SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

Das Fluchtparadox. Über den widersprüchlichen Umgang mit Vertriebenen.

Judith Kohlenberger im Gespräch mit Michael Fanizadeh (VIDC Global Dialogue)

VIDC Online Magazine Spotlight

Dieser Artikel wurde im VIDC Online Magazin Spotlight September 2022 veröffentlicht. Wenn Sie den vierteljährlich erscheinenden Spotlight, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

Gesprächspartner*innen


Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien, wo sie zu Fluchtmigration und Integration forscht und lehrt. Ihre Arbeit wurde in internationalen Journals veröffentlicht und mit dem Kurt-Rothschild-Preis 2019 sowie dem Förderpreis der Stadt Wien ausgezeichnet. Außerdem ist sie im Integrationsrat der Stadt Wien tätig und engagiert sich als Gründungsmitglied von Courage – Mut zur Menschlichkeit für legale Fluchtwege.

Michael Fanizadeh ist Politikwissenschaftler. Seine Arbeitsbereiche bei VIDC Global Dialogue sind Migration und Entwicklung, Menschenrechte und Antidiskriminierung mit einem regionalen Fokus auf den Nahen und Mittleren Osten. Außerdem leitet er die Arbeitsgruppe Migration & Entwicklung der Globalen Verantwortung, Arbeitsgemeinschaft für Entwicklung und Humanitäre Hilfe.

Buchcover "Das Fluchtparadox." (Kohlenberger, 2022)

Buchcover "Das Fluchtparadox." (Kohlenberger, 2022)

Die Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger hat ein neues Buch geschrieben. Unter dem Titel „Das Fluchtparadox“ beschreibt sie „unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen.“  Wobei sich dieses Fluchtparadox für sie entlang der tatsächlichen wie symbolischen Reise eröffnet, die ein flüchtender Mensch im derzeitigen internationalen wie nationalen Asylregime durchlaufen muss: „Vom Moment der Ausreise bzw. versuchten Einreise zwecks Asylantragsstellung im Aufnahmeland, über seine Aufnahme und Konstitution als ‚Flüchtling‘ in der Gastgesellschaft (sic!) bis hin zur teils implizit, teils vehement geforderten ‚Integration‘ (…).“

Im Gespräch mit Kohlenberger werden Aspekte herausgegriffen, die sie im Buch unter dem Begriff „Asylparadox“ diskutiert und die auf die Ursachen von Vertreibung und Maßnahmen zur externalisierten Migrationskontrolle fokussieren. Themen mit denen sich VIDC Global Dialogue seit 2010 im Rahmen des Schwerpunkts Migration & Entwicklung beschäftigt, zunächst im Rahmen eines EU-geförderten Projekts und danach im Kontext unserer Arbeit zu Subsahara-Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten. Spätestens seit der großen Fluchtbewegung 2015 aus Syrien, Afghanistan und dem Irak nach Europa hat sich dieses Interesse auch in der Öffentlichkeit dynamisiert, wodurch sich nach und nach die Fragen zu den „Fluchtursachen“ jenseits von Kriegen und Konflikten in den Vordergrund gedrängt haben.

Fanizadeh: Bei der Beschäftigung mit dem sogenannten Fluchtursachen formuliert der entwicklungspolitische Sektor, dass Entwicklungszusammenarbeit (EZA) einen Unterschied ausmachen könnte, wenn es darum geht, „erzwungene“ Migration oder Vertreibung zu bekämpfen. Sie kritisieren, dass diese „Hilfe vor Ort“ für vertriebene Menschen einerseits kaum geleistet wird und andererseits würde diese Hilfe eine paradoxe Wirkung entfalten und langfristig zu eher mehr als weniger Emigration aus den betroffenen Ländern führen. Wie ist das zu verstehen?

Kohlenberger: Meine Kritik ist nicht dazu gedacht, die EZA grundsätzlich in Abrede zu stellen. Da wäre ich auch gar nicht die richtige Expertin dafür. Aber diese Gleichung „Hilfe vor Ort oder Entwicklungszusammenarbeit oder Ökonomische Entwicklung = weniger Emigration“, die möchte ich problematisieren. Weil sich zeigt, dass in den am wenigsten entwickelten Regionen der Welt ein Anstieg des Lohnniveaus, der ökonomischen Entwicklung, zuerst eher zu einem Anstieg der Emigration führt. Denn durch zunehmende Entwicklung bekommen jene Gruppen, die einen abstrakten Migrationswunsch hegen, nun eben auch die Mittel und Ressourcen, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen.

Fanizadeh: Wir sehen Migration als eine Möglichkeit zur Adaption, zur Armutsbekämpfung, was ja auch der primäre Auftrag der EZA ist, wie im österreichischen Entwicklungszusammenarbeitsgesetz betont wird. 

Kohlenberger: Ich möchte zustimmen, dass Migration – gerade in der heutigen Welt — eine Überlebensstrategie ist, also eine Adaptionsstrategie wie Sie richtig sagen, gerade mit dem Blick auf den Klimawandel. Ich würde es aber sogar noch breiter fassen, eigentlich ist Migration ja eine menschliche Grundkonstante. Weil „Adaptionsstrategie“ auch schon wieder leicht defizitär klingt: Ich reagiere auf schlechte, auf suboptimale Bedingungen durch Migration, die gar nicht stattfinden würde, wären die Bedingungen optimal. Das ist der häufig gehörte Grundtenor, gerade wenn es um die Unterscheidung von freiwilliger und unfreiwilliger Migration geht. Aber selbst bei freiwilliger Arbeitsmigration besteht oftmals die Annahme: Hätten wir absolute ökonomische Konvergenz, dann gäbe es keine Migration mehr. Das würde ich in Abrede stellen. Keine Region ist mobiler als der Globale Norden, vor allem Europa und Nord-Amerika. Das kommt in der Diskussion überhaupt nicht vor.

Fanizadeh: Sie erklären in Ihrem Buch, dass Subsahara-Afrika zu den emigrationsschwächsten Regionen der Welt zählt. Dennoch gibt es eine geradezu obsessive Beschäftigung mit Sub-Sahara-Afrika, obwohl Afrika wie Sie sagen „kein Kontinent ‘on the move’“ ist. Warum ist das so?

Kohlenberger: Da gibt es unterschiedliche Erklärungsebenen. Ein ganz wichtiger Aspekt ist die koloniale Vergangenheit Europas, auch eines Landes wie Österreich. De facto bestehen weiterhin unzählige Formen der Ausbeutung zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Deshalb komme ich am Ende meines Buches zur Frage der Verantwortungsübernahme: Da passiert viel Auslagerung, Wegschieben oder Verweigerung von Verantwortung. Auslagern im Migrationskontext ist überhaupt das Instrument der Wahl. Ich nehme einen Diskurs wahr, der besagt: „Afrika ist ein Kontinent, der selbst schuld ist, dass er ökonomisch noch nicht weiterentwickelt ist, und jetzt wollen die ganzen Leute auch noch zu uns kommen.“ Da kann man natürlich eine Drohkulisse epischen Ausmaßes aufbauen, unabhängig davon, was die Fakten sagen. Dahinter steht aber die koloniale Geschichte und die Tatsache, dass gerade diese Drohkulisse stark rassistisch aufgeladen ist. Indem man aber den Fokus dorthin schiebt, kann man die Verantwortung von sich weisen. Mit dem willkommenen Nebeneffekt, das europäische Gewissen reinzuwaschen. Und politisch müssen wir somit keine Verantwortung für Vergangenes noch für Zukünftiges übernehmen.

Fanizadeh: Drohkulisse „Klimakrise“ wäre hier mein Stichwort. Da werden ja oftmals horrende Zahlen von potentiellen Vertriebenen aufgrund der Klimakrise in Umlauf gebracht: Die Weltbank spricht z.B. von 216 Millionen weltweit Vertriebenen bis 2050. Wie erleben Sie diese Debatte?

Kohlenberger: In der Klimadebatte nehme ich wahr, dass sie teilweise sehr scheinheilig geführt wird. Einerseits weil problematisch argumentiert wird, wir müssten das Klima besser schützen, damit die Menschen nicht kommen. Im Extremfall befeuert das nur Migrationsskepsis. Und ja, wir müssen CO2-Emissionen senken, aber was geschieht in anderen Ländern, die nicht im Globalen Norden verortet sind. Dürfen diese jetzt ihre Industrie aufbauen, so wie wir es getan haben? Das ist ja der Grund, warum es dieses Ungleichgewicht gibt. Europa durfte sich ökonomisch entfalten, aber jetzt gesteht man das anderen Ländern nicht zu, obwohl sie die Auswirkungen der Klimakrise früher zu spüren bekommen.

Fanizadeh: In der Diskussion kommt es oft zur Vermischung von Flucht und Migration. So verstehe ich auch das von ihnen benannte Paradox: Wenn reguläre Migration sinkt, steigt Asylmigration. Warum ist das so? Und wäre das nicht ein Plädoyer für sichere und geordnete Migrationswege?

Kohlenberger: Genau dieses Paradox können wir an Österreichs Grenzen beobachten. Nicht das Asylregime in der EU ist problematisch, weil ja weiterhin die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention eingehalten wird — von Einzelfällen völkerrechtswidriger Push Backs abgesehen. Es gibt auch keine Bestrebungen diese Grundsatzdokumente ad acta zu legen. Das eigentliche Problem ist vielmehr die Arbeitsmigration, die legale Einreise. Sehr viele Menschen, die nicht im EU- oder Schengen-Raum leben, haben kaum die Möglichkeit legal einzuwandern. Das führt dazu, dass sie in die Asylschiene „gedrängt“ werden, was für beide Seiten nicht ideal ist. Man müsste das System diversifizieren und unterschiedliche Instrumente für die legale Einreise anbieten. Dadurch würde sich ein gewisser Anteil derer, die sich jetzt in der Asylschiene wiederfinden, auf andere Einreisewege umlenken lassen, aber die gibt es momentan nicht. Das ist die eigentliche Baustelle im Hintergrund, über die kaum gesprochen wird.

Fanizadeh: Zum Abschluss: Sie betonen, dass die rechtlichen Grundlagen in Bezug auf Asyl in Europa weiterhin „im Großen und Ganzen“ aufrecht sind, aber der Zugang zu diesen Rechten würde immer schwieriger werden. Daher der von Ihnen beschriebene Hang zu Externalisierung der Außengrenzen. Warum ist das problematisch?

Kohlenberger: Die Externalisierung bringt für mich ganz viele Dinge auf den Punkt. Es ist vor allem eine Auslagerung der Asylverantwortlichkeit. Es gibt nicht umsonst das Sprichwort „aus den Augen, aus dem Sinn“. Je weiter weg man die Menschen hält, desto weniger deutlich wird es für die einzelne EU-Bürger*in, dass ihr Recht auf Schutz auch Teil der eigenen Verantwortung ist. Das ist beim griechischen Flüchtlingslager Moria zunehmend schwierig, denn ein Teil der europäischen Bevölkerung will das nicht mehr so hinnehmen. Wenn man aber die EU-Grenze bis in die Sahara oder darüber hinaus auslagert, wird es immer schwieriger zu vermitteln, dass es aufgrund der europäischen Grenzpolitik eben auch eine europäische Verantwortung ist, wenn die Menschen dort sterben (26. September 2022).

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