SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

„Wir brauchen Macht, um den Wandel anzuführen.“

Samar Al Bradan im Gespräch mit Magda Seewald (VIDC Global Dialogue)

VIDC Online Magazin Spotlight

Dieser Artikel wurde im VIDC Online Magazin Spotlight Dezember 2022 veröffentlicht. Wenn Sie den vierteljährlich erscheinenden Spotlight, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

Gesprächspartnerinnen


Samar Al Bradan ist Studentin der Rechtswissenschaften an der Universität Wien. Ihr Studium und ihre Arbeit konzentrieren sich auf internationales Strafrecht und die Anwendung der universellen Gerichtsbarkeit im syrischen Kontext (CEHRI). Parallel zu ihrer juristischen Laufbahn ist Samar Gründungsmitglied von Syrian Women for Justice and Peace. Sie arbeitet auch als Beraterin für das VIDC in Angelegenheiten der syrischen Diaspora in Österreich und Europa.

Magda Seewald ist Bereichsleiterin von VIDC Global Dialogue. Ihr regionaler Schwerpunkt ist der Nahe Osten. Als Genderreferentin ist sie für die Bereiche Gender & Konflikt sowie Gendersensibilisierung im Migrationskontext zuständig.

Alaa Totanjy Afrah Najm © Karo Pernegger

Alaa Totanjy Afrah Najm © Karo Pernegger

Dieses klare Statement traf Oula Ramadan im Rahmen der Netzwerkkonferenz „Syrian Women in Europe Building the Future“, die am 6. und 7. Oktober 2022 in Wien stattfand. Rund 30 syrische Frauen* aus ganz Europa kamen auf Initiative von VIDC Global Dialogue zusammen, um Möglichkeiten des gemeinsamen Handels für eine bessere Zukunft in Syrien auszuloten. Magda Seewald, bei VIDC Global Dialogue zuständig für die Agenden der UN-Sicherheitsratsresolution 1325, führte das nachfolgende Gespräch mit der VIDC-Konsulentin und Initiatorin der Konferenz Samar Al Bradan.

Seewald: Seit 2015 hat sich in Europa eine starke, sehr aktive syrische Zivilgesellschaft entwickelt. Allein in Deutschland gibt es rund 100 syrische Organisationen. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Konnten Aktivist*innen bereits auf bestehende Netzwerke aus Syrien zurückgreifen?

Al Bradan: Die Zivilgesellschaft in Syrien erlebte eine lange Geschichte der Unterdrückung durch das Assad-Regime. Auch wenn es bereits vor 2011 prominente Aktivist*innen gegeben hat, mussten sie für ihr Engagement einen hohen Preis zahlen: Inhaftierung, Folter und Tod. Mit der Revolution von 2011 entstand eine breite Bewegung gegen das Regime. Mit der blutigen Niederschlagung der Proteste flohen viele dieser Aktivist*innen nach Europa und versuchten sich hier zu organisieren. Manche europäischen Länder, wie Deutschland oder die Niederlande, erkannten rasch, dass eine gut organisierte syrische Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle bei der Integration von Syrer*innen in die europäische Gesellschaft spielen könnte, und förderten den Aufbau von neuen Organisationen, wie beispielsweise den Dachverband Deutsch-Syrischer Hilfsvereine.
Jedoch gibt es trotz diverser Förderprogramme immer noch strukturelle Probleme für Diasporavereine: Es ist immer schwierig für zivilgesellschaftliche Diaspora-Vereine Bankkonten zu eröffnen oder direkte Finanzierungen zu bekommen. In den meisten Fällen gibt es nur monetäre Zuschüsse über andere europäische Organisationen. Zudem sind die Förderungen oft unzureichend und lassen keine langfristige Planung zu.

Seewald: Ruham Hawash, u.a. Vorstandsmitglied des Verbands Deutsch-Syrischer Hilfsvereine, kritisierte in ihrem Beitrag auf der Konferenz, dass nur rund 4% aller Förderungen, die an die syrische Zivilgesellschaft gehen, direkt Frauen* und Frauen*anliegen zugutekommen. Diese Fördermittelvergabe widerspricht der UN-SRR 1325. Denn mit der Ratifizierung der UN-SRR 1325 haben sich europäische Staaten verpflichtet, dass sie von Konflikten betroffene Frauen* besonders unterstützen.

Al Bradan: Ich war über den niedrigen Prozentsatz ebenfalls schockiert. Ich denke, dass in Bezug auf Syrien die Priorität von Fördergerber*innen auf humanitäre Projekte gelegt wird und dort die speziellen Bedürfnisse von Frauen* weniger ins Gewicht fallen. Zudem werden geflüchtete Frauen* in Europa weit weniger mit den Agenden der UN-SRR 1325 in Verbindung gebracht und fallen somit nicht unter die entsprechenden Aktionspläne.

Seewald: Wie wir im Rahmen unserer Konferenz gesehen haben, sind Frauen* in der syrischen Diaspora sehr aktiv. Gab es diesbezüglich bereits eine Tradition in Syrien? Sind die Frauen* auch in Syrien aktiv und vernetzt?

Al Bradan: Vom Assad-Regime in Syrien wurden Frauen*agenden oft missbraucht, um das eigene Image zu verbessern. Beispielsweise hat Syrien etwa bereits 2003 die CEDAW (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women) ratifiziert und sich damit völkerrechtlich verpflichtet die Gleichstellung von Frauen* und Männern zu gewährleisten. Trotzdem gibt es zahlreiche syrische Gesetze, die Frauen* sehr stark diskriminieren. Zahlreiche Aktivistinnen* haben sich oppositionellen Parteien angeschlossen, um für Frauenrechte zu kämpfen und sind dafür vielfach inhaftiert worden. Frauen* haben sich ab 2011 aktiv an den Protesten gegen das Assad-Regime beteiligt. Dennoch hat sich meinen Beobachtung nach in Syrien nie wirklich eine Frauen*bewegung herausgebildet, die etwa vergleichbar wäre mit jener im Iran. Gegenwärtig sehe ich die größte Herausforderung für syrischen Frauen*aktivismus in der geografischen Trennung von Aktivistinnen*: Zum einen in Syrien, wo Gebiete unter unterschiedlicher politischer Kontrolle stehen und zum anderen hier in Europa, wo Syrerinnen* in verschiedenen Ländern leben. Daher sind Konferenzen wie diese wichtig. Denn hier werden Räume geschaffen, wo Syrerinnen* sich austauschen können, um strategische Planungen gemeinsam zu gestalten: Sie entwickeln Visionen über eine Zukunft in Syrien, in der Frauen*rechte und -interessen gewahrt werden.

Seewald: Auf der Konferenz war Sabah Al Hallaq, eine politische Aktivistin zu Gast, die in das Beratungsgremium des UN-Special Envoy für Syrien miteingebunden war. In diesem Beratungsgremium waren mehrere Frauen* präsent, trotzdem wird kritisiert, dass Frauen* in die verschiedenen Verhandlungsprozesse nicht eingebunden waren.

Al Bradan: Es war zwar ein Erfolg, dass Frauen* in einem Beratungsgremium zu Wort kamen, jedoch stellt sich die Frage, warum diese großartigen und kompetenten Frauen* nur im Nebenraum Platz hatten und nicht direkt am Verhandlungstisch teilnehmen konnten. Leider spielt die EU derzeit keine wesentliche Rolle in der Gestaltung der demokratischen Zukunft Syriens, sie könnte eine stärkere Einbindung von Frauen* in den laufenden Verhandlungen fordern. In Sachen Politik ist es tatsächlich immer noch so, dass die alte Generation dominiert – ehemalige Beamten, Aktivisten oder Wissenschaftler, viele von ihnen sind ehemalige politische Gefangene, die nun im Exil arbeiten und versuchen, meiner Meinung nach erfolglos, eine politische Opposition gegen das Regime in Syrien aufzubauen.

Seewald: Das Thema Wissensproduktion nahm auf der Konferenz einen wesentlichen Stellenwert ein. Es gab dazu, meines Erachtens auch unterschiedliche Wahrnehmungen zwischen der syrischen Diaspora und den Aktivistinnen*, die uns direkt aus Syrien zugeschaltet waren.

Al Bradan: Die syrische Gesellschaft entwickelt sich in viele verschiedene Richtungen. Die Menschen in Syrien leben unter extremen Bedingungen in einer unmenschlichen Diktatur. In Syrien sind etwa Webseiten mit Inhalten zu Freiheit und Grundrechten nicht öffentlich zugänglich. Im Gegensatz zur EU: Hier haben wir mehr Ressourcen und Räume, um uns auch wissenschaftlich mit einer demokratischeren, besseren Zukunft für Syrien auseinanderzusetzen. Daher ist es u.a. sehr wichtig, den Kontakt zu den Menschen in Syrien aufrechtzuerhalten und sich auszutauschen, Frauen* aus Syrien waren per Zoom zur Konferenz zugeschalten. Ihre Bedürfnisse und Prioritäten sind unterschiedlich und das führt selbstverständlich zu diversen Sichtweisen auf die Zukunft Syriens. Ich glaube jedoch, dass wir uns alle einig sind, wie wichtig es ist, eine eigene, von Frauen geführte Wissensproduktion zu haben, auch wenn wir vielleicht kontroversielle Meinungen darüber haben, worauf wir uns konzentrieren sollten.

Seewald: Was war für dich das wichtigste Ergebnis der Konferenz? Welchen Ausblick hat sie ermöglicht?

Al Bradan: Viele der Teilnehmerinnen* haben unsere Annahme bestätigt, dass es Räume und Gelegenheiten braucht, um sich zu treffen und sich über Länder- und Kontinentgrenzen hinweg zu vernetzen und den Austausch zwischen den Generationen zu ermöglichen: Auf der Konferenz ist es uns gelungen etablierte und junge Aktivistinnen*, die vielfach bisher von der „älteren“ Generation nicht wahrgenommen wurden, zusammen zu bringen. Durch diesen intergenerationalen Austausch ist auf der Konferenz die Idee eines Mentoring-Projektes entstanden, indem erfahrene Aktivistinnen* jüngere unterstützen könnten. Zudem sind Ideen für neue Kooperationen entstanden, wie etwa zwischen Syrerinnen* und Frauen* aus anderen arabisch-sprechenden Diaspora-Communities. Insgesamt war es für mich ein erfrischendes Erfolgserlebnis, dass eine europäische Organisation wie das VIDC die syrische Zivilgesellschaft in Europa unterstützt, ohne ihre eigene Agenda durchsetzen zu wollen: Durch den partizipativen Prozess im Vorfeld der Konferenz ist ein Programm entstanden ist, das die Bedürfnisse der weiblichen* Diaspora-Community abgebildet hat. Ich denke, es sollte im nächsten Jahr eine Folgeveranstaltung geben, um die Kontakte und die Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten.

Seewald: Danke für das Gespräch und für deine Initiative für diese Konferenz! 

(16. Dezember 2022)

 

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