SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

Unerhört(?)! Afghanische Frauen und ihre Kämpfe

Bericht von der Veranstaltung am 7. März 2019

Vortragende


Orzala Nemat

lebt in Kabul und ist eine afghanische Wissenschaftlerin, Journalistin und zivilgesellschaftliche Aktivistin. Sie wurde in Afghanistan geboren und hielt sich dann 14 Jahre lang als Flüchtling in Pakistan auf. Während der Taliban-Zeit in Afghanistan initiierte sie im Untergrund Alphabetisierungskurse und Programme zur Gesundheitserziehung für Frauen und Mädchen.

Sana Safi

lebt in London und ist Hauptmoderatorin der täglichen Nachrichtensendung BBC World Right Now auf BBC News Pashto TV (Teil des BBC World Service). Fast 1,5 Mio. Menschen sind mit ihr über soziale Netzwerke (Facebook, Twitter und Instagram) verbunden. Safi arbeitet bereits seit 2006 für die BBC und war zunächst Reporterin in Dschalalabad in der ostafghanischen Nangarhar Provinz.

Ali Ahmad

arbeitet als Konsulent für das VIDC und ist Arzt und Forscher mit einem Masterabschluss in Friedens- und Konfliktforschung.

Michael Fanizadeh

ist Politologe und leitet den Arbeitsbereich Migration und Entwicklung am VIDC.

Autoren

Ali Ahmad und Michael Fanizadeh

Kooperationen

Das VIDC lud zu einer Podiumsdiskussion in die Diplomatische Akademie Wien, um über die jüngsten Entwicklungen der Friedensgespräche der USA mit den Taliban und die daraus resultierenden Befürchtungen afghanischer Frauen zu informieren. Die Wissenschaftlerin Orzala Nemat und die Journalistin Sana Safi erläuterten dabei nicht nur die aktuelle Situation afghanischer Frauen und ihre Befürchtungen in Bezug auf die Friedensgespräche, sondern berichteten auch über Erfolge afghanischer Frauen in den letzten Jahren und vor welchen Herausforderungen Frauen heute in ihrem Land stehen. Moderiert wurde die Veranstaltung vor über 200 Besucher*innen vom afghanischen Migrationsforscher Ali Ahmad, der auch als Afghanistan-Konsulent für das VIDC tätig ist.  VIDC-Projektkoordinator Michael Fanizadeh betonte in seiner Eröffnungsrede, dass Afghanistan 2019 vor großen Entscheidungen steht: „Die jüngsten Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der US-Delegation geben einerseits Anlass zur Hoffnung, denn nach fast zwei Jahrzehnten ausländischer Einflussnahme könnte eine politische Lösung für die Zukunft Afghanistans gefunden werden. Andererseits besteht jedoch die Gefahr, dass die fragilen Gewinne afghanischer Frauen, die sie mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft erkämpft haben, wieder auf dem Spiel stehen. Momentan sind sie an den Verhandlungen mit den Taliban nicht beteiligt.“

Nicht zurück in die Taliban-Ära

Die Taliban regierten Afghanistan von 1996 bis 2001 mit einer fundamentalistischen und strengen Auslegung der Scharia, wodurch insbesondere die Rechte der Frauen beschnitten wurden. Frauen durften nicht mehr arbeiten gehen, hatten keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung und waren vom Schulbesuch sowie aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Diese Situation hat sich erst verbessert, als die von den USA geführten Koalitionstruppen die Taliban im November 2001 von der Macht vertrieben, weil sich das Taliban Regime geweigert hatte Osama bin Laden als Drahtzieher der Anschläge des 11. Septembers an die USA auszuliefern. Mit dem Fall der Taliban begann in Afghanistan ab 2002 eine Phase des Wiederaufbaus, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft weckte und auch massiv finanziell vom Ausland unterstützt wurde. Frauen hatten wieder Zugang zu Grundrechten und grundlegenden Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung. Die Gleichheit von Mann und Frau und die Meinungsfreiheit wurden in der neuen Verfassung festgeschrieben. 2009 trat zudem ein Gesetz in Kraft, das verschiedene Formen von Gewalt an Frauen unter Strafe stellt. Erstmals gilt seitdem Vergewaltigung in Afghanistan als Straftatbestand, ebenso wird Gewalt in der Familie ausdrücklich als Straftat anerkannt. Die Taliban wurden jedoch nie gänzlich besiegt und schon bald nach der US-geführten Invasion schlossen sie sich wieder zu aufständischen Gruppen zusammen. Heute kontrollieren sie teilweise oder vollständig mehr als die Hälfte Afghanistans. Unter anderem als Folge davon haben sich seit Oktober 2018 Vertreter der USA und der Taliban in Katars Hauptstadt Doha zusammengefunden und sechs Runden direkter Friedensverhandlungen abgehalten. Um den 18-jährigen Krieg in Afghanistan zu beenden, verfolgen diese Friedensgesprächen zwei Hauptziele: der vollständige Abzug ausländischer Truppen aus Afghanistan und die Zusicherung von den Taliban, dass Afghanistan nicht wieder von internationalen, islamistischen Terrororganisationen als Rückzugsort genutzt wird. Afghanische Frauenorganisationen haben ihre Positionen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht: sie wollen nicht in die Taliban-Ära zurückkehren.  Sie fürchten um ihre grundlegenden Rechte auf Arbeit und Bildung. Die Taliban haben es jedoch nicht nur abgelehnt direkt mit der afghanischen Regierung zu verhandeln, da sie diese als illegitim und der „Marionette“ der USA betrachten, sondern bisher (Stand März 2019) durften auch afghanischen Frauen, die Zivilgesellschaft und politische Parteien nicht an diesen Gesprächsrunden teilnehmen.

„Wenn in Abwesenheit von Afghaninnen und Afghanen ein Kompromiss zwischen den Taliban und den USA eingegangen wird, ist dies besorgniserregend.“ (Orzala Nemat)

Orzala Nemat, Direktorin der Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU), kritisierte in ihrem Vortrag die Herangehensweise der USA und der Taliban:
„Es ist nicht akzeptabel, die politische Lösung Afghanistans in Abwesenheit der Regierung, der Zivilgesellschaft und der Frauen in Afghanistan zu diskutieren. Ich kann den USA und der ganzen Welt versichern, dass dies nicht zu einem nachhaltigen Frieden führen wird. (…) Wir wollen eine Vertretung der afghanischen Regierung und der politischen Opposition bei den Verhandlungen. Das ist das Hauptanliegen der Mehrheit der Afghanen und Afghaninnen.“

Frau Nemat erläuterte zudem, dass es sich im Prinzip um Gespräche zwischen zwei großen Akteuren des Konflikts, die USA und die Taliban, handle, aber nicht zwischen den verschiedenen Akteur*innen in Afghanistan selbst. Insbesondere, dass afghanische Frauen ignoriert werden, sei ein Rückschritt. Dabei hätten Frauen, so Nemat, ab 2002 eine bessere politische Vertretung in der Regierung, eine stärkere Position bei Entscheidungsprozessen, eine höhere Bildung, einen besseren Lebensunterhalt sowie bessere Lebensumstände im ganzen Land erkämpft. Daher würden afghanische Frauen den sofortigen Abzug ausländischer Soldaten nicht unterstützen, was die Taliban als wichtigste Voraussetzung für den Erfolg von Friedensgesprächen ansehen. Orzala Nemat schlug daher einen verantwortungsvollen und schrittweisen Abzug der internationalen Militärtruppen vor, um Afghanistan vor den schädlichen Einflüssen der regionalen Mächte wie Pakistan und Iran zu schützen. Denn: die derzeitige politische Ordnung Afghanistans sei trotz ihrer Mängel schützenswert. Frau Nemat betonte zudem, dass Investitionen zur Verbesserung der Lebenssituation afghanischer Frauen und zur Förderung der Ausbildung von Jugendlichen, die Unterstützung der regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Vernetzung sowie die Wahrung der verfassungsmäßigen Menschenrechte zentrale Elemente für ein friedliches Afghanistan seien. Sie hob auch die weit verbreitete Korruption, schlechte Regierungsführung und mangelnde Effizienz in der afghanischen Regierung hervor, welche die Situation der Frauen zusätzlich schädigen würden. Die Frauen seien häufig das Hauptziel für politische Auseinandersetzungen in Afghanistan: „Das war früher so und ist jetzt immer noch so“, erklärte Frau Nemat.

Erfolgsgeschichte Afghanischer Frauen

BBC-Journalistin Sana Safi  berichtete in ihrem Vortrag über die Emanzipationsgeschichte afghanischer Frauen aus einer historischen und zugleich sehr persönlichen Perspektive. Anhand ihrer eigenen Familiengeschichte erklärte sie Afghanistans schon vierzig Jahre andauernde Kriegsgeschichte . Denn Safis Familie musste, wie viele andere Familien auch, trotz des bewaffneten Konflikts in Afghanistan weiterhin in dem Land leben und überleben. Bereits ab 1979 erlebte Sana Safi wie ihr Onkel und ihre beste Freundin Opfer des Konfliktes wurden. „Dann passierten die Anschläge vom 11. September. Als Reaktion darauf griff die von den USA geführte internationale Gemeinschaft Afghanistan an, um das Taliban-Regime zu stürzen. Es läutete eine neue Ära für Afghanistan ein. Die Menschen hofften auf Frieden, aber er kam nie.“ (Sana Safi) 2017 wurde dann ein Cousin von Safi getötet und Anfang 2019 starb ihr Schwager bei einem Autobombenanschlag in Kabul. Die Betroffenheit des Publikums, v.a. der afghanischen Besucher*innen, machte deutlich, dass ihre Familiengeschichte exemplarisch für viele Geschichten afghanischer Familien steht. Für Sana Safi ist der andauernde gewaltsame Konflikt daher auch die Hauptursache für das Elend in Afghanistan und die schlechte Situation der Frauen: „Die Grundursache dafür, wo Afghanistan und seine Frauen heute stehen, ist offensichtlich der Krieg - denn Krieg bringt Armut, schwächt Recht und Ordnung, zerstört Institutionen und bringt Menschen dazu, das Undenkbare zu tun, um zu überleben.“(Sana Safi)

Frau Safi forderte die internationale Gemeinschaft auf nicht nur afghanische Frauen, sondern Afghanistan als Ganzes zu unterstützen: „Vorhin habe ich meine verwitwete Cousine, verwitwete Schwester und beste Freundin erwähnt, die nach der Scheidung in einem sehr konservativen Land missbraucht wurde. Damit diese Frauen ein menschenwürdiges, würdevolles und freies Leben führen können, brauchen sie einen verantwortungsbewussten Staat und Institutionen, die sie schützen, für sie sorgen und die das Interesse der Menschen in den Mittelpunkt stellen. Sie brauchen eine Regierung, die auf ihre Bedürfnisse eingehen kann. Hier können Sie helfen: durch Unterstützung und Lobbyarbeit für ein integratives, demokratisches und friedliches Afghanistan.“ In ihrem Schlusswort fordert Orzala Nemat Investitionen in die neue Generation Afghanistans, insbesondere in junge Frauen „Jugendliche, die mehr als 65 % der Bevölkerung ausmachen (von denen die Hälfte auch Frauen sind), sind ein entscheidender Katalysator für die Zukunft eines stabilen und wohlhabenden Afghanistans. Inklusivität ist der Schlüssel zur Stabilität, das Land muss sich aus der Geiselhaft ethnischer und politischer Identitäten und ihrer Vertreter befreien.“ „Wenn sich die afghanischen Eliten wirklich um die vielen (zivilen) Opfer kümmern möchten, ist es an der Zeit, dass sie sich unter einer Flagge und einer Verfassung vereinen und in die neue Generation ihres Landes investieren!“ (Orzala Nemat)

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