Seewald: 2023 feiert Israel das 75. Jubiläum seiner Staatsgründung. Anlässlich der Staatgründung versprach der erste israelische Ministerpräsident Ben Gurion in seiner Rede: „…[der Staat Israel] wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestutzt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen.“ Was ist aus heutiger Sicht aus diesem Versprechen geworden?
Zuckermann: Man darf behaupten, dass von dieser aufgeklärten, sich an westlichen Idealen orientierenden Deklaration herzlich wenig eingehalten bzw. verwirklicht worden ist. Die Entwicklung des Landes erfolgte nicht zum Wohle aller seiner Bürger*innen. Die arabischen Bürger*innen des Landes leben de facto bis zum heutigen Tag als Bürger*innen zweiter Klasse, was die Ressourcenverteilung, ihren politischen Status (ihre Parteien werden als nicht koalitionswürdig erachtet), das Erziehungssystem, die munizipalen Dienstleistungen und die allgemeine Wohlfahrt anbelangt. Soziale Gerechtigkeit und Frieden existieren nicht in einem Land, das seit über 50 Jahren ein brutales Okkupationsregime aufrechterhält. Es scheint fraglich, ob die Politiker*innen Israels je einen Frieden gewollt haben. Nicht von ungefähr heißt es heute in Israels politischer Kultur, dass man den Konflikt mit den Palästinenser*innen nicht lösen kann, sondern lediglich verwalten muss. Zudem ist Rassismus auf vielen Ebenen in Israel vorzufinden.