SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

Kampf um die Rechte der afghanischen Frauen. AKIS-Tagung in Kooperation mit dem VIDC

Bericht vom 11. März 2023

Die Rechte der Frauen sind das Hauptthema der Debatte zwischen den Taliban, der afghanischen Diaspora und dem Rest der Welt. Die Rechte von 50 % der Bürger*innen des Landes scheinen vom Schicksal der Taliban-Regierung und davon abhängig zu sein, wie die internationale Gemeinschaft mit der De-facto-Regierung umgehen will, die die Macht mit Gewalt an sich gerissen hat. Seit ihrer Machtübernahme haben sie einige der strengsten Gesetze der Welt eingeführt. Und die meisten dieser strengen Gesetze haben unverhältnismäßig starke Auswirkungen auf Frauen. Die Taliban haben die afghanischen Frauen seit ihrer Machtübernahme am 15. August 2021 fast vollständig aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen.

Um die Unterdrückung der afghanischen Frauen durch die Taliban und die Herausforderungen zu erörtern, mit denen afghanische Frauen in der Diaspora in ihren Gastländern konfrontiert sind, organisierte der Afghanische Kulturverein AKIS am 11. März 2023 eine Konferenz mit dem Titel „Kampf um die Rechte der afghanischen Frauen“ in Zusammenarbeit mit dem Wiener Institut für internationalen Dialog und Zusammenarbeit (VIDC) und dem Danish Refugee Council (DRC). Ziel von AKIS war es, sich zu vernetzen, neue Allianzen zu bilden und die Menschen in Europa auf die Notlage der afghanischen Frauen aufmerksam zu machen. Die Veranstaltung in Wien wurde von 150 Teilnehmer*innen aus Österreich, den Vereinigten Staaten, Deutschland, Norwegen, Schweden, der Türkei, den Niederlanden und der Schweiz besucht.

Taliban-Verordnungen gegen Frauen

Die jüngste Verordnung der Taliban vom Dezember 2022 verbietet Frauen und Mädchen den Besuch von Universitäten und die Arbeit in lokalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen (NRO). Viele Menschen, insbesondere in der afghanischen Diaspora, waren von diesem Erlass schockiert. Heela Najibullah, eine Forscherin für Frieden und Versöhnung, die auf der Frauenkonferenz in Wien sprach, behauptete, dass im Jahr 2021 11 der 25 Verordnungen der Taliban gegen Frauen gerichtet waren. Von den 53 Edikten, die 2022 erlassen wurden, richteten sich 42 gegen Frauen, denen die Arbeit für NGOs und der Besuch von Universitäten verboten wurde.

Seit der Rückkehr der Taliban nach dem chaotischen Abzug der amerikanischen Streitkräfte im August 2021 ist es Mädchen verboten, die sechste Klasse zu besuchen. Jeden Tag werden die Möglichkeiten für Frauen und Mädchen mehr eingeschränkt. Da sie das Gefühl haben, dass ihre Möglichkeiten begrenzt sind, haben sich viele Mädchen dem Religionsunterricht zugewandt. Nach Angaben von Reuters hat sich die Zahl der Mädchen, die religiöse Schulen besuchen, in den Provinzen Kabul und Süd-Kandahar verdoppelt. Najibullah ist besorgt darüber, dass junge afghanische Mädchen einer „extremistischen radikalen Ideologie“ ausgesetzt werden, und nicht über das Studium des Islam als Religion. Sie versicherte, dass überall im Land religiöse Schulen eingerichtet werden, von den zentralen Provinzen Daikundi bis Paktia im Südosten.

Najibullah betonte, Afghanistan habe durch die Taliban seine international anerkannte Regierung und seine territoriale Integrität verloren, da extremistische Gruppen in ihrem Heimatland präsent seien. Afghanistan sei auch zum Schauplatz der Rivalität zwischen Großmächten wie China, Russland und den USA geworden. Sie warnte auch vor der Durchsetzung einer radikalen, extremistischen Ideologie in Afghanistan. „Die Taliban sind eine extremistische ideologische Gruppe, deren Mitglieder immer noch auf der Terror-Sanktionsliste der Vereinten Nationen stehen.“

„Wir kämpfen für Gleichheit und Freiheit“

Im Januar 2022 inhaftierten die Taliban willkürlich eine Verfechterin der Frauenrechte, Tamana Zaryab Paryani, und ihre Schwestern, nachdem sie an Protesten unter dem Motto „Naan, Kaar, Azaadi - Brot, Arbeit, Freiheit“ teilgenommen hatten, um ihre Rechte und Freiheit zu fordern. Nach fast einem Monat im Taliban-Gefängnis wurden Paryani und ihre Schwestern freigelassen und flohen nach Pakistan, bevor sie nach Deutschland evakuiert wurden.
Als Hauptrednerin auf der Wiener Konferenz gelobte Paryani, dass sie in Deutschland weiterhin die Stimme der afghanischen Mädchen und Frauen erheben werde, die vom Taliban-Regime unterdrückt werden. Sie wird sich so lange für die Gleichstellung und Freiheit der Frauen einsetzen, bis diese erreicht ist. Nach ihrer Inhaftierung durch die Taliban habe sie zwei Möglichkeiten gehabt: entweder in Afghanistan zu schweigen oder das Land zu verlassen und sich für andere afghanische Frauen einzusetzen, die unter der rücksichtslosen Herrschaft der Taliban leiden. Sie entschied sich für die Ausreise. 

„Unser Kampf geht nicht um Brot und Arbeit, sondern um Gleichheit und Freiheit“, sagte Paryani in ihrer Rede auf der Konferenz. Sie appellierte an die internationale Gemeinschaft, etwas gegen die sexistische Ideologie der Taliban zu unternehmen. Eine bloße Verurteilung der Taliban würde die frauenfeindlichen Taliban nicht davon abhalten, Frauen zu entführen, zu foltern und zu vergewaltigen.

Die Auswirkungen der Vertreibung auf die psychische Gesundheit von geflüchteten afghanischen Frauen

Die Situation der afghanischen Frauen und die Auswirkungen der Vertreibung auf ihre psychische Gesundheit in Österreich waren das Thema des wissenschaftlichen Vortrags von Judith Kohlenberger auf der Konferenz. Kohlenberger, Professorin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien, stellte fest, dass die Anerkennungsquote von weiblichen afghanischen Flüchtlingen höher ist als die von männlichen afghanischen Flüchtlingen in Österreich. Im Dezember 2022 bzw. Anfang 2023 kündigten Schweden und Dänemark an, dass sie allen afghanischen Frauen und Mädchen „allein aufgrund ihres Geschlechts“ automatisch Asyl gewähren werden. Mit dieser Entscheidung reagierten sie auf die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Frauen und die wachsende Unberechenbarkeit für Afghan*innen, die in Europa und anderen Ländern Asyl suchen.
Laut Kohlenbergers Forschung ist es auch interessant, die Familienstruktur der geflüchteten Frauen aus Afghanistan zu beleuchten. Frauen aus Afghanistan, die auf der Flucht sind, sind eher verheiratet und leben mit ihren Familien und Kindern in Österreich.

Seit ihrer Ankunft in Europa sind die afghanischen Einwanderer*innen mit zahlreichen Schwierigkeiten bei der Integration in die Aufnahmegesellschaften konfrontiert. Frauen brauchen mehr Zeit als Männer, um sich vollständig zu integrieren. Sie können sich nicht für Sprachkurse anmelden oder in den Arbeitsmarkt eintreten, da sie in der Regel 1-3 Kinder haben. In der EU sind die Frauen nicht gut in den Arbeitsmarkt integriert, so Kohlenberger. Im Gegensatz zu 62 % der männlichen Geflüchteten stellen geflüchtete Frauen 45 % der Erwerbsbevölkerung dar. Da Frauen häufig in Teilzeit, in prekären Arbeitsverhältnissen oder als Haushaltshilfen beschäftigt seien und einer Vielzahl von Zwängen und Vorurteilen ausgesetzt seien, wirkten sich all diese Faktoren letztlich auf ihre psychische Gesundheit aus. Ihren Untersuchungen zufolge weisen die weiblichen afghanischen Geflüchteten eine größere psychische Belastung auf als die syrischen oder irakischen Geflüchteten. Die Schlussfolgerungen ihrer Untersuchung legen nahe, dass afghanische Frauen psychisch stärker betroffen sind als afghanische Männer.

Mobilisierung von Solidarität

Auf der Wiener Konferenz erklärten mehrere Redner*innen, die afghanische Krise sei komplex und die internationale Gemeinschaft trage die Schuld an ihrer Verschlimmerung. Die Taliban haben nicht nur den Frauen, sondern der gesamten afghanischen Bevölkerung den Krieg erklärt. Zweifellos wird dieser Krieg vor allem von afghanischen Frauen geführt. Laut Shafiqa Razmenda, einer Menschenrechtsaktivistin aus Deutschland, die an der Konferenz teilnahm, gibt es unter den Taliban keinen Frieden, obwohl die Taliban behaupten, sie hätten dem Land Frieden gebracht. Sie behauptete, dass die soziale Harmonie verschwunden sei und dass die Taliban die soziale Spaltung vertieft und das Misstrauen unter den Afghan*innen gefördert haben.

In den Eröffnungsreden der Konferenz drückte die SPÖ-Landtagsabgeordnete in Vertretung der Bezirksvorstehhung Marina Hanke, Asye Sel von der Arbeiterkammer Wien und VIDC-Direktorin Sybille Straubinger ihre Solidarität mit den afghanischen Frauen aus. Für Marina Hanke sind die Ereignisse in Afghanistan eine schwere Verletzung der Frauen- und Menschenrechte. Sie plädierte dafür, dass Österreich seine Unterstützung für die afghanischen Frauen zum Ausdruck bringen sollte. Auch Asiye Sel rief zur Unterstützung der afghanischen Frauen auf. Ihrer Meinung nach ist „das Problem der afghanischen Frauen nicht nur ein afghanisches Problem, sondern ein internationales Problem“. Sybille Straubinger betonte, dass VIDC seit vielen Jahren die afghanische Diaspora in Österreich unterstützt. Für das VIDC ist die Diaspora die beste Ressource zur Unterstützung von Demokratie, Frauenrechten und Menschenrechten in Afghanistan, da sie Zugang zur Zivilgesellschaft im Land hat. Durch die Zusammenarbeit mit der Diaspora will das VIDC der afghanischen Community in der Diaspora eine Perspektive geben.

Der Weg in die Zukunft

„Wenn es eine sinnvolle Veränderung für die Freiheit, nicht nur für Brot und Arbeit, geben soll, müssen sich die afghanischen Frauen in Afghanistan und in der Diaspora zusammenschließen“, sagte Paryani. Sie beschuldigte die westlichen Länder, mit einer „terroristischen Gruppe“ zusammenzuarbeiten, die ihr Heimatland besetzt hält. Sie forderte die internationale Gemeinschaft auf, die Taliban auf die Reiseverbotsliste zu setzen. Mehrere Teilnehmer*innen, darunter Paryani, sind der Meinung, dass die Taliban gestürzt werden sollten, anstatt ihre Politik zu reformieren, um den Mädchen den Zugang zu höheren Schulen und Universitäten zu ermöglichen. „Wir müssen die Beseitigung der Taliban aus unserer Heimat fordern“, schloss Paryani.
Damit Afghanistan aus seiner derzeitigen misslichen Lage herauskommt, muss laut Heela Najibullah „das Volk in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, insbesondere die Frauen Afghanistans.“ Damit eine legitime Regierung die Macht übernehmen und Afghanistan neutral sein kann, muss ein Prozess in Gang gesetzt werden, „bei dem das Volk im Mittelpunkt steht“, so Najibullah. 

Fazull Mahmood Rahemee Pajwak, Vertreter der afghanischen Botschaft in Wien, sagte bei der Konferenz: „Wenn Afghanistan jemals seine Freiheit erlangt, werden Frauen zweifelsohne eine wichtige Rolle bei seiner Befreiung gespielt haben.“ Shafiqa Razmenda äußerte sich ähnlich. „Ich glaube, dass die Frauen in Afghanistan als Siegerinnen hervorgehen werden“, sagte Razmenda. 

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