„Wir waren alle geschockt!“ - Menschen mit Fluchtgeschichte zum Anschlag in Wien

Interviews geführt von Michael Fanizadeh (VIDC) und Lena Gruber (VIDC)

Gedenkstätte Friedmannplatz, Wien © Bwag/Commons

Der Terroranschlag in Wien am 2. November 2020 hat uns alle getroffen. Er hat auch Menschen heimgesucht, die in Österreich Schutz vor Krieg und Gewalt in ihren jeweiligen Herkunftsländern gefunden haben. Wir sprachen mit der Syrerin Samar Al Bradan, der Somalierin Suad Mohamed und dem Afghanen Shokat Ali Walizadeh darüber, wie sie die Schreckensnacht in Wien erlebt haben und was sie für die Zukunft befürchten. Zudem führten wir mit Barbara Preitler von Hemayat ein Gespräch über Strategien zur Bewältigung post-traumatischer Situationen.

„Wien ist meine Stadt“

Samar Al Bradan flüchtete vor fünf Jahren nach Österreich und studiert heute Rechtswissenschaften in Wien. Sie wird das VIDC  bei der Umsetzung einer kürzlich erschienen Studie zu Frauen, Friedenund Sicherheit im Fluchtkontext unterstützen.

Wie hast du den 2. November, den Abend des Terroranschlags in Wien, erlebt?

Al Bradan: Es war der letzte Tag vor dem Lockdown. Da haben wir gesagt, dass wir ins Kino gehen. Der 2. November ist ein besonders Datum für mich. Ich musste Syrien vor genau fünf Jahren verlassen und war danach noch nicht gleich in Sicherheit. Bis ich dann in Österreich angekommen bin, hat es zehn Tage gedauert. Im Kino habe ich Nachrichten von meinem Bruder erhalten: „Bleib wo du bist! Gehe nicht raus!“.

Du hast dann eine Stunde im Kino ausgeharrt?

Al Bradan: Ja, diese Stunde hat mich fertig gemacht. Das Warten, nicht zu wissen was los ist. Ich habe mir gedacht: Das sind genau die gleichen Erlebnisse, die wir in Syrien jeden Tag gehabt haben. Auf einmal hat sich alles in meinem Kopf wiederholt. Meine erste Frage war: Ist der Täter ein Syrer? Ich habe mich nicht gefragt: Wie viele sind gestorben? Sondern: Hat das was mit Syrien zu tun? Wie wird sich das auswirken? Das hat mich später sehr irritiert.

Sofort machten sich also Ängste über die Auswirkungen auf das Leben in Wien bemerkbar?

Al Bradan: Ich hab’s beim Nachhauseweg vom Kino bei mir selbst bemerkt. Als ich eine Frau mit Kopftuch gesehen habe, war ich sehr zurückhaltend. Obwohl das meine eigene Kultur ist und meine Oma und Tante Kopftuch tragen. In diesem Moment habe ich mir gedacht: Jetzt verstehe ich, warum Islamophobie so stark ist. Das hat mir im Nachhinein sehr leid getan, da diese Ängste nicht gerechtfertigt sind. Was mich in der ersten Woche außerdem sehr beschäftigt hat, war: Ich hatte das erste Mal das Gefühl, ich gehöre hier her und Wien ist meine Stadt. Ich liebe diese Stadt, das ist meine Stadt. Ich will nicht, dass hier so etwas passiert. Das waren aber nicht nur meine Gedanken, auch wenn ich mit Freund*innen geredet habe, sagten sie dasselbe. Wien ist jetzt wie Damaskus für mich: Ich möchte, dass es geschützt bleibt.

„Der Anschlag hat die Angst vor Rassismus vergrößert“

Shokat Ali Walizadeh ist Geschäftsführer des afghanischen Sport- und Kulturvereins NEUER START. Er ist 2008 nach Österreich gekommen. In Zusammenarbeit mit dem VIDC hat er u.a. Trainings zur Gendersensibilisierung afghanischer Männer durchgeführt.

VIDC: Wo hast du den Abend verbracht?

Walizadeh: Ich war zu Hause mit der Familie. Wir haben das Geschehen im Fernsehen auf ORF2 verfolgt. Ich bin sehr froh, dass wir ORF geschaut haben und nicht die anderen Sender, die noch schlimmer berichtet haben. Aber trotzdem: Das war wie im Krieg. Das war ein schrecklicher Abend für mich persönlich. Dass das in Wien passieren kann, das habe ich mir überhaupt nicht vorstellen können.

VIDC: Welche Erinnerungen hat der Anschlag geweckt?

Walizadeh: Der Anschlag und die Trauer danach hat mich an ein Ereignis aus meiner Kindheit erinnert. Es war ebenfalls Herbst: Ein Anführer unserer Volksgruppe wurde zusammen mit anderen von den Taliban getötet. Wir waren als kleine Kinder bei der Beerdigung dabei und haben genau geschaut, was da passiert. Danach wurde das ganze Dorf abgesperrt und keine Lebensmittel sind mehr zu uns gekommen. Wir haben uns nur noch von Maismehl und Linsen ernährt, es gab kein normales Brot mehr.

Habt ihr wegen der Herkunft des Attentäters Angst gehabt?

Walizadeh: Wir haben Angst gehabt, dass die afghanische Community wieder in den Mittelpunkt rücken könnte: Viele Menschen in Österreich pauschalisieren leider was die Herkunft von Menschen betrifft. Der Rassismus ist leider stärker geworden, und das wird bei uns auch diskutiert. Meine Frau trägt beispielsweise ein Kopftuch und ist von weitem als Muslima zu erkennen. Dieser Anschlag hat unsere Ängste weiter vergrößert.

 


“Die Terrorist*innen können uns nicht trennen”

Suad Mohamed ist Somalierin und ihre Familie ist 1991 über Saudi Arabien nach Syrien geflüchtet. Während ihre Familie in Syrien geblieben ist, absolvierte Mohamad ein Doktoratsstudium der Pharmazie  in Pakistan. Seit Sommer 2016 lebt sie in Wien. Für das VIDC hat sie einen Bericht zur somalischen Diaspora in Österreich verfasst und organisiert Netzwerktreffen der somalischen Diaspora in europäischen Ländern.

Wie hast du vom Anschlag erfahren?

Mohamed: Ich habe gearbeitet und als ich nach Hause gefahren bin, habe ich einen Anruf von meiner Mutter in Syrien erhalten: “Wo bist du? Ich habe in den Nachrichten gesehen, dass in Wien etwas passiert ist”. Ich dachte zunächst: Wenn sie mich anrufen, dann ist etwas bei ihnen passiert. Zu Hause angekommen erfasste mich dann eine Angst, die besonders Frauen verstehen, die sich nicht beschützt fühlen. Dann begann ich über meine Freund*innen nachzudenken: Wo ist diese Freundin? Wo ist die andere? In jener Nacht konnte ich überhaupt nicht schlafen: Wurde jemand getötet? Wurde jemand verletzt? Habe ich jemand vergessen? Funktioniert mein Mobiltelefon? Wenn du in einem Kriegsgebiet gelebt hast, hast du immer diese Angst. Das können nur Menschen verstehen, die dies erlebt haben.

Wie hat die somalische Community in Österreich die Tage nach dem Angriff erlebt?

Mohamed: Wir waren alle geschockt. Eine somalische Freundin, die schon seit 11 Jahren in Österreich lebt, erzählte mir, dass sie am Abend danach in der Nähe des Tatortes joggen war. Sie trug ein Kopftuch und wurde von einer Frau und einem Mann beschimpft: „Du bist eine Terroristin, du möchtest uns umbringen!”. Und als meine Freundin weglaufen wollte, haben die zwei sie verfolgt. Dabei hat sie “nur“ einen Turban getragen. Glücklicherweise war die Polizei auf der Straße, die sie beschützte.

Hat sich die Stimmung in Bezug auf muslimische Menschen in Wien nachhaltig verändert?

Mohamed: Islamophobie und Rassismus gab es vorher auch schon. Aber jetzt heißt es: „Die waren das!”. Wir sind verbale Übergriffe gewohnt, aber jetzt haben wir Angst vor physischen Attacken. Ich habe besonders Angst um muslimische Frauen, die aufgrund ihrer Kleidung und des Kopftuchs sichtbar sind. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass ich positive Dinge in der Nacht des Anschlags erlebt habe. Viele meiner österreichischen Freund*innen, die für mich meine Familie geworden sind, zeigten mir ihre Liebe und Fürsorge. Ich spürte die Liebe meiner Freund*innen, die mich anriefen: “Die Terrorist*innen können uns nicht trennen. Das ist das was sie wollen, aber wir kämpfen gemeinsam dagegen!“.

„Sicherheit herstellen“

Die Psychotherapeutin und Psychologin Barbara Preitler arbeitet u.a. beim 1995 gegründeten Verein Hemayat, der sich in Wien als ein Zentrum für dolmetschgestützte,  medizinische, psychologische und psychotherapeutische Betreuung von Folter- und Kriegsüberlebenden etabliert hat.

Wie sind Sie Ihren Klient*innen nach dem Anschlag vom 2. November begegnet?

Preitler: Da ist es sehr schnell darum gegangen, die Unterschiede deutlich zu machen. Eine Frau hat mir gesagt: „Das ist ja wie bei uns, als der Krieg in Syrien angefangen hat“. Darauf habe ich ihr erklärt, dass hier in Wien zwar etwas völlig außer Kontrolle geraten ist an diesem Abend, in der Nacht und auch noch am Morgen danach. Aber spätestens am Nachmittag des 3. November konnten wir “im Psycholog*innen-Sprech” von einer echten post-traumatischen Situation sprechen. Das heißt, im Unterschied zu Syrien, war die Bedrohung wieder vorbei.

Das heißt, bei ihrer Arbeit versuchen Sie die Geschehnisse einzuordnen?

Preitler: Ja, da ist etwas hochgradig Traumatisches passiert, aber es ist wieder vorbei und unter Kontrolle. Während, wenn so etwas in Syrien oder Afghanistan passiert, weißt du nicht, ob morgen oder übermorgen nicht wieder etwas Ähnliches geschieht. Bei Trauma-Arbeit geht es immer wieder darum, Zeitdimensionen richtig zu stellen: Was war damals und was ist jetzt? Und natürlich, wenn so etwas massiv “antriggert” und sich wie im Krieg anfühlt: Dann ist das eine Möglichkeit wieder in die Erinnerungen zurück geworfen zu werden. Wobei ich bei meinen Klient*innen festgestellt habe, dass es in zwei Richtungen ging. Die einen sind voll in die Erinnerungen eingetaucht, und es kam teilweise auch zu massiven Flashbacks, also dem Wiedererleben der Angst. Und eine andere Gruppe, die sehr pragmatisch damit umgehen konnte: „Das haben wir alles schon einmal erlebt und wir wissen wie wir mit solchen Situationen umgehen können“.

Welche Bewältigungsstrategien gibt es?

Preitler: In der Krise ist das Herstellen von Sicherheit immer das Um und Auf: Durchatmen, sich umschauen: Bin ich in einem sicheren Raum? Bin ich bei Menschen, bei denen ich mich sicher fühle? Kann ich jemand anrufen, bei dem ich weiß, dass mich dieser Anruf stabilisiert? (4. Dezember 2020)

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