Aufbruch in Afrika. Soziale Bewegungen in Sudan und Äthiopien

Bericht zur Veranstaltung am 24. Oktober 2019

Vortragende

Nagda Mansour Adam

Übersetzerin und Menschenrechtsaktivistin, Khartum, Sudan (ihr Visum leider abgelehnt, daher video statement)

Surafel Wondimu

Theaterwissenschaftler, Bühnenautor und Medienproduzent, Addis Abeba, Äthiopien

Sara Abbas

Politikwissenschaftlerin FU Berlin (Doktorandin) und Diaspora Aktivistin

Moderation: Antje Daniel, Gastprofessorin für Entwicklungsforschung aus politikwissenschaftlicher Perspektive, Universität Wien

Begrüßung
Franz Schmidjell, VIDC
Ishraga Hamid, Politologin und Aktivistin
Mihret Kebede, Ph.D Candidate Academy of Fine Arts

Autor*in

Henrikt Feindt
Franz Schmidjell

Weltweit begehren meist junge Menschen gegen die Regierenden auf. Manchmal international sichtbarer – wie in Hongkong oder einigen lateinamerikanischen Ländern –, manchmal unter der Wahrnehmungsschwelle der westlich dominierten Medien, wie in vielen afrikanischen Ländern. Im Sudan wurde Langzeitdiktator Omar al-Bashir gestürzt. In Äthiopien übernahm nach wachsenden Protesten der liberale Reformer Abiy Ahmed das Amt des Premierministers und erhielt den Friedensnobelpreis 2019.

Wie kam es zu den Veränderungen? Wer hat die Proteste getragen? Unter welchen historischen und internationalen Bedingungen fanden die Umwälzungen statt? Diese Fragen wurden in der VIDC-Veranstaltung „Aufbruch in Afrika. Soziale Bewegungen in Sudan und Äthiopien“ am 24. Oktober 2019 in der Volkshochschule Mariahilf vor 200 Besucher*innen diskutiert.

Franz Schmidjell, Vizedirektor des VIDC, nahm in seinem Eröffnungsstatement direkt Bezug auf die Abwesenheit einer eingeladenen Referentin aus dem Sudan: Der Visumantrag von Nagda Mansour Adam, Menschrechtsaktivistin und eine der Anführerinnen der Revolution, sei von der österreichischen Botschaft trotz Vorlage aller notwendigen Unterlagen abgelehnt worden. Dies symbolisiere einmal mehr den Doppelstandard der europäischen Politik gegenüber Afrika und dem Nahen Osten. Ilija Trojanow zitierend nannte Schmidjell dies die „Dr. Jekyll und Mr. Hyde-Haltung“: Während der gute EU-Politiker Dr. Jekyll von Menschenrechten und Demokratie spräche, würde gleichzeitig der schlechte Mr. Hyde, als Schattenseite der EU-Politik, Diktatoren wie Abd al-Fattah as-Sisi in Ägypten oder vormals Omar al-Bashir im Sudan unterstützen, genauso wie menschenverachtende libysche Milizen, die Migrant*innen vom Erreichen der nordafrikanischen Küste beziehungsweise von der Überfahrt nach Europa abhalten sollen.

Ishraga Hamid, Aktivistin der sudanesischen Diaspora und Ko-Organisatorin der Veranstaltung, fuhr fort, dass Nagda Mansour Adam sogar als Sozialministerin der zivilen Übergangsregierung im Sudan nominiert worden sei. Dass einer so wichtigen Person ein Visum versagt werde, sei sehr enttäuschend, zumal sie für den Visumantrag von Karthum nach Kairo gereist sei und dort über drei Wochen auf das Visum wartete. Da Mansour Adam bei der gegenwärtigen Veranstaltung nicht anwesend sein könne, hätte sie ihren Vortrag auf Video aufgenommen.

Aktivistin wird Visum verweigert

Im eingespielten Video stellte Nagda Mansour Adam zu Beginn fest, dass sie von der Ablehnung des Visumantrags nicht überrascht sei. Schon in der Vergangenheit seien Visumanträge für Treffen des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen abgelehnt worden, unter anderem auch für Man-sour Adam selbst. Dies sei typisch für die EU-Politik gegenüber dem Sudan, schließlich habe die EU das alte Regime unterstützt, um die Migration einzudämmen; also jenes Regime, gegen das sich die aktuelle Revolution im Sudan gerichtet habe.

Das VIDC habe sie gebeten, über ihre Erfahrungen als eine der führenden Persönlichkeiten der Revolution im Sudan zu sprechen. Ihrer Meinung nach müsse über die Märtyrer*innen der Revolution gesprochen werden; über jene, die ihr Leben für ein gerechteres Leben im Sudan und zum Schutze der übrigen Protestierenden verloren hätten. Sie hätten den anderen Aktivist*innen Kraft und Mut gegeben. Sie selbst sei für mehr als zwei Monate im Gefängnis gesessen, zusammen mit anderen führenden Frauen der Revolution. Das sei eine sehr schwere Zeit gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil sie während des Gefängnisaufenthaltes nicht an den Protestmärschen und -aktionen hätten teilnehmen können. Doch sie hätten diese Zeit auch genutzt, indem sie ihr Durchhaltevermögen und ihre Entschlossenheit gegenüber dem Polizeiapparat und gegenüber sich selbst demonstrieren hätten können. Die Revolution sei nicht aufzuhalten.

Proteste in afrikanischen Ländern hätten seit 2011 zugenommen, merkte die Moderatorin Antje Daniel vom Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien an. Äthiopien und Sudan seien zwei Beispiele dieser Protestwellen für mehr Demokratisierung. Es stelle sich dabei aber die Frage, ob die Protestbewegungen wirklich immer zur Demokratisierung beigetragen hätten. Dies und weitere Vergleiche zwischen den Bewegungen in Sudan und Äthiopien wurden im Folgenden diskutiert.

Sudan: Jugendproteste im historischen Kontext

Die Politikwissenschaftlerin Sara Abbas von der FU Berlin, stellte zunächst die Frage, ob Revolutionen wirklich immer aus dem Nichts auftreten würden. Entgegen dieser gängigen Darstellungs-weise wies sie darauf hin, dass es im Sudan immer wieder Protestbewegungen gegeben habe. So sei es einer Massenbewegung 1964 gelungen, die postkoloniale Diktatur zu stürzen und für fünf Jahre eine Demokratie zu etablieren. Nachdem diese erneut einem diktatorischen Regime weichen musste, sei es 1985 wieder zu einer erfolgreichen Demokratiebewegung gekommen. Diese sei dann 1989 abermals in eine Militärdiktatur unter Omar al-Bashir abgeglitten – bis 2018 erneut Proteste ausgebrochen seien.

Besonders beachtenswert sei an der aktuellen Protestbewegung, dass dabei sehr viele junge Men-schen aktiv mitmachen würden, obwohl diese Jugendlichen nie ein anderes als ein diktatorisches Regime gekannt hätten. Es gehöre eine Menge Vorstellungsvermögen dazu, in einer solchen Situa-tion über die gewohnte Realität hinweg unter Einsatz des eigenen Lebens für Demokratie zu kämpfen. Gerade dieser höchste Einsatz habe dann dafür gesorgt, dass die Revolution sich über so viele Monate habe halten können: Die Märtyrer*innen, von denen Nagda Mansour Adam gesprochen habe, seien zu einer Inspiration für die Menschen geworden, sich erst recht hinter den Forderungen nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu versammeln.

Äthiopien: Ethnisierung sozialer und ökonomischer Konflikte

Surafel Wondimu, Autor und Theaterwissenschaftler in Addis Abeba, stellte zunächst klar, dass er nicht als der Repräsentant der sozialen Bewegungen in Äthiopien spräche. Denn eben solche Anmaßungen seien aktuell ein wesentliches Problem für die Bewegungen in Äthiopien – es würden selbsternannte Sprecher*innen auftreten und die Bewegungen würden staatlich kooptiert werden. Durch beide Prozesse würden die tatsächlichen Akteur*innen und deren Interessen verleugnet wer-den.

Da er stark in der Darstellenden Kunst verankert sei, wolle er zunächst einige Musikvideos zeigen. Die ersten zwei seien Stücke eines sehr politischen Sängers der Oromo-Ethnie. In beiden Videos werde eine ethno-nationalistische Perspektive vertreten: Es gehe um die Unterdrückung und Enteignung der Oromo, aktuell wie historisch. In einem dritten Video, von einem anderen Sänger, werde hingegen eine pan-äthiopisch-nationalistische Perspektive vertreten. Hier werde in den Vordergrund gestellt, dass es gelungen sei, eine äthiopische Nation zu formen – die Unterdrückung einzelner Ethnien werde in den Hintergrund gerückt. Gerade durch solche Perspektiven sei es gelungen, die vom vorherigen Regime oft künstlich geschürten Konflikte wie zwischen Oromo und Amharen zu überwinden.

Dass dies aber überhaupt gelungen sei, zeige, dass es dieser Bewegung gar nicht primär um ethnische Fragen gehe, sondern um ökonomische. Das sei auch in den vielen Akten von Gewalt an wirt-schaftlichen Einrichtungen – wie den Angriffen auf Blumenfarmen von vertriebenen Bauern und Bäuerinnen zu Beginn der Proteste – deutlich geworden. Heute aber würden die Eliten der ethno-nationalistischen und pan-äthiopischen Richtungen versuchen, sich jeweils zu Anführer*innen der Revolution zu stilisieren und dabei so zu tun, als wäre es von Anfang an um ethnische Fragen ge-gangen. Es sei daher sehr wichtig anzuerkennen, dass ethnische Fragen in Äthiopien auf politischer Ebene sehr wohl diskutiert werden müssten, aber dass darüber nicht Fragen nach Klassen- und Geschlechterverhältnissen unterschlagen werden dürften, so Wondimu. Afrikas Probleme seien keineswegs, wie allzu oft unterstellt, rein ethnische, sondern sehr wohl politische und ökonomische – und dabei internationale Probleme. Das globale-lokale Kapital versuche die Unzufriedenheit und wachsende Ungleichheit zu manipulieren, indem es diesen Unmut in Richtung ethnische Spannungen lenke.

Mehrfache Benachteiligung der Frauen

Diesen Gedanken griff Sara Abbas in der Diskussionsrunde auf: Es sei wichtig zu verstehen, dass auch im Sudan genauer darauf geschaut werden solle, von welchen Menschen und welchen Unterdrückungsmechanismen konkret gesprochen werde. Zwar seien Frauen im Sudan generell in vielerlei Hinsicht benachteiligt und von Gewalt betroffen, aber die Realität einer nicht-muslimischen Frau einer unteren Klasse sei viel schlimmer als die einer bürgerlichen Frau. Und genauso müsse auch berücksichtigt werden, dass es den Menschen nicht nur um politische, sondern auch um ökonomische Menschenrechte gehe. Die politische Ökonomie Sudans sei von al-Bashirs Nationaler Kongress Partei sowie den Sicherheits- und Verteidigungsapparaten dominiert worden. Die Möglichkeit beziehungsweise Unmöglichkeit, Zugang zu ökonomischen Ressourcen zu erhalten, sei von den eigenen Beziehungen zu und innerhalb der Machtnetzwerke bestimmt worden. Dass dann 2018 die Revolution stattgefunden habe, begründete Abbas damit, dass sich die jahre- und jahrzehntelange Ausbeutung so sehr zugespitzt habe, dass die Menschen nicht mehr bereit gewesen wären, sie länger zu ertragen.

Surafel Wondimu griff daraufhin die internationale Dimension dieser Ausbeutung auf. Selbst das dem Namen nach sozialistische Regime, welches 1991 an die Macht gekommen sei, sei vom Inter-nationalen Währungsfonds und der Weltbank im Zuge von Kreditvergaben gezwungen worden, bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen durchzuführen. Später sei die Regierung vom Westen in das sogenannte Anti-Terror-Projekt integriert worden – sie habe dafür vom Westen etwa politische und ökonomische Unterstützung für den Einsatz im Kampf gegen die somalische al-Shabaab erhalten. Die zu diesem Zweck in Äthiopien erlassenen sogenannten Anti-Terror-Gesetze seien aber ebenso gegen die demokratische Opposition eingesetzt worden.

Sara Abbas hakte hier ein und sagte, sie könne nicht in Europa sprechen ohne auf den ‚Karthum Prozess‘ hinzuweisen. Es sei dies der Versuch der EU, gemeinsam mit der Afrikanischen Union und ostafrikanischen Staaten, die Flucht- und Migrationsbewegungen Richtung Norden zu reduzieren oder zu stoppen. Die sogenannte ‚Schnelle Eingreiftruppe‘ (Rapid Special Forces – RSF) spiele bei der Grenzkontrolle und damit für den Karthum-Prozesses eine wesentliche Rolle. Dabei handle es sich um niemand geringeren als um die Nachfolge der mörderischen Dschandschawid-Milizen (Janjaweed), die den Völkermord in Darfur begangen hätten. Dies alles sei der EU bekannt, aber da dieses Monster, wie Abbas die Eingreiftruppe nannte, in seiner Brutalität so effektiv sei, würde dagegen nichts unternommen.

Wenn aktuell also Gerechtigkeit gefordert werde, gehe es natürlich auch um die Verbrechen von Krieg und Völkermord wie auch um Vergewaltigungen im Zuge der Unterdrückung der aktuellen Proteste. Aber genauso gehe es auch um ein Regime, das Ungleichheiten produziere – ökonomisch, politisch und sozial. Und dies sei genauso ein Problem in Süd- und Nordamerika und Europa. Auch hier würden sich die Menschen von ihren Regierungen und der offiziellen Politik nicht gerecht behandelt fühlen. Und, fügte Abbas augenzwinkernd hinzu, sie fühle sich im Kontext des aktuellen Sudan und der vielfältigen Forderungen und Diskussionen viel mehr in einer Demokratie als sie sich in Nordamerika oder Europa fühlen würde.

Dekolonisierung des Denkens

Koloniale Gewalt, stellte Wondimu zu Beginn der Fragerunde fest, solle nicht nur physisch verstanden werden. Dekolonisierung müsse ebenso bei der Bildung und allgemein im Wissen stattfinden. Der Internationale Währungsfonds etwa würde immer noch Vorgaben machen, welche Politiken die Länder in Afrika verfolgen sollten. Die Frage sei also, welches – und wessen – Wissen der nächsten Generation von Afrikaner*innen vermittelt werde. Bei der Frage nach Dekolonisierung müsse gleichzeitig aber auch bedacht werden, dass diese sich heute ganz anders stelle als noch vor einigen Jahrzehnten. Länder wie Indien oder China, die sich vormals noch mit anderen Kolonialstaaten solidarisiert hätten, würden heutzutage selbst immer mehr zu globalen Großmächten werden. Die geopolitische Situation sei damit eine völlig andere geworden.

Ein weiteres Erbe des Kolonialismus sei die Aufspaltung Afrikas, stimmte Abbas einer Pan-Afrikanistin aus dem Publikum zu. Diese Aufspaltung verhindere bis heute einen gemeinsamen politischen Kampf aller Afrikaner*innen. Gleichzeitig trieben auch die gegenwärtigen afrikanischen Staaten selbst eine Spaltung ihrer Bevölkerungen voran. So etwa habe die Regierung Sudans lange Zeit gegen die ethnisch und sprachlich sehr vielfältige Bevölkerung eine Arabisierung durchgesetzt. Der sudanesische Nationalismus, in der Revolution nun wieder etwas erstarkt, sei daher auch eine Reaktion darauf und ein Versuch diese Spaltungen zu überwinden. Wiewohl er gleichzeitig für Distanzierungen gegenüber anderen afrikanischen Nationen sorge. Denn eine Straßenhändlerin im Sudan habe viel mehr gemeinsam mit einer Straßenhändlerin in Nigeria als mit einer reicheren Frau in Karthum – hier würden also Klassenunterschiede überdeckt werden. Dies zeige, dass es um mehr gehen müsse als ‚nur‘ um politische Veränderungen; es müsse genauso auch für soziale und ökonomische Gerechtigkeit gekämpft werden. Dafür wiederum sei es notwendig, eine zivilgesellschaftliche Basis zu schaffen, eine Vernetzung der verschiedenen Bewegungen, damit die gemeinsamen Forderungen der aus den Revolutionen hervorgehenden Regierungen nicht einfach ignoriert würden, sondern zu strukturellen Veränderungen beitragen könnten.

Zum Abschluss der Veranstaltung gab es noch Musik. Künstler*innen bilden eine zentrale Säule der Protestbewegungen in den afrikanischen Ländern. Ihnen widmete der äthiopische Musiker und Komponist Samuel Yirga einen Song. Yirga hielt sich anlässlich des Programms CultureXChange Äthiopien in Wien auf.