SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

Eine Reise des Widerstands: Frauen unter der Herrschaft der Taliban

#9: Life under the Taliban

Autorin


Mahnoor* schloss ihr Studium an einer medizinischen Fakultät in der Provinz Balkh mit Auszeichnung ab und war anschließend als Leiterin einer der Fakultäten tätig, während sie gleichzeitig als professionelle Hebamme arbeitete. Heute arbeitet sie für eine NGO in Herat.

* Name von der Redaktion geändert

Kuratiert und übersetzt von


Ali Ahmad und Michael Fanizadeh, VIDC Global Dialogue

© Privat

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Der folgende Artikel wurde von Mahnoor* im Rahmen unserer Artikelserie „Life under the Taliban“ verfasst. Frauen und Männer aus verschiedenen Teilen des Landes und mit unterschiedlichen Perspektiven und Realitäten erzählen uns ihre Geschichten, wie sie trotz aller Widrigkeiten ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht verlieren.

Mahnoors Geschichte

Ich bin Mahnoor, eine Bürgerin Afghanistans, einer Gegend, die auf der Weltkarte oft übersehen wird und in der den Menschen nicht einmal die grundlegendsten Menschenrechte zugestanden werden. Mit ehrgeizigen Zielen für die Entwicklung meines Heimatlandes widmete ich mich 16 Jahre lang meiner Ausbildung. Ich schloss mein Studium an einer medizinischen Fakultät in der Provinz Balkh mit Auszeichnung ab und war anschließend als Leiterin einer der Fakultäten tätig, während ich gleichzeitig als professionelle Hebamme arbeitete. Meine Zielsetzung war es, einen positiven gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, indem ich die Schmerzen von Frauen lindern half, die zuvor häufig schweigend in einer Ecke lagen und während der Geburt ihr Leben verloren hatten, weil die medizinische Versorgung unzureichend war und es keine professionellen Hebammen gab.

Die Taliban verboten den Frauen nach der Machtübernahme 2021 die Arbeit, bevor sie ihnen den Schulbesuch untersagten, so dass Tausende von Frauen und Mädchen in völliger Armut leben. Der Tag, an dem ich angewiesen wurde, mein Büro zu verlassen und nicht zurückzukehren, war ein Wendepunkt. Ich wurde aufgefordert, ruhig zu bleiben, meine Stimme zu senken und mich auf unbestimmte Zeit in den vier Wänden meines Hauses zu verschanzen. An diesem Tag brach ich vor meinen Schülerinnen, die mir immer Mut vorgelebt hatten, zusammen. Obwohl mir die Tränen in die Augen stiegen, hielt ich mich mit dem Weinen zurück, um die verängstigten Mädchen vor mir nicht noch mehr zu beunruhigen. Dennoch weinte mein Herz und sorgte sich um diejenigen, die entschlossen waren, ihre Ziele zu verfolgen, zahlreiche Tabus zu brechen und sich nicht an den extremen und obligatorischen Hidschab zu halten. Als ich mein Büro verließ, schrieb ich einen kleinen Zettel: "Wir werden bald gestärkt zurückkommen, und wir werden auf diese Demütigung antworten".

Waren meine Ziele schädlich für das Fortleben in diesem verwünschten Land?

Zwei Jahre sind seit diesem schicksalhaften Tag vergangen, und der Zettel, den ich auf meinem Schreibtisch hinterlassen habe, ist noch immer unberührt. Er trägt ein Gefühl der Verzweiflung in sich, und es ist mir nicht mehr gestattet, dieses Büro zu betreten. Nach diesem Vorfall hatte ich mit psychischen Problemen, Verzweiflung, Not und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, die mich alle schwer getroffen haben. Früher war ich diejenige, die sich um die Probleme der Studentinnen dieser Fakultät kümmerte, aber jetzt habe ich keine Antworten mehr auf ihre Fragen. Wann immer sie sich nach der Wiedereröffnung der Universitäten erkundigen, kann ich nur ein Gefühl des Unmuts und einen bedauernden Seufzer ausstoßen. Obwohl ich im Grunde meines Herzens Hoffnung für sie hege, fällt es mir schwer, meinen eigenen Worten Glauben zu schenken. Ich bin es leid, die Not der Mädchen zu beklagen, deren einziger Fehler es ist, Frauen zu sein. Es schmerzt mich, ihr Elend mit anzusehen.

Nachdem ich zahlreiche Herausforderungen und ein schmerzhaftes Jahr des Wartens überstanden hatte, versuchte ich, meine Kräfte neu zu bündeln. Um meine Familie finanziell zu unterstützen und der Depression zu entkommen, suchte und fand ich eine Stelle bei einer ausländischen Nichtregierungsorganisation, die im Westen Afghanistans, genauer gesagt in der Provinz Herat, tätig ist. Ich ahnte nicht, dass die schwierigste Phase meines Lebens vor mir lag. Meine Freude über die neue Stelle währte nicht lange, als ich auf die absurden Regeln von Amr Bamaruf (Regeln zur Verbreitung der Tugend und zur Verhinderung des Lasters) stieß. Eine dieser Regeln besagt, dass mich ein Mahram (männlicher Begleiter) auf einer Strecke ab 100 Metern begleiten muss, und es ist mir verboten, mich mit meinen männlichen Kollegen zu unterhalten. Außerdem muss mein Hidschab einem strengen Standard entsprechen, und ich darf nur in Begleitung eines Mahram die vom Büro zur Verfügung gestellten Verkehrsmittel benutzen. Diese Vorschriften zielen darauf ab, Frauen als schwach darzustellen, sie zu demütigen und ihr soziales Ansehen zu schmälern. Ein Aspekt meiner Arbeit, der mich besonders beunruhigt, ist die gelegentliche abrupte Schließung der Tore unseres Arbeitsplatzes ohne Vorankündigung, die uns dazu zwingt, völlig enttäuscht nach Hause zu gehen. Die kumulativen negativen Auswirkungen dieser Vorfälle haben mein psychisches Wohlbefinden beeinträchtigt. Ein weiterer Punkt, der mich traurig stimmt, ist die Diskriminierung durch Männer in der Gesellschaft, auch durch meine männlichen Kollegen. Es scheint, dass wir nicht nur von den Taliban diskriminiert werden, sondern auch vom Rest der Gesellschaft, der ähnliche Ansichten vertritt. Die Tatsache, dass die Männer in der Umgebung die Frauen in demselben Licht sehen wie die Taliban, schafft eine beunruhigende Atmosphäre.

Ich kämpfe für meine Tochter

Ich habe mir geschworen, dass ich nicht aufgeben werde. Gott hat mich zu einem freien Menschen gemacht, und solange ich lebe, werde ich mich gegen diese Angriffe auf die Freiheit und Würde der Frauen einsetzen, aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meiner kleinen Tochter. Ich muss ihr zuliebe weitermachen, damit sie, wenn sie in die sechste Klasse kommt, keine Hindernisse für ihre weitere Ausbildung hat. Es ist schwierig, ihr die schreckliche Tatsache zu vergegenwärtigen, dass sie ausgegrenzt, stigmatisiert und inhaftiert ist. Trotz meiner Bemühungen gelingt es mir nicht immer, sie vor einer von Männern und Taliban dominierten Gesellschaft zu schützen. Ihre unschuldigen Augen sind voller Fragen, und ihr junger Verstand hat bereits begonnen, ihre Existenz mit dem Lebensstil der Jungen um sie herum zu vergleichen. Ich weiß nicht, wie ich auf all diese Fragen antworten soll. Sie weiß noch nicht, dass ihr einziges „Verbrechen“ darin besteht, dass sie ein Mädchen ist; wenn sie die Möglichkeit hätte, würde sie sich sicher dafür entscheiden, ein Mädchen zu bleiben, denn ein Mädchen zu sein erfordert Mut.

Ich werde niemals den Tag vergessen, an dem meine Tochter sichtlich verstört in der Ecke des Zimmers saß und mich mit ihren braunen Augen anstarrte. Der Kummer in ihrer Seele war in ihren arglosen Augen sichtbar, als sie leise fragte: „Mama, warum kann ich nicht wie du Ärztin werden? Warum mag Kaka Talib mich nicht?“ (Kaka bedeutet Onkel, wird aber hier verwendet, um einen Älteren mit Respekt zu bezeichnen). Ich kniete mich neben sie, streichelte sanft ihre kleinen Hände zwischen meinen Fingern und flüsterte: „Du bist einzigartig, meine Liebe, wie eine schöne Blume in einem großen Garten - schön, kraftvoll und anders! Wer sagt denn, dass du keine Ärztin werden kannst?“ Sie zögerte, schaute auf den Boden und sagte: „Warum sagt dann Omid (ihr männlicher Cousin), dass Onkel Talib mich und die anderen Mädchen ihrer Klasse in zwei Jahren nicht zur Schule gehen lassen wird? Wenn wir nicht zur Schule gehen, wie kann ich dann Ärztin werden? Wie kann ich Patient*innen wie du Medizin geben? Wie kann ich den Menschen helfen?“

Sie schluchzte bei jedem Wort, und ich schaffte es oft nicht, auf ihre Fragen zu antworten. Ich hörte das Klopfen ihres Herzens inmitten ihrer Schreie, aber als ihr Vorbild konnte ich es mir nicht leisten, Schwäche zu zeigen. Ich hob ihr Kinn an, blickte in ihre unschuldigen, stechenden Augen und sagte mit Nachdruck, dass diese schwierige Situation vorübergehen würde. Ich versicherte ihr, dass die Sonne in unserem Land wieder aufgehen wird, dass sie zusammen mit ihren Freundinnen ihren Schulabschluss machen wird und dass ich bei jedem Schritt an ihrer Seite sein werde. Ich versprach, für ihre Träume zu kämpfen, und am Tag ihres Abschlusses würden wir gemeinsam tanzen und feiern. Sie lächelte, fand Trost in meinen Worten und ließ sich glücklich in meine Arme fallen. An diesem Tag gab ich ein stillschweigendes Versprechen zwischen uns ab, eine Verpflichtung, für deren Erfüllung ich alles tun werde, was nötig ist. Ich verzichtete darauf, ihr zu erklären, warum die Taliban sie und andere wie sie nicht mögen. Ich wollte nicht, dass ihr einfühlsames Herz mit Hass befleckt wird, der sich zu Selbsthass auswächst. Es verblüfft mich, dass fehlerhafte soziale und religiöse Normen - die ihren Ursprung im verzerrten und unterdrückerischen Denken rückständiger Männer ohne Logik und Menschlichkeit haben - das Leben der Frauen in diesem Land immer wieder beeinflussen.

Widerständige Stimmen: Den Veränderungen ins Auge sehen, ohne zu kapitulieren

Aufgrund der frauenfeindlichen Gesetze dieser Gruppe entwickelt sich bei den Männern dieses Landes langsam eine Taliban-Mentalität, die dazu geführt hat, dass Frauen von ihren eigenen Vätern, Brüdern und Ehemännern eingesperrt werden. Gleichzeitig haben die Taliban die größte Organisation, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt, in die größte Quelle für die Unterdrückung der Frauen verwandelt. Das Ministerium für Frauenangelegenheiten wurde zum Ministerium für die Förderung der Tugend und die Verhinderung des Lasters und verurteilt Frauen durch seine mittelalterliche Politik zu Hausarrest. Den Mädchen dieses Landes wird das geringste Recht verweigert, über ihr eigenes Leben mitzubestimmen. Zu Hause werden sie von ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern unterdrückt, während sie draußen von den Agenten von Amr Bamaruf mit Schikanen, Überwachung, Grausamkeit und Verfolgung konfrontiert werden.

In vielen Fällen haben diese Agenten Taxifahrer gezwungen, sich zu verweigern, Frauen zu befördern. Händler werden gezwungen, Frauen, die nicht von einem Mahram begleitet werden, den Zutritt zu ihren Geschäften zu verweigern. Eine Frau, die nach Überwindung vieler Hürden die Erlaubnis erhält, im Außenbereich zu arbeiten, muss auf dem Weg zum und vom Arbeitsplatz immer noch einen Mann dabei haben. Aber das ist nicht das Ende des Weges: Wir werden eines Tages wieder erblühen, denn jedes Mal, wenn wir entwurzelt wurden, wachsen wir tapfer durch die Steine hindurch und gedeihen weiter. Wir verharren hier und bemühen uns, die Ketten zu sprengen, damit wir eines Tages wieder die Freiheit unseres Landes erleben können. Wir kämpfen für unser Wohlergehen; in unserer Welt stark zu sein ist keine Wahl, sondern ein Zwang. Ganz gleich, wie schlimm die Situation ist, wir können verletzt werden oder hinfallen, aber wir werden nicht aufgeben!

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir nicht geschaffen wurden, um zu leiden; wir wurden als freie Menschen geschaffen, und wir werden nicht aufgeben, bis wir diesem Anspruch gerecht werden. Wir fordern die Welt auf, sich unseren Bestrebungen anzuschließen, und wir glauben, dass unsere Mädchen wieder zur Schule gehen und emporsteigen werden. Die Bedingungen für Frauen ändern sich, und wir werden uns wieder versammeln, miteinander reden, lachen, leben und unseren Teil zur Entwicklung unseres Heimatlandes beitragen.


* Name von der Redaktion geändert
 

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