SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

Stille Träume: Die Geschichte einer afghanischen Dozentin im von den Taliban beherrschten Afghanistan

#10: Life under the Taliban

Autorin


Hadia* war Dozentin an einer privaten Universität in der Provinz Balkh, Afghanistan. Ihren Bachelor-Abschluss in Rechts- und Politikwissenschaften erwarb sie 2014 an der Privatuniversität Taj. Nach dem Studium arbeitete sie an einer der privaten Universitäten in Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der nördlichen Provinz Balkh, und unterrichtete acht Jahre lang in den Bereichen Rechts- und Politikwissenschaften.

* Name von der Redaktion geändert

Kuratiert und übersetzt von


Ali Ahmad und Michael Fanizadeh, VIDC Global Dialogue

Balkh Universität, © Privat

Balkh Universität, © Privat

(24. Mai 2024). Der folgende Artikel wurde von Hadia* im Rahmen unserer Artikelserie „Life under the Taliban“ verfasst. Frauen und Männer aus verschiedenen Teilen des Landes und mit unterschiedlichen Perspektiven und Realitäten erzählen uns ihre Geschichten, wie sie trotz aller Widrigkeiten ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht verlieren. Hadia war Dozentin an einer privaten Universität in der Provinz Balkh in Afghanistan, bevor sie nach der Machtübernahme durch die Taliban ihre Arbeit und Einkommensquelle verlor.

Meine Geschichte

Ich habe immer danach gestrebt, auf eigenen Füßen zu stehen und meinem Vater eine Stütze zu sein. Diesem Ziel widmete ich mich acht Jahre lang bevor die Taliban vor drei Jahren die Macht übernahmen. Wir fanden uns in einer schwierigen Zeit wieder. Jeder Tag brachte neue Erlässe mit sich, die unser Leben zutiefst berührten, aber wir hielten durch, um sicherzustellen, dass die Mädchen nicht gezwungen sind, ihre Ambitionen auf Studium und Arbeit aufzugeben.

Die Taliban schickten immer wieder Briefe und Mitteilungen an die Universität und drohten mit der Kündigung von Studentinnen und Angestellten, die sich nicht an ihre Regeln hielten. Diese Regeln verlangten das Tragen von Burkas und lockerer schwarzer Kleidung. Wir waren sogar verpflichtet, während des Unterrichts eine Burka zu tragen, und es war uns verboten, ohne Burka zu sitzen, selbst in den für Frauen vorgesehenen Büros. Leider haben die Taliban ihre finstere Absicht schnell verwirklicht und in den letzten anderthalb Jahren allen Mädchen, auch denen, die die traditionelle schwarze Kleidung tragen, den Zugang zu Universitäten und Schulen nach der sechsten Klasse verwehrt. 

Am 22. Dezember 2022 wurde allen Universitäten eine wichtige Vorgabe gemacht. Die Taliban verkündeten, dass keine Universität mehr Mädchen zulassen dürfe, weder Angestellte noch Studierende. Diese Schließung betraf mich persönlich, da ich an der Universität unterrichtete. Leider führte die Schließung zum Verlust meines Arbeitsplatzes und zerstörte die Träume unzähliger afghanischer Mädchen und Frauen, die eine Ausbildung anstreben.

Die Geschichte einer Frau über Verlust, Hoffnung und Erneuerung 

Wir afghanischen Frauen hielten an der Hoffnung fest, eines Tages zu unseren Arbeitsplätzen zurückzukehren. Meine Tätigkeit an der Universität war für mich nicht nur ein Job, sondern eine Pflicht, die ich trotz der mir auferlegten Einschränkungen erfüllen wollte. Tag für Tag forderte diese Situation ihren Tribut von mir und stürzte mich in Depressionen.

Früher war ich eine Stütze für meine Familie und trug neben meinem Vater zu den Haushaltskosten bei. Da ich das älteste Kind meiner Eltern bin, trage ich einen Teil der Verantwortung für die Familie.  Mit dem Antritt der Taliban-Regierung im August 2021 verlor mein Vater seinen Arbeitsplatz, da er für eine der Baufirmen tätig war. In der Folge verlor auch ich meinen Job, was die finanzielle Belastung für meine Familie weiter erhöhte. Jetzt hat mein 24-jähriger Bruder, der jünger ist als ich, die Verantwortung für die Haushaltskosten übernommen. Er ist derzeit der einzige Berufstätige unter meinen Geschwistern und muss die Herausforderungen meistern, die sich mit dem Regierungswechsel vor mehr als zwei Jahren ergeben haben. Die Arbeit in einem Restaurant war der einzige Job, den er bekommen konnte.
 
Wenn ich meine Familie ansehe, fühle ich mich hilflos, da ich nicht mehr wie früher zu den Familienausgaben beitragen kann. Trotz ihrer Zusicherungen versuchte ich, meinen Kummer nicht zu zeigen, da ich sie nicht mit meinen Problemen belasten möchte. Mein Vater versuchte, mich von meinen negativen Gedanken abzulenken, aber es gelang ihm nicht. Um mich aufzumuntern, zogen meine Familie und ich unter dem Vorwand, einen Reisepass zu bekommen, nach Kabul, in der Hoffnung, dass ein Tapetenwechsel meinen Gesundheitszustand verbessern würde. Nach einem Jahr intensiver Bemühungen gelang es mir, meinen Pass zu bekommen, in der Hoffnung, eines Tages aus diesem metaphorischen Gefängnis entkommen zu können - eine Zeit, die für mich nie einen Hoffnungsschimmer darstellte. 

Ich hatte Kabul schon viele Male besucht und die Freiheit genossen, die Stadt zu erkunden, aber dieses Mal war es anders. Die Taliban haben den Frauen strenge Beschränkungen auferlegt, die ihnen den Zugang zu Freizeiteinrichtungen, die freie Bewegung in der Stadt und sogar den Besuch offener Märkte verbieten. Im Grunde genommen wechselten wir von einer Form der Gefangenschaft im Norden zu einer anderen in der Hauptstadt. 

Die Verantwortung tragen: Die Tortur der afghanischen Frauen

Die zweieinhalbjährige Herrschaft der Taliban hat deutlich gezeigt, dass das Andauern der Führung dieser Gruppe eine ernsthafte Bedrohung darstellt, die unsere Gesellschaft gefährdet und die Träume Afghanistans zunichte macht. Das Ausmaß der Bedrohung, die wir als afghanische Frauen für die Taliban-Regierung darstellen, zeigt sich in ihrer vorsätzlichen Missachtung unserer Fähigkeiten und ihren unerbittlichen Bemühungen, Mädchen auf jede erdenkliche Weise zu schaden. Wir fühlen uns im übertragenen Sinne mit all unseren Bestrebungen lebendig begraben, während sie die Träume einer ganzen Generation afghanischer Mädchen systematisch zerstören.

Das ist unsere Regierung - eine Institution, die sich vor dem Einfluss von Mädchen fürchtet, weil sie befürchtet, dass sie die Stabilität des Landes beeinträchtigen könnten. Da Frauen das Recht auf Leben, Bildung, finanzielle Unabhängigkeit und soziale Gleichheit haben, verdient ihre Präsenz in der Gesellschaft Anerkennung, die Wahrung ihrer Identität und die Anerkennung ihres menschlichen Wertes und Respekts. Die Herrschaft der Taliban hat einen dunklen Schatten auf uns alle geworfen, sowohl auf Männer als auch auf Frauen, weil sie uns unterdrückt und in unseren Möglichkeiten eingeschränkt haben. Diese erschütternde Realität besteht fort.

Wenn ich die Augen schließe, schießen mir Tausende von Fragen durch den Kopf, doch ich finde keine überzeugenden Antworten und begnüge mich mit der nüchternen Erkenntnis, dass unsere Sünde einfach darin besteht, als Mädchen geboren zu sein. In einem Wimpernschlag haben sich alle meine Träume aufgelöst, und alles erscheint wie ein flüchtiger Traum. Zweieinhalb Jahre sind vergangen, seit die Träume von Millionen junger Menschen, vor allem afghanischer Mädchen und Frauen, zerstört wurden. Die Trümmer dieser Träume, die nur wir afghanischen Frauen begreifen können, bleiben ein Zeugnis für unser Überleben in diesem turbulenten Land. Wir hätten niemals gedacht, dass wir wieder unter den Taliban leben würden, und wir afghanischen Frauen können uns nur wünschen, dass diese Situation bald ein Ende hat. Meine Nächte haben sich in Alpträume verwandelt, und der Umgang mit der Situation hat mich depressiv gemacht. Ich bin zwar noch am Leben, aber meine Lebensgeister sind gebrochen. Ich habe vor mehr als einem Jahr meine Arbeit verloren, und es war schwer, mich an diese neue Realität zu gewöhnen. 

Hoffnung inmitten der Verzweiflung finden

In letzter Zeit habe ich erschütternde Nachrichten über mehrere Mädchen gehört, die sich das Leben genommen haben. Der einzige Grund für ihre tragischen Entscheidungen war die Verweigerung des Rechts, außerhalb ihres Hauses zu studieren und zu arbeiten. Im Zuge der Schließung von Universitäten und Schulen für Mädchen wurden sogar Schönheitssalons, in denen Frauen arbeiteten, geschlossen, so dass sie keine Beschäftigungsmöglichkeiten mehr in diesem Bereich hatten. Ohne das Recht zu arbeiten, stürzten diese Schließungen viele in Verzweiflung. Berichte, die häufig in den sozialen Medien kursieren, deuten auf beunruhigende Trends hin, darunter Gerüchte über Mädchen, die von den Taliban von den Straßen Mazar-e Sharifs an unbekannte Orte verschleppt wurden, weil sie sich nicht an die strengen Kleidervorschriften hielten. 
 
Heute setzen die Taliban Gewalt wie Folter, Mord und Attentate ein, um die Stimmen der Freiheit und Gerechtigkeit zu unterdrücken. Nach den Erfahrungen der letzten zweieinhalb Jahre unter ihrer Herrschaft ist klar, dass die Zukunft des Landes gefährdet ist, wenn die Taliban an der Macht bleiben. Wir Frauen haben unter den Taliban keine Präsenz und keine Zukunft. Dies würde der Gesellschaft noch mehr Schaden zufügen und meine Träume und die Träume von Millionen afghanischer Frauen zerstören.
 
In den vergangenen Jahren habe ich mich isoliert, ich wollte allein sein und meine Eltern nicht belasten. Meine Interaktionen mit Freund*innen waren minimal. Trotz meiner Neigung zum Alleinsein haben mir meine Freund*innen beigestanden, mich ermutigt, den Herausforderungen nicht zu erliegen, und mich auf die Höhen und Tiefen des Lebens vorbereitet. Jetzt bin ich entschlossen, stärker als je zuvor aufzustehen, und ich werde meine Bemühungen fortsetzen. Zurzeit beschäftige ich mich mit dem Erlernen des Schneiderhandwerks, in der Hoffnung, dass sich meine Stimmung dadurch zum Positiven wendet und ich mir eine neue Fähigkeit aneignen kann. Der Verlust meiner guten Gefühle und meines Enthusiasmus war überwältigend, aber die Beschäftigung mit dem Nähen hat eine gewisse Verbesserung gebracht. Es ist ein Leuchtfeuer der Hoffnung in meinem Leben, besonders in einer Zeit, in der die Türen für den Fortschritt der Frauen verschlossen sind. Trotz der Unterdrückung durch die Taliban sind wir stärker als zuvor und weigern uns, unsere Niederlage zu akzeptieren. 

Mit unerschütterlicher Hoffnung sehne ich dem Tag entgegen, an dem dieser Alptraum endet und eine neue Ära der Möglichkeiten beginnt. Einem Tag, an dem Universitäten und Schulen ihre Türen für alle Mädchen und Frauen öffnen und unsere Leidenschaft für Arbeit und Bildung neu entfachen. Der Anbruch dieses Tages, an dem ich zusammen mit Millionen afghanischer Mädchen und Frauen freudig meine Arbeit wieder aufnehme, wird sehnlichst erwartet.

* Name von der Redaktion geändert

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