SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

Die Omid Online-Schule gibt Mädchen in Afghanistan Hoffnung

© Omid

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In Österreich gibt es über 70 afghanische Diaspora-Organisationen und Solidaritätsgruppen, von denen die meisten in Wien ansässig sind. Die Programme dieser Diaspora-Organisationen decken wichtige Themen ab, wie z.B. Online-Bildung für Mädchen und Frauen, Fragen des Klimawandels, insbesondere im Zusammenhang mit der Bewirtschaftung von Wasserressourcen, humanitäre Hilfe und effektive Fundraising-Initiativen. Ali Ahmad vom VIDC interviewte die Gründerin der Omid Online-Schule, Zahra Hashimi, über die Bedeutung und den Stellenwert von Bildung in Afghanistan.

Die afghanische Diaspora startete Dutzende von Online-Schulen

Die Menschen in Afghanistan erinnern sich oft an die berühmte Aussage des Erfinders und Wissenschaftlers Alexander Graham Bell „Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere“, allerdings mit einer kleinen Änderung: Wenn sich eine Tür schließt, öffnen sich Hunderte weiterer Türen. Für die einen kann eine geschlossene Tür ein Scheitern oder einen Verlust bedeuten, für die anderen sind Misserfolge eine Chance für sie selbst und für die Menschen in ihrem Umfeld.

Bildung wird in vielen Teilen der Welt als selbstverständlich angesehen, aber für afghanische Mädchen und Frauen ist sie ein ferner Traum. Seit der Rückkehr der Taliban an die Macht am 15. August 2021 sind afghanische Mädchen und Frauen das Hauptziel von Einschränkungen von Menschen- und Freiheitsrechten. Nach der Machtübernahme wurden alle Schulen für Mädchen ab der sechsten Klasse geschlossen. Im Dezember 2022 erließen die De-facto-Behörden einen Erlass, der Mädchen und Frauen den Besuch von Universitäten und die Arbeit für internationale Hilfsorganisationen untersagte.

Inmitten dieser verzweifelten Situation gründete die afghanische Diaspora Dutzende von Online-Schulen, um dem Bildungsverbot der Taliban zu trotzen. Zahra Hashimi, 27, eine ehemalige Lehrerin in Afghanistan, die seit 2015 in Wien lebt, ist eine der Gründerinnen dieser Online-Schulen und ein Hoffnungsschimmer für Hunderte von afghanischen Mädchen, denen das Grundrecht auf Bildung verwehrt wird. Die afghanischen Mädchen sind sich bewusst, dass es unter den Taliban keine Zukunft für sie gibt, dennoch kämpfen und streben sie weiter. „Sie sind auf der Suche nach einem Gefühl der Normalität und der Hoffnung, welches ihnen die Bildung einst gab“, sagte Hashimi im Gespräch mit dem Autor. 

Ein sicherer Hafen für Mädchen

Hashimi hat als Mädchen in Afghanistan selbst eine traumatische Vergangenheit erlebt. Sie wird von den afghanischen Mädchen angetrieben, die vor verschlossenen Schultüren stehen und deren Augen mit Tränen gefüllt sind, was ihren Wunsch nach Bildung widerspiegelt. Hashimi nutzte ihre Erfahrung und unterrichtete fünfzig Mädchen in Mathematik über einen Instagram-Post. Entgegen ihren Erwartungen meldeten sich 300 Mädchen für ihre Programme an. Die unerschütterliche Hartnäckigkeit und der Mut der jungen Mädchen motivierten Hashimi, ihren Engagement zu einer Online-Schule auszuweiten - die Omid Online-Schule. In der Sprache Dari bedeutet Omid Hoffnung.

Die Omid Online-Schule dient als sicherer Hafen und sozialer Knotenpunkt für junge afghanische Mädchen und Frauen. Die Schule schafft Verbindungen, die Mädchen lernen voneinander, nehmen an Gruppenaktivitäten teil und entfliehen den täglichen Herausforderungen des von den Taliban kontrollierten Afghanistans. Die Mädchen seien so eifrig, dass sie ihre Ausbildung fortsetzen, sogar während der Ferienzeiten, und Omid ist zu einem wichtigen Teil ihres Lebens geworden. „Die Mädchen haben die Schule als eine Quelle der Hoffnung und als einen Weg in eine bessere Zukunft angenommen. Sie hat ihnen ein Gefühl von Perspektive und Optimismus gegeben.“

Zu Beginn folgte die Schule dem Lehrplan des afghanischen Bildungsministeriums, um Kontinuität im Hinblick auf die regulären Schulen zu gewährleisten und den Mädchen einen problemlosen Übergang und Aufstieg zu ermöglichen. Die Hoffnungen der Mädchen wurden jedoch durch weitere Einschränkungen der Freiheiten von Frauen enttäuscht. So reduzierte die Online-Schule die Zahl der regulären Unterrichtsfächer von 13 im ersten Jahr auf sieben reguläre Fächer und drei außerschulische Fächer im zweiten Jahr.* Diese drei Fächer werden in Seminaren unterrichtet, die jeweils zweimal im Monat stattfinden. Im Juni 2023 verfügt die Schule über ein Verwaltungsteam, fünfunddreißig ehrenamtliche Lehrer*innen (aus Afghanistan und der afghanischen Diaspora) und 540 Schülerinnen der siebten bis zwölften Klasse.

Hashimi arbeitet für „Fremde werden Freunde“, eine Initiative für zivilgesellschaftliches Engagement, welche sich für die soziale Integration von Menschen mit Migrationsgeschichet in die österreichische Gesellschaft einsetzt. Als registriertes Projekt von „Fremde werden Freunde“ erhält die Omid Online-Schule von der Organisation wertvolle technische Unterstützung und Hilfe bei der Verwaltung von Spenden. Hashimi arbeitet auch als Reisejournalistin und Influencerin für Darya, ein Medienunternehmen, das zu Saad Mohsenis bekanntem afghanischen Geschäftskonglomerat, der Moby Group, gehört. Im Jahr 2022 moderierte sie die erste Staffel der Sendung „Didar“, und sie beabsichtigt, auch die nächste Staffel zu moderieren.

Herausforderungen meistern: Überwindung von Bildungsbarrieren in Afghanistan

Die Registrierung von Omid als offizielle Online-Schule ist für Hashimi und ihr Team eine Herausforderung geblieben. Trotz ihrer veröffentlichten Kritik an den Taliban versuchte sie, die Schule beim afghanischen Ministerium für Wirtschaft und Arbeit zu registrieren, in der Hoffnung, dass die Taliban den Mädchen zumindest erlauben würden, ihre Studien online fortzusetzen, um vielleicht ein positiveres Bild von sich zu vermitteln. Aber die Taliban weigerten sich, die Schule zu registrieren. „Ich habe sie öffentlich kritisiert, ohne zu ahnen, dass ich eines Tages mit ihnen zusammenarbeiten muss“, so Hashimi.

Die Schule ist auf Spenden angewiesen, um notwendige Dinge wie den Internetzugang für Lehrer*innen und eine begrenzte Anzahl von Schülerinnen zu finanzieren, und diese finanziellen Einschränkungen stellen eine erhebliche Herausforderung für die kurz- und langfristigen Aussichten des Schulbetriebs dar. Hashimi hat die meiste Zeit damit verbracht, Geld zu sammeln, um den Betrieb der Schule aufrechtzuerhalten, aber die Zukunft der Schule ist nach wie vor ungewiss. Inmitten dieser Ungewissheit ist Hashimi entschlossen, langfristige Sponsoren und zuverlässige Finanzierungsmöglichkeiten zu finden.

Die Schule steht vor vielen weiteren Herausforderungen, denn viele Schülerinnen haben keinen Zugang zum Internet und zu mobilen Geräten. Ihre Möglichkeiten zu lernen, werden dadurch beeinträchtigt, dass sie sich ein Gerät mit anderen Familienmitgliedern teilen müssen. In Afghanistan ist es noch schwieriger, auf engem Raum mit eingeschränkter Privatsphäre zu leben, und kulturelle Beschränkungen verhindern häufig ein Eingreifen in Situationen, in denen Mädchen gezwungen sind, jung zu heiraten, anstatt ihre Ausbildung fortzusetzen. Trotz dieser Schwierigkeiten beweisen die Schülerinnen unglaublichen Mut und Hartnäckigkeit bei ihrer Suche nach einem Gefühl der Normalität und Hoffnung in einer Kultur, die Ausgrenzung und geschlechtsspezifische Gewalt in den Vordergrund stellt. Laut Hashimi leiden viele Studentinnen unter psychischen Problemen - die häufig stigmatisiert werden - und zögern, Hilfe zu suchen. Tragischerweise kam es zu Selbstmorden von Schülerinnen, was sich negativ auf die Motivation von Lehrenden und anderen Schülerinnen auswirkte. Trotz dieser Herausforderungen bleiben Hashimi und ihr Team hartnäckig und bieten psychologische Unterstützung an, um den Schülerinnen in prekären Situationen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen. Die außergewöhnliche Tatkraft und der Mut der Mädchen motivieren weiterhin alle Beteiligten und unterstreichen die Bedeutung der Schule als Quelle der Hoffnung in einem vom Krieg zerrütteten Land. In dem Interview berichtete Hashimi darüber, dass die Lehrkräfte von den Taliban bedroht und eingeschüchtert werden und dass ihr Team die Sicherheit der Schule, der Lehrkräfte und der Schülerinnen trotzdem mit großer Sorgfalt gewährleistet.

Die Ergebnisse und die Zukunft der Omid Online-Schule

Trotz zahlreicher Herausforderungen hat die Schule inspirierende Erfolgsgeschichten hervorgebracht. Ein bemerkenswertes Beispiel ist die Entwicklung der Tochter eines ehemaligen Mathematiklehrers der Schule. Obwohl es dem Mädchen zunächst an Selbstvertrauen fehlte, stellte Hashimi sie nach dem Abschluss der 12. Klasse von Omid ein, um Physik in der neunten und elften Klasse zu unterrichten. Die Wandlung des Mädchens von einer schüchternen Schülerin zu einer selbstbewussten Lehrerin sei inspirierend.

Zwei Schülerinnen aus einem ländlichen Gebiet in der Nähe von Kabul, die noch keine Erfahrung im Umgang mit Smartphones hatten, erhielten die Möglichkeit, durch die Omid Online-Schule zu lernen. Ihr Onkel, der ihr Talent erkannte, arbeitete mit Hashimi und ihrem Team zusammen, um ein Telefon zu beschaffen, wobei Omid die Internetkosten übernahm. Trotz ihrer anfänglichen Unkenntnis haben die beiden Schülerinnen dann hervorragende Leistungen erbracht und Spitzenplätze in ihren Klassen belegt. Diese Errungenschaften mögen klein erscheinen, aber sie „sind ein Beispiel dafür, wie sehr unsere Schule das Leben der Schülerinnen verändert“, erklärte Hashimi. 
  
„Ich würde gerne unsere Reichweite auf alle Orte mit Internetanschluss ausdehnen und den Schülerinnen den Zugang zum Internet ermöglichen. Es sind nicht nur hundert oder tausend Mädchen in Afghanistan, die diese Möglichkeit haben wollen; es sind Millionen. Obwohl ich bereit bin, dieses Projekt fortzusetzen, wird es ohne ausreichende Finanzierung nicht nachhaltig sein. Es ist unglaublich schwierig“, betonte Hashimi. Der Aufbau der Omid Online-Schule ist von Entschlossenheit und Hoffnung geprägt. Obwohl Hashimi zunächst auf eine Wiedereröffnung der regulären Schulen gehofft hatte, weiß sie jetzt, dass ihre Schule weiterhin als dauerhafte Bildungseinrichtung gebraucht wird und wichtige Unterstützung bieten muss. Zu den künftigen Zielen gehören die Sicherung der Finanzierung, der Aufbau von Netzwerken und die Bildung von Partnerschaften, um die Wirkung der Schule zu verstärken und möglicherweise eines Tages den Titel eines angesehenen Bildungsinstituts in Afghanistan zu erlangen.  
 
„Wir bitten die Menschen inständig, auf die Situation in Afghanistan aufmerksam zu machen und zu handeln. Afghanische Mädchen können von der Unterstützung in Form von Online-Stipendien, gebrauchter Technologie, Unterricht, Workshops und außerschulischen Aktivitäten wie Yoga sehr profitieren“, appellierte Hashimi. Der konstante Faktor, der Mädchen ihre Unabhängigkeit gibt und eine bessere Zukunft garantiert, ist Bildung. „Lassen Sie uns gemeinsam aufstehen und die Welt verändern“, sagte Hashimi.  

„Wir sind nicht mehr dieselben Frauen, wie zur Zeit der ersten Taliban-Herrschaft zwischen 1996 und 2001, die bereit sind, zu Hause zu bleiben, um Kinder zu erziehen. Der einzige Schlüssel, über den ich derzeit mit Zuversicht sprechen kann, ist Bildung, und die ist unbestreitbar der Schlüssel. Auch wenn Macht und andere Faktoren eine Rolle spielen mögen, ist Bildung das Einzige, was auf Dauer Bestand hat“, schloss Hashimi. 

* Die sieben regulären Fächer sind Mathematik, Dari, Biologie, Paschtu, Chemie, Physik und Englisch. Drei Wahlfächer - Geschichte, Geografie und Islam - werden jeweils zweimal im Monat in Seminarform angeboten. 

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