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Unerhört? Frauen und ihre Kämpfe in Afrikas informeller Wirtschaft

Bericht von der Podiumsdiskussion am 7. Otokber 2019

Vortragende

Lorraine Sibanda

Präsidentin von Streetnet International - Alliance of Street Vendors, Gwanda, Zimbabwe

Karin Pape

Stellvertretende Direktorin von WIEGO - Women in Informal Economy: Globalizing and Organizing, Berlin/Manchester

Teresa Wabuko

Nationale Frauenkoordinatorin von KUDHEIHA - Haushalts-, Hotel- und Krankenhausbedienstete Gewerkschaft, Nairobi, Kenia

Moderation: Rita Isiba, Aphropean, Wien/London

Begrüßung
Korinna Schumann, ÖGB Vizepräsidentin und Bundesfrauenvorsitzende
Sybille Straubinger, VIDC Geschäftsführerin

Autoren

Henrik Fendt
Franz Schmidjell

Weltweit  sind  über  60  Prozent  der  Erwerbstätigen  in  der informellenWirtschaft tätig,  in  manchen afrikanischen  Ländern  sind  es  90  Prozent. Auch  im  globalen  Norden ist  die  informelle  Beschäftigung viel verbreiteter als angenommen. Die Arbeitsbedingungen sind dabei zumeist prekär und ins-besondere  Frauen  sind  davon  betroffen. Anlässlich des „Welttag für menschenwürdige Arbeit“ am 7.  Oktober  2019  haben  das  VIDC,  das Internationale  Referat  des ÖGB,  der  Verband  Österreichi-scher Gewerkschaftlicher Bildung (VÖGB) und der Verein “weltumspannendarbeiten“zu diesem Thema internationale  Expertinnen eingeladen.  Sie  diskutierten  vor  über  100  Besucher*innen im ÖGB  Veranstaltungszentrum die  Arbeits-und  Lebensrealitäten  der  informell  Beschäftigten  sowie zivilgesellschaftliche beziehungsweise gewerkschaftliche Lösungssätze  zur  Verbesserung  deren Arbeitsbedingungen.

Korinna Schumann, ÖGB Vizepräsidentin und Bundesfrauen-vorsitzende  begrüßte  die  Teilnehmer*innen.  Sie  wies  darauf hin, dass die Veranstaltung nicht zufällig am „Welttag für men-schenwürdige  Arbeit“stattfinde.  Dieser  Welttag  sei anlässlich der Gründung des Internationalen Gewerkschaftsbundes vor 13 Jahren in Wienins Leben gerufen worden. Die zentrale Voraussetzung für menschenwürdige Arbeit seien geregelte Arbeitsverhältnisse –diese aber seien weltweit oft bei Weitem noch keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Ausnahme. Das gelte besonders im globalen  Süden,  aber  immer  stärker  auch  in  Europa.  Es  müsse  also  darum  gehen,  voneinander  zu lernen.

Die Aufgabe des VIDC, betonte  die Geschäftsführerin Sybille  Straubinger,  liege  gerade  im  inter-nationalen Austausch  und  im  Lernen  voneinander.  Dazu  lade das  Institutimmer  wieder  internatio-nale  Expert*innen  ein.  Der  Titel  der  Reihe  „Unerhört“  stelle  dabei  die  Perspektive  und  Situation von Frauen in den Vordergrund, die von den diskutierten Themen, wie auch der informellen Arbeit, besonders  betroffen  seien.  Gleichzeitig  gehe  es  darum,  dass Frauen   gehört werden,  also nicht nur über sie  gesprochen  wird, sondern dass  wir ihnen  zuhören  und  sie  unmittelbar  zu  Wort kommen zu lassen. Für die Vorbereitung der Veranstaltung danke sie Michael Wögerer  (weltumspannend arbeiten,  ÖGB),  Isabelle Ourny (VÖGB) sowie Franz Schmidjell (VIDC).

 

"Informal is normal"

Rita  Isiba begann  die  Moderation  der Veranstaltung  mit  einer  Beschreibung  des  informellen  Sektors:  hiermit  seien  solche Arbeitsverhältnisse  gemeint,  die  nicht  staatlich  reguliert  seien,  in  denen keine  Steuern  gezahlt  würden  und  in  denen  es  keine  sozialen  Sicherungsmaßnahmen  gebe.  Solche Arbeitsverhältnisse gebe es nicht nur in Afrika, sondern auch in Europa –man denke nur an Pflege-oder Reinigungskräfte.

Es  sei  keine  Selbstverständlichkeit,  begann Karin  Pape stell-vertretende  Geschäftsführerin  der  Organisation  WIEGO  (Women  in  Informal  Economy: Globalizing  and  Organizing),  dass informell Arbeitende überhaupt gehört und von Gewerkschaften eingeladen  würden; dass sie selbst sprechen könnten, statt dass lediglich  andere  über  sie  und  für  sie  sprechen. Auch  daher  sei diese  Veranstaltung  so  wichtig. Weltweit  seien  rund  61  Prozent  der  Menschen  in  der  informellen Wirtschaft tätig und hätten kein geregeltes Arbeitsverhältnis. Somit hätte die Mehrheit der arbeiten-den Menschen keine Rechte. Die  informelle  Ökonomie  wachse  stetig.  Dies  sei  eine  große  Überraschung  gewesen, nachdem die Informalität erstmals  in  den  70er  Jahren  durch  Studien  der  Internationale  Arbeitsorganisation  der Vereinten  Nationen (ILO) belegt  worden  sei.  Die Annahme  sei  vorher  vielmehr  gewesen,  dass es sich  um  ein  vorübergehendes Phänomenhandle, ihr Ausmaß im  Laufe  der  Entwicklungsprozesse stetig abnehmen würde. Ebenso wichtig sei zu betonen, dass es falsch sei, vom ‚informellen Sektor‘ zu sprechen. Informalität gebe es in vielen Sektoren – daher spreche man von der informellen Ökonomie. Zudem handle es sich nicht um ein Randthema, weltweit sei die Mehrheit der Beschäftigten davon  betroffen.  Deshalb sei das Motto von WIEGO auch ‚informal is normal‘ (informell ist normal).Die Arbeitsverhältnisse in der informellen Ökonomie seien vielfältig –es  gebe sowohl Angestellte als  auch  Selbstständige. Charakteristisch  sei,  dass die  hier  tätigen  Menschen keineformellen Arbeitsverträge  hätten.  Dies  mache  es  besonders für Gewerkschaften schwierig,  die  in  ihren  traditionellen Herangehensweisen auf formelle rechtliche Rahmen angewiesen sind; etwa bei der Aushand-lung  von  Kollektivverträgen.  Dass  dies ein  Problem  darstelle,  sei  verständlich. Aber  es  müsse  da-rum gehen, dass sich die Gewerkschaften an die Realität anpassen, statt das Gegenteil zu erwarten.WIEGO  übernehme  nicht  die  Organisierung  derinformellen Arbeiter*innen, das  würden  diese  am besten selber können. WIEGO unterstütze sie vielmehr dabei, indem sie entsprechende Daten erhe-be und Möglichkeiten zurVerbesserung von Arbeitsrecht und sozialer Absicherung erarbeite. Dabei würden Forschende und Beforschte in der selben Organisation vereint, was nicht nur einen direkten Austausch  möglich  mache,  sondern  den  informellen  Arbeiter*innen  auch  einen  unmittelbaren Einfluss auf die Ausrichtung und Arbeitsweisevon WIEGO gewähre.

Selbstorganisation der Straßenhändler*innen

Hier setzte auch Lorraine Sibanda an. Sie ist Präsidentin der Vereinigunginformeller    Arbeiter*innen in Simbabwe (ZCIEA) und auch von Streetnet International, einem globalen Netzwerk  von  Straßenhändler*innen.  Auch  ZCIEA  übernehme  nicht die  Organisierung,  z.B.von  Straßenhändler*innen, sondern  unterstütze  sie  vielmehr  bei  ihrer  eigenen,  kreativen Arbeit  und ihren Kämpfen  für  bessere  Arbeitsbedingungen.  So  würden  etwa  Informations-und Ausbildungsangebote über Rechte und Arbeitsschutzmaßnahmen sowie zu deren politischen Durchsetzung angeboten. Eine Hauptaktivität der Vereinigung sei derzeit eine Ausdehnung ihrer Tätigkeiten auf alle Regionen Simbabwes. Dies nicht zuletzt deshalb, weil über 94% der Arbeiter*innen in Simbabwe informell tätig seien – 60% von ihnen seien Frauen. ZCIEA habe  eine demokratische  Organisationstruktur.  Es gebe auf  verschiedenen  Ebenen  Wahlen und Komitees. Außerdem gebe es spezielle Unterorganisationen für Frauen und die Jugend, ebenso sei  die  Barrierefreiheit  ein  wichtiges Anliegen.  All  dies  zeige,  dass  informelle Arbeiter*innen  bei Weitem nicht nur einfache Opfer wären, sondern sehr wohl in der Lage, sich aktiv und produktiv für ihre Interessen einzusetzen.

Ähnlich sehe auch das Bild in Kenia aus, führte Teresa Wabukofort. Sie ist stellvertretende Direk-torin  von  KUDHEIRA,  der Kenianische  Gewerkschaft  für Angestellte  in  Haushalten,  Hotels,  Bil-dungsinstitutionen  und  Krankenhäuser.  Die  Breite  der  im  Na-men KUDHEIRA genannten Sektoren zeige wie sich informel-le und  formelle Ökonomie überschneiden  würden.  Hier  wären nicht etwa nur Straßenhändler*innen beschäftigt, sondern auch Krankenhausangestellte  und  Apotheker*innen.  In  Kenia  seien 80%  der  Arbeiter*innen  informell  tätig,  sehr  viele  von  ihnen Frauen. Der Anteil nehme sogar noch weiter zu.Oft  sei  dabei  die  informelle  Ökonomie  der  einzige Ausweg –für  diejenigen,  die  in  der  formellen Ökonomie  keine Arbeitsstelle  finden  können. Obwohl  es  in  Kenia  zu  einerstetigen  Verbesserung des  Zugangs  zu  Bildung  und  der  entsprechend  hohen  Zahl  gut  ausgebildeter  Personenkomme, wachse die Zahl jener, die keine geregelte Arbeit finden und damit die informelle Ökonomie weiter.Es  sei  daher  dringend  notwendig,  herkömmliche  Gewerkschaftsarbeit  zu  überdenken  und  auch  informell Beschäftigte zu inkludieren. Nur so sei es möglich für bessere Arbeitsbedingungen für alle Menschen zu sorgen.

Vor allem Frauen betroffen

In  der  nun  folgenden Podiumsdiskussion hob  Lorraine Sibanda hervor, dass Frauen überproportional in  der infor-mellen  Ökonomie  tätig  seien.  Dies  liege  auch  daran, dass Männern die  entsprechenden  Tätigkeiten  oft als unehrenhaft  erscheinen  würden,  während  Frauen  zur  Versorgung der Familie eher bereit seien, diese dennoch aufzunehmen. Aber,  fügte  Karin  Pape  ein,  die  Frauen  würden  sich  dabei oft nicht als Arbeiter*innen wahrnehmen. Ihre Tätigkeiten, so würden sie berichten, „seien einfach etwas was Frauen nun mal tun“. Dabei sei das gesamte Wirtschaftssystem dieser Länder überhaupt nicht vorstellbar ohne die informelle Arbeit von Frauen.

Gleichzeitig, ergänzte Teresa Wabuko, hätten Frauen eine besondere Last zu tragen: Sie seien nicht nur für Einkommensgenerierung, sondern auch für die Betreuung und Erziehung der Kinder zuständig. Mangelernährung z.B. resultiere dann oft aus der  einfachen Tatsache, dass die Mütter, wenn sie den  ganzen Tag auf dem Markt oder der Straße als Händlerinnen tätig sind, ihre Kleinkinder nicht stillen können. Zu all diesen Schwierigkeiten würden noch weitere Unsicherheiten hinzukommen, etwa die perma-nente  Bedrohung, von den oft (irregulär) genutzten Marktflächen vertrieben zu werden. Daher un-terstütze  etwa  der  ZCIEA  die Arbeiter*innen  dabei,  ihre Tätigkeiten  und  Organisationen  zu  legalisieren, um so wenigstens einen gewissen Rechtsschutz zu genießen. In Kenia sei die Situation etwas anders,ergänzteTeresa Wabuko. Die Regierung habe eine offenere Herangehensweise zur informellen Ökonomie. Hier gebe es  etwa offizielle  Zuweisungen von Marktflächen und  auch Möglichkei-ten, in die Sozialversicherung einzuzahlen, die an die Bedürfnisse informeller Ökonomie angepasst seien.Aktuell gebe es immer wieder Versuche großer, transnationaler Konzerne mit dem informellen Sektor  zusammenzuarbeiten. Während  sowohl  Sibanda  als  auch  Pape  dem  nicht  grundsätzlich  negativ gegenüberstünden, sähen beide diese Aktivitäten durchaus skeptisch – denn es müsse zunächst ein-mal  gefragt  werden,  was  hier  das  Interesse  dieser Akteur*innen  sei  und  ob  sie  die Arbeiter*innen des informellen Sektors nicht eher ausbeuten würden.

Auf die Frage, was hingegen Menschen im globalen Norden zur Unterstützung der informellen Ar-beiter*innen  im  globalen  Süden  tun  könnten,  hob Teresa Wabuko  zunächst  die ILO-Konventionen  hervor. Diese gelte es auszubauen und auf die Bedürfnisse des informellen Sektors anzupassen. Hier könnten Menschen  aus  dem  globalen  Norden  politisch  tätig  werden. Auch  könnten sie  die Arbeit der  genannten  zivilgesellschaftlichen  Organisationen  finan-ziell  unterstützen.  Karin  Pape  ergänzte,  dass  auch  die  ge-werkschaftliche  Arbeit  darauf  ausgerichtet  werden  müsse, die informell Tätigen aktiv zu integrieren. Gleichzeitigwür-den  Arbeiter*innenparteien  politisch  gestärkt  werden  müs-sen,  damit  ihre  Selbstorganisation  gestärkt  würdeund  sie ihre Interessen vertreten könnten. Dies sei auch das Ziel von WIEGO.

Norden profitiert von informeller Wirtschaft im Globalen Süden

In  der Fragerundewurde  zunächst  diskutiert,  inwiefern  Menschen  im  globalen  Norden  von  der informellen  Ökonomie  im  globalen  Süden  profitieren  würden.  Wabuko  führte  aus,  dass  beispielsweise  viele  der  Agrarprodukte  die  etwa  nach  Europa  importiert  würden  durch  informelle  Arbei-ter*innen produziert würden. Während in Europa dafür zum Teil hohe Preise gezahlt würden, würden die Arbeiter*innen etwa in Kenia unter sehr schlechten Bedingungen zu sehr geringen Löhnen arbeiten. Es gäbe  gute Beispiele, in denen die  Zusammenarbeit nördlicher und südlicher Organisationen  gut funktioniert habe, erklärte Sibanda. Sie nannte etwa ein EU-gefördertes Projekt zur  Integration informeller Arbeiter*innen in lokale politische Prozesse. Aber  es sei dabei  wichtig, betonte Sibanda, dass Organisationen im globalen Süden Acht geben, ihre Interessen selbst durchzusetzen und nicht einfach  die Agenden  der  Organisationen  und  Staaten  des  globalen  Nordens  zu  übernehmen. 

Pape ging  hier  noch  etwas  weiter:  Oft  würden  nördliche  Organisationen  gar  nicht  erst  verstehen,  wie Probleme im  Süden  zu  lösen seien.  Hier  sei  es  unbedingt  notwendig,  dass  ein  gleichberechtigterer Austausch stattfände, bevor Projekte begonnen würden.Eine weitere Frage betraf private Versicherungen als mögliche  Alternative  zum  fehlenden  öffentlichen  Schutz.  Die Privaten  seien  unerschwinglich  teuer  und  würden  außer-dem  viele  Kosten  gar  nicht  erst  abdecken,  warf  Teresa Wabuko  ein.  Zudem seien sie  in  Kenia  oft  als  Zusatz  zu öffentlichen  Versicherungen  eingerichtet,  nicht  als  Ersatz für diese.  In  ähnlicher Weise adressierte  Lorraine Sibanda die  Frage, ob informelle Arbeiter*innen generell keine Steuern zahlen würden. Dies sei keineswegs der Fall, etwa die Mehrwertsteuer oder lokale Abgaben würden sehr wohl auch von informell Tätigen gezahlt. Darüber hinaus würden sich viele Organisationen informeller Arbeiter*innen für eine Anpassung und Vereinfachung des Steuer-systems dahingehend  einsetzen,  dass  auch  die  informelle  Ökonomie  besteuert  werden  könne. Wichtig  sei aber, dass die Arbeiter*innen in der informellen Ökonomie auch Zugang zu den mit Steuern finanzierten Leistungen hätten.

Für  die  gut  100  Besucher*innen  bot  die  Veranstaltung  konkrete  Einblicke  in  die  Lebensrealitäten von informellen Arbeiter*innen in Afrika und Europa. Die drei Referentinnen zeigten aber auch auf, dass die dort beschäftigten Frauen nicht nur Opfer sind, sondern für ihre Rechte kämpfen. Sie fordern  die  nationalen  Regierungen  auf,  Gesetzgebungen  zugunsten  der  informellen  Arbeitnehmer*innen  anzupassen.  International  sollten  die Wahrnehmung  und  Respektierung ihrer Interessen und  die  Unterstützung  ihrer  Selbstorganisation  zentrale  Elemente  eines  solidarischen  Handelns werden, so die Botschaftender Referentinnen.