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Korruption, Staatsbankrott und sozialer Protest – Zur Situation im Libanon

Von Helmut Krieger

VIDC Onlinemagazin Spotlight

Dieser Artikel wurde im VIDC-Onlinemagazin Spotlight 53/September 2020 veröffentlicht. Wenn Sie das vierteljährlich erscheinende Online-Magazin, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

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Helmut Krieger ist Senior Lecturer am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien sowie Konsulent des VIDC. Aktuell leitet er das Forschungsprojekt KnowWar, eine Kooperation zwischen der Universität Wien, dem Syrian Center for Policy Research, Mousawat, dem Center for Development Studies an der Birzeit University sowie dem Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung an der Universität Klagenfurt.

Feuer im Hafen von Beirut als Folge der Explosion, © Sintia Issa

Feuer im Hafen von Beirut als Folge der Explosion, © Sintia Issa

Mit der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 stand der Libanon mit einem Schlag wieder im Zentrum internationaler Aufmerksamkeit. Ausgelöst durch die unsachgemäße Lagerung von mehr als 2700 Tonnen des explosiven Stoffs Ammoniumnitrat, wurden durch die Wucht der Explosion annähernd 200 Menschen getötet, über 6.000 verletzt und an die 300.000 Menschen mit einem Schlag obdachlos. Ganze Stadtteile glichen einem einzigen Trümmerhaufen. Während in den Tagen danach mehr und mehr Einzelheiten über die tödliche Inkompetenz staatlicher Stellen im Umgang mit dem gefährlichen Stoff publik wurden, begann die Bevölkerung in der Stadt in Eigeninitiative medizinische Anlaufstationen aufzubauen, Grundversorgung mit Wasser und Wohnraum bereitzustellen sowie Schutt wegzuräumen. Die eigene Fassungslosigkeit und traumatische Erfahrung der Zerstörung zugleich politisch zu formieren und gegen eine korrupte, unfähige Elite zu richten, war sodann Ausgangspunkt von erneuten Massendemonstrationen. Sie führten dazu, dass die Regierung unter Hassan Diab zurücktrat, sodass der instabile Kompromiss zwischen den Machtblöcken im Land weiter erodieren wird.

Korruption im Kapitalismus

Unterdessen wurde auf internationaler Ebene geradezu begierig das Bild einer korrupten politischen Elite skizziert, die unfähig sei, einen staatlichen Verwaltungsapparat effizient aufzubauen. Vermeintlich gefangen in ihren jeweiligen konfessionalisierten Identitätspolitiken, sei es eben diese Elite, die den Niedergang des Landes zu verantworten habe – die Explosion im Hafen in Beirut sei also das Fanal, jene korrupten Netzwerke zur Verantwortung zu ziehen und durch Reformen einen effizienten Staat aufzubauen. Korruption ist in dieser Lesart demnach ein moralisches Fehlverhalten von ehemaligen Warlords, die die Macht nach dem Bürger*innenkrieg in den 1990er Jahren usurpiert und das Land zugrunde gerichtet hätten. Sie seien es also, die einen ‚gescheiterten Staat‘ zu verantworten haben. 
Misswirtschaft und Korruption wird demnach nicht mehr als systemisches Problem einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung verstanden, mit dem Effekt, dass der Ruf nach einem so genannten effizienten Staat mit der Vertiefung neoliberaler Verhältnisse gekoppelt werden kann. Und genau das geschieht in den mittlerweile seit Monaten andauernden Umschuldungsverhandlungen zwischen der libanesischen Regierung und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgrund der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Bestehen des Landes. Erst wenn sich der Libanon dem Diktat des IWF beugt, werden weitere Kredite von europäischen und arabischen Staaten folgen. Dass dessen Kreditauflagen allerdings zu weiteren sozialen Verwerfungen im Land führen werden, hat die Protestbewegung mit ihren Parolen und vielfältigen Aktionsformen bereits seit Oktober 2019 klar gemacht. 
Die Korruption lokaler Machtcliquen ist also nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, wie sehr regionale und globale Mächte durch ökonomische, politische und letztendlich militärische Maßnahmen in das Land selbst hineinregieren und eben diese einzelnen Machtblöcke stützen. 

Das Ende konfessionalisierter Machtkompromisse

Selbstverständlich bereichern sich Machtfraktionen im Libanon auf Kosten der Bevölkerung und schufen ein System klientelistischer Abhängigkeiten für Communities, die als konfessionelle Entitäten angerufen werden. Ursprünglich institutionalisiert von der französischen Kolonialmacht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde seit der Unabhängigkeit des Libanon das politische System so konfiguriert, dass sich die damaligen Machtblöcke als konfessionelle Repräsentationsorgane inszenieren konnten. Als christlich und sunnitisch markierte Parteien teilten sie sich unter Ausschluss marginalisierter sozialer Klassen die Macht auf und versuchten, eine soziale Basis durch konfessionelle Anrufungen in klientelistischen Netzwerken an sich zu binden. Mit dem Zufluss von Kapital aus arabischen Ländern wurde seit den 1960er Jahren überdies ein Bankensektor aufgebaut, der zur entscheidenden ökonomischen Schnittstelle im Land wurde. Weiter gefestigt wurde dessen zentrale politische und ökonomische Position im Land durch massive Investitionen von Kapital aus den Golfstaaten seit den 1970er Jahren. Dieses wurde neben Finanzunternehmen vorwiegend in den Immobilienbereich gelenkt und diente gerade nicht dem Aufbau eines produktiven Industriesektors. Das ist im Übrigen der ökonomische Hintergrund des eurozentrischen Schlagwortes vom Libanon als der ‚Schweiz des Nahen Ostens‘. Diese Entwicklungen schufen massive soziale Verwerfungen, die im Bürger*innenkrieg von 1975 bis 1990 gipfelten und in den die geopolitische Herrschaftsarchitektur des gesamten Raums tief eingebrannt war. Mit dem Abkommen von Taif im Jahr 1989 wurde der Bürger*innenkrieg formell beendet und ein konfessionalisiertes politisches System als Form des Machtkompromisses wiedererrichtet – ein von westlichen Ländern ebenso wie Saudi-Arabien gestützter Machtblock, der untrennbar mit dem Namen Hariri und dessen Netzwerk aus Banken, Immobilien- und Bauunternehmen verbunden ist. Es ist dieses Netzwerk, das für die beschleunigte neoliberale Umstrukturierung des Landes seit den 1990er Jahren wesentlich verantwortlich ist. Dem steht andererseits ein Machtblock aus ‚schiitischen‘ Parteien gegenüber, der sich erst im Kampf gegen die israelische Besatzung des Südlibanon entscheidend formierte und der vom Iran unterstützt wird. Mit der Hizbullah als politischer und militärischer Kraft, die in den Krieg in Syrien auf Seiten des Assad-Regime militärisch interveniert, wirkt dieser Machtblock unter Einschluss einzelner als christlich codierter Parteien entscheidend auf die politischen Verhältnisse im Land ein. 
Mit der vom Bankensektor sowie der libanesischen Zentralbank verursachten aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise bricht allerdings nun die ökonomische Basis dieses Modells weg. Massenhafte Armut, eine katastrophale öffentliche Infrastruktur, Korruption und politische Machtkämpfe sind dann die Symptome eines regionalen Zyklus von Krise, Revolte und Krieg. In diese beschleunigte Krisenentwicklung begann ab Oktober 2019 eine soziale Bewegung zu intervenieren, die sich in ihren Protestformen auf den Regierungsapparat und den Bankensektor ausrichtet, zugleich jedoch vor der enormen Herausforderung steht, gesellschaftliche Alternativen zum Status quo aufzubauen. Es ist jene Herausforderung, vor der letztendlich alle progressiven sozialen Bewegungen weltweit stehen (29. August 2020).