte und Antidiskriminierung, mit einem regionalen Schwerpunkt auf dem Nahen und Mittleren Osten.

Bericht


Wasil Faizi

Deutsch: Michael Fanizadeh, VIDC Global Dialogue

Kuratiert von


Ali Ahmad und Michael Fanizadeh, VIDC Global Dialogue

Kooperationen

Im März 2022 ist es sechs Monate her, dass die Taliban in Afghanistan an die Macht zurückgekehrt sind. Sechs Monate zuvor, im August 2021, war der afghanische Staat zusammengebrochen. Die internationalen Streitkräfte zogen sich nach zwei Jahrzehnten Krieg zurück und die Taliban übernahmen die Kontrolle. Dieses Comeback hat in nur sechs Monaten katastrophale Folgen gezeitigt. Um die Einzelheiten dieses enormen Wandels und die Perspektiven für die Zukunft zu erörtern, hat das VIDC Heela Najibullah, Horia Mosadiq und Jared Rowell eingeladen. Najibullah ist Doktorandin mit einem Masterabschluss in Frieden, Konflikt, Transformation und Sicherheit. Sie ist auch Autorin von „Reconciliation and Social Healing in Afghanistan“. Horia Mosadiq ist eine afghanische Menschenrechtsverteidigerin und Journalistin, und Jared Rowell ist der Landesdirektor des Danish Refugee Council (DRC) in Afghanistan.

Die Veranstaltung fand in Zusammenarbeit mit dem Danish Refugee Council und den afghanischen Vereinen AKIS, Neuer Start, Afghan Wulas, IGASUS und IEZ statt.

Die aktuelle humanitäre Lage in Afghanistan

Jared Rowell begann mit einem Überblick über die Situation: Afghanistan befände sich in einer „extremen humanitären Krise“. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung - 22,4 Millionen Menschen - seien derzeit von Ernährungsunsicherheit betroffen, 3,7 Millionen Menschen extrem gefährdet. Mindestens 1700 Gesundheitszentren wurden landesweit geschlossen, insbesondere in ländlichen Gebieten. Krankheiten wie Cholera und Masern haben zugenommen, weil es keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und schlechte Lebensbedingungen gibt. Die Menschen müssen weite Strecken zurücklegen, um medizinische Versorgung zu erhalten. Da es kein Testsystem gibt, sind die Daten zu Covid-19 und deren Behandlung nicht mehr zuverlässig.

Er erklärte, dass es seit August vermehrt Berichte über geschlechtsspezifische Gewalt, sexuelle Ausbeutung, Missbrauch und Frühehen gibt. Eltern müssen ihre Kinder arbeiten lassen, anstatt sie zur Schule zu schicken. Der Drogenkonsum hat aufgrund des Traumas im Land zugenommen, ebenso wie die Gewalt. Täglich gibt es 700.000 neue Binnenvertriebene und bis zu 20.000 Rückkehrer*innen aus Ländern wie dem Iran und Pakistan, weil sie dort keine Arbeit finden und zwangsweise zurückgeschickt werden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist um 30 % gesunken und die Währung wurde um 12 Prozent abgewertet. Lehrer*innen, Regierungsangestellte usw. können nicht mehr bezahlt werden. Jared Rowell fügte hinzu, dass sich der Jahresvoranschlag der UN für humanitäre Hilfe in Afghanistan im Jahr 2022 auf 4,5 Mrd. USD beläuft. Dies ist der größte Einzelaufruf in der Geschichte der UNO. Er machte auch deutlich, wie groß der Bedarf ist.

Jared Rowell forderte politische Lösungen für den Geldfluss der Zentralbanken und Klarheit über die Ausnahmen von Sanktionen für Humanitäre Hilfe. Es müsse betont werden, wie wichtig offene Grenzen für Evakuierungen und Migrationen, auch nach Europa, seien. Pakistan und Iran seien keine idealen Orte für einen langfristigen Aufenthalt: „Wenn Menschen, insbesondere Frauen und Kinder, eindeutige Gründe haben, warum sie in sicherere Länder, insbesondere nach Europa, auswandern müssen, müssen wir die europäischen Länder ermutigen und uns dafür einsetzen, dass diese gefährdeten Menschen leichteren Zugang erhalten, um dort Asyl zu beantragen. Wir sollten die Bedrohung durch den Islamischen Staat (IS-KP) eindämmen. Wir müssen uns stärker auf dauerhafte Lösungen konzentrieren. Wir werden nicht in der Lage sein, die längerfristigen Probleme anzugehen, insbesondere für Frauen und Kinder, wenn wir keine längerfristigen Modelle haben, die es uns ermöglichen, mehr Unterstützung zu leisten.“

Was ist beim Friedensprozess schief gelaufen?

Heela Najibullah antwortete: „Afghanistan ist arm, nicht nur geopolitisch und strategisch in der Region, sondern auch global gesehen. Der Sturz der afghanischen Regierung im August 2021 war im Grunde die Machtübernahme durch eine radikale extremistische Gruppe, die die afghanische Regierung mit Waffengewalt ausbluten ließ.“

Sie wies darauf hin, dass jeder Friedensprozess in der Regel bestimmte Elemente enthält, die seine Grundlage bilden und ihn für die Bevölkerung glaubwürdig machen müssen. Doch während des dreijährigen Doha-Friedensprozesses zwischen den USA und den Taliban standen die Menschen nie im Mittelpunkt: „Eine der grundlegenden Herausforderungen war die Tatsache, dass die USA beschlossen hatten, ihre Truppen abzuziehen. Das war der Schwerpunkt des Doha-Abkommens, nicht eine dauerhafte politische Lösung, die die Afghan*innen suchten, um Frieden zu finden.“

Infolgedessen wurden die USA und ihre Verbündeten besiegt, fügte sie hinzu. Nach Ansicht der Haqqanis (einer radikalen Taliban-Organisation) hat der Dschihad wieder gewonnen: „Die Taliban behaupten zwar, sie hätten eine Amnestie für diejenigen verkündet, die mit der früheren afghanischen Regierung zusammengearbeitet haben, aber das ist nicht der Fall. Menschen, die in der Armee gearbeitet haben, Menschen, die gegen die Ideologie der Taliban sind, und Frauen, die für ihre Rechte eintreten, werden systematisch gefoltert, als Geiseln genommen, inhaftiert und getötet. Jeder und jede, die die Auffassung des Islam, die das derzeitige Taliban-Regime vertritt, in Frage stellt, wird isoliert, gefoltert oder getötet.“

Perspektiven für den Frieden

In Bezug auf die Friedensperspektiven argumentierte Heela Najibullah, dass die Suche nach Frieden eine Frage ist, die sich die Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen in der internationalen Gemeinschaft und in Europa stellen müssen. Sie müssen sich fragen, ob sie Afghanistan für den Frieden oder zur Kriegsführung angesichts der Rivalitäten in der Welt nutzen wollen. Wenn das Ziel Frieden in Afghanistan sei, müsse es gleichzeitige und parallele Prozesse geben, betonte sie – und zwar auf nationaler und auf internationaler Ebene sowie regionaler Ebene.

Ihrer Meinung nach könnte eine Loya Jirga (die traditionelle große afghanische Versammlung) ein wirklich repräsentatives Organ des afghanischen Volkes sein. Das sei die traditionelle Rolle der Loya Jirga, argumentierte sie: „Es sollten nicht einzelne Personen oder ältere Gruppen ausgewählt werden, die sich als destruktiv für Afghanistan erwiesen haben. Es muss ein Konsultationsprozess oder ein Entscheidungsgremium geschaffen werden, das in der Lage ist, politische Entscheidungen herbeizuführen, die schließlich zu einer Wahl führen. Und es müssen aktive politische Parteien vor Ort sein. Aus allen Bereichen des Lebens, von links bis rechts. Die Loya Jirga könnte etwa 24 Monate lang ein repräsentatives nationales politisches System schaffen, das zu einer Wahl führen könnte. All dies könnte geschehen, wenn die Neutralität Afghanistans auf internationaler Ebene bei den Vereinten Nationen angestrebt wird und eine repräsentative politische Struktur im Lande geschaffen wird.“
  
Auf eine Frage aus dem Publikum antwortete Heela Najibullah: „Wenn man sich die Geschichte Afghanistans anschaut, dann waren die Zeiten, in denen Frieden herrschte und es keinen Krieg gab, die Zeiten, in denen Afghanistan neutral war oder den Weg der Neutralität eingeschlagen hat.“ 

Ein kollektives Versagen

Horia Mosadiq stimmte den Ausführungen von Jared Rowell und Heela Najibullah zu und bezeichnete den Zusammenbruch des afghanischen Staates als ein „kollektives Versagen“ der internationalen Gemeinschaft und der Afghan*innen selbst. „Jetzt haben wir es mit einem Regime zu tun, das nicht nur ein geschlechtsspezifisches Apartheidregime ist, das Frauen nicht einfach als menschliche Wesen anerkennt, sondern wir haben es mit einer Regierung zu tun, die einfach niemanden akzeptiert, der sich ihrer Lebensweise widersetzt, die sie gewählt und über 35 Millionen Menschen aufgezwungen hat.“

Horia Mosadiq ging im Detail darauf ein, dass die Taliban eine Regierung seien, die auf Gewalt, Diskriminierung aufbaue und, was am Schlimmsten sei, eine Regierung, die außer ihren Anhänger*innen niemanden anerkenne. Sie beleuchtet die drastischen Veränderungen unter den Taliban und sieht die Errungenschaften der letzten 20 Jahre vollständig verloren. In den letzten 20 Jahren waren Frauen Botschafterinnen, Ministerinnen, Abgeordnete, Journalistinnen, Führungspersönlichkeiten, Unternehmerinnen, Lehrerinnen, Studentinnen, und unter den Taliban „scheinen sie jetzt zu 'niemand' zu werden, sie werden zu Personen, die keine Identität haben dürfen. Frauen verschwinden, werden gefoltert, geschlagen und in Haftanstalten festgehalten, nur weil sie friedlich für ihr Recht auf Zugang zu Bildung und Arbeit demonstrieren.“ 

„Ich, als Afghanin, möchte sagen, dass ich mich von allen Seiten verraten fühle. Von den Vereinten Nationen, den USA, den Europäer*innen, von fast allen.“ Zum Abschluss der Diskussion kritisierte Mosadiq die Rolle Europas und verwies auf Norwegen und die Schweiz, die in den letzten Monaten Taliban-Delegationen beherbergt haben. Ihrer Meinung nach müsse jedes Engagement der internationalen Gemeinschaft gegenüber den Taliban an Bedingungen geknüpft sein. Nach 40 Jahren Krieg gäbe es in Afghanistan Millionen von Witwen, und es gibt niemanden, der sich um sie kümmert, wenn sie keine Arbeit finden. Auflagen wie die Rückkehr der Frauen an ihre Arbeitsplätze, die Einstellung von Frauen bei Hilfseinrichtungen usw. sind nur einige Beispiele dafür, welche Forderungen erhoben werden könnten.

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