SPOTLIGHT September 24: Fokus Naher & Mittlerer Osten

Das Online-Magazin Spotlight erscheint vierteljährlich. In der aktuellen September-Ausgabe schauen wir einerseits in die Brennpunktregion Naher & Mittlerer Osten und richten den Blick andererseits auf Österreich.

 

Neue Männer braucht das Land! Femizide an den Wurzeln bekämpfen!

Interview mit Erich Lehner geführt von Nadja Schuster (VIDC Global Dialogue)

VIDC Online Magazin Spotlight

Dieser Artikel wurde im VIDC Online Magazin Spotlight Juli 2021 veröffentlicht. Wenn Sie das vierteljährlich erscheinende Online-Magazin, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

VIDC Aktivitäten


VIDC Global Dialogue hat 2016 - 2018 Gender Tandem Workshops für afghanische Männer durchgeführt, und ein Handbuch dazu publiziert: Vermittlung interkultureller Genderkompetenz im Fluchtkontext. Erfahrungen aus der Arbeit mit geflüchteten Burschen und Männern aus Afghanistan in Österreich. Shokat Walizadeh, Paul Scheibelhofer, Philipp Leeb, VIDC (Hg.), 2019.

Warum Feminismus gut für Männer ist, Buchpräsentation, 13. Jänner 2020

Männer als Verbündete im Kampf gegen Gewalt in Ex-Jugoslawien, 31. Jänner 2013

Militarisierte Männlichkeit, Studienpräsentation, 31. Jänner 2012

Weiterführende Links und Literatur


Dachverband für Männer-, Burschen- und Väterarbeit in Österreich (DMÖ)

StoP Wien-Margareten

Bergmann, Nadja; Scambor, Christian, Scambor, Elli (2014) Bewegung im Geschlechterverhältnis? Zur Rolle der Männer in Österreich im europäischen Vergleich, Wien.

Øystein Gullvag Holter (2014) „What’s in it for Men?“ Old Question, New Data, in: Men and Masculinities 17, 5, 515–548

Lehner Erich (2021) Männer als Täter? Über den Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt. In: Prüller-Jagenteufel Gunter/Treitler Wolfgang (Hg.): Verbrechen und Verantwortung. Sexueller Missbrauch von Minderjährigen in kirchlichen Einrichtungen, Freiburg im Breisgau, 92-104.

"Unter Generalverdacht - Afghanische Männer und die Tücken der Statistik", Michael Fanizadeh, Lena Gruber, Rick Reuther (VIDC Global Dialogue), Spotlight, Juli 2019.

Autor


Erich Lehner ist Obmann des Dachverbandes für Männer-, Burschen- und Väterarbeit in Österreich (DMÖ). Er lehrt und forscht in Männlichkeits- und Geschlechterforschung sowie in Palliative Care. Lehner ist außerdem Psychoanalytiker in freier Praxis.

© karimblanc.com

© karimblanc.com


Angesichts der Tatsache, dass Österreich EU-weit die höchste Anzahl an Femiziden aufweist, drängt sich die Frage auf, ob Femizid ein spezifisch österreichisches Problem ist?

Nein, Femizide sind trotz der Zahlen kein spezifisch österreichisches Problem. Sie werden leider in allen Staaten dieser Welt begangen. Femizide stehen im Zusammenhang mit einem bestimmten traditionellen Männerbild, das allerdings in Österreich besonders stark verwurzelt ist. Dieses Männerbild ist geprägt von Stärke, Dominanz, Konkurrenz und Hierarchie. Es ist gesellschaftlich entstanden – in der Wissenschaft sagt man sozial konstruiert – und bildet ein Orientierungsmuster für alle Buben, Burschen und Männer in den Gesellschaften. Es bildet auch ein Orientierungsmuster für alle, die Männer bewerten oder Erwartungen an sie stellen. Das heißt nun nicht, dass jedes männliche Wesen in dieser Gesellschaft diesem Bild 100%ig entspricht. Im Gegenteil, es gibt vielfältige Formen und Bilder und individuelle Wege Mannsein zu leben. Aber, dieses formulierte traditionelle Männerbild ist das dominante. Und wohl jeder Mann muss sich mit ihm und mit den in ihm enthaltenen Erwartungen und Handlungsmustern auseinandersetzen. Die entscheidende Botschaft dieses Bildes ist der Imperativ: Mann setz dich durch. Erfreulicherweise findet der Großteil der Männer Formen differenziert und pro-sozial mit ihrem individuellen Mannsein umzugehen.
Und dennoch müssen wir sehen, dass sich aufgrund dieses Bildes einzelne Gruppen von Männern in ihrem männlichen Durchsetzungsvermögen auch zu zweifelhaften Handlungen legitimiert sehen. So haben z.B. in der letzten Weltwirtschaftskrise 2008 in die Krise geratene Männer versucht, sich mittels krimineller ökonomischer Machenschaften durchzusetzen. Oder ein männlicher Gewalttäter fühlt sich aufgrund seiner männlichen Durchsetzungssozialisation dazu berechtigt, seine – z.B. durch die Trennung einer Frau – gekränkte männliche Ehre auch mittels Gewalt gegen sie wiederherzustellen.

Welche Maßnahmen und Ressourcen braucht es im Bereich der Männerberatung und Gendersensibilisierung für Männer und Burschen? Sollten bestimmte, auf den Einzelfall abgestimmte Maßnahmen wie beispielsweise Beratung, Gendersensibilisierungsworkshops, Psychotherapie verpflichtend sein für Männer, die aufgrund von Gewalttaten vorbestraft sind?

Die Männerberatung in Österreich muss auf eine solide strukturelle Basis gestellt werden. Sie muss flächendeckend in ganz Österreich ein niederschwelliges Angebot für alle Männer, die irgendwie in die Krise geraten sind, darstellen. Sie wirkt dadurch gewaltpräventiv, da sie gewaltaffinen Männern einen Raum bietet, ihr Handeln noch vor einer Tat zu modifizieren. Dort, wo es schon zu gewalttätigem Handeln gekommen ist, muss selbstverständlich Täterarbeit in Form eines längerfristigen Anti-Aggressionstrainings einsetzen. Diese Form der Täterarbeit findet in enger Verbindung mit Gewaltschutzorganisationen, die die weiblichen Opfer begleiten, bereits statt. Täterarbeit sollte natürlich bei jeder Gewalttat für den Täter verpflichtend sein.

Generell liegt die Gendersensibilität in Bezug auf Männlichkeit noch sehr im Argen. Wir müssen auf allen gesellschaftlichen Ebenen ein Bewusstsein für dieses an Dominanz, Konkurrenz, Hierarchie und Männerbündelei orientierte Männerbild schaffen. Es wird z.B. reproduziert, wenn eine Mutter unbedingt so lange als möglich bei den Kindern bleiben will und der Vater selbstverständlich zum traditionellen Familienernährer wird, oder wenn Männer unter sich, sich in sexistischer, abwertender Sprache überbieten, oder auch wenn Buben in der Schule raufen. All dies ist Einüben des traditionellen Männerbildes. Bewusstsein schafft man durch Sprechen. Die Politik muss öffentlich darüber sprechen und es bedarf in allen Institutionen, vor allem in Bildungseinrichtungen (vom Kindergarten bis zu den Universitäten) an Genderkompetenz. Alle Lehrenden und Pädagog*innen, aber auch all jene, die in einer Institution Führungsrollen innehaben, sollten über Genderkompetenz verfügen. Dieses traditionelle Männerbild muss thematisiert und reflektiert werden. Schlussendlich müssen neue Formen der Männlichkeit, die sich an Sorge und Interesse füreinander orientieren, entwickelt werden. 

Inwiefern können männliche Vorbilder dem oben beschriebenen Männlichkeitsbild entgegenwirken? Wer könnten diese männlichen Vorbilder sein? Wären breite, öffentlichkeitswirksame Kampagnen dafür sinnvoll? 

Auf der individuellen Ebene braucht es vor allem für Jugendliche vielfältige Beziehungen, in denen Männlichkeitsmuster erprobt, reflektiert und entwickelt werden können. Auf der gesellschaftlichen Ebene braucht es Gruppen von Männern, die alternative Männlichkeitskulturen vorleben. Diese Männer müssen strukturell gestützt werden. In Schweden, dem europäischen Pionier der Gleichstellungspolitik, hat man gesagt: „Menschen kann man schwer verändern, aber wir können Strukturen ändern und hoffen, dass sich dann auch einzelne Menschen danach ausrichten.“ In diesem Sinne hat Schweden eine Fülle von Maßnahmen umgesetzt. Die bekannteste ist die für Väter reservierten drei Monate von den zwölf Karenzmonaten. Vorbereitet wurden diese Maßnahmen durch immer wiederkehrende Kampagnen und Aktionen. Z.B. mussten innerhalb eines Jahres alle vom Staat geförderten Institutionen nachweisen, dass sie sich mit dem Thema Männlichkeit auseinandergesetzt hatten. Die Polizei, die Parteien, die Gewerkschaften, die Fußball- und Kulturvereine etc. mussten Männerseminare organisieren. Schweden hat gezeigt, dass konsequente Männerpolitik mittels politischer Bewusstseinsbildung, Kampagnen und strukturellen Maßnahmen, Männlichkeitsbilder transformieren kann! Ein erfolgreiches Projekt in Wien wäre „StoP Wien-Margareten“. In diesem Projekt treffen sich Männer in einer Region, um gemeinsam gegen Gewalt an Frauen aufzutreten. 

Inwiefern kann eine gleichberechtigte Involvierung von Männern in Versorgungs- und Pflegearbeit zum Abbau des traditionellen, destruktiven Männlichkeitsbildes beitragen? Welche arbeits- und sozialpolitischen Maßnahmen werden dafür benötigt?

Im Grunde ist die Involvierung von Männern in Versorgungs- und Pflegearbeit das Mittel der Wahl zur Transformierung von Männlichkeit. Amerikanische Studien (Eggerbeen, Knoester, 2001) konnten darlegen, dass verstärktes Engagement von Vätern für ihre Kinder zu Hause Männlichkeitsmuster verändern und sozialer machen kann. Øystein Gullvag Holter hat in einer Studie (2014) nach dem Nutzen von Geschlechtergleichstellung für Männer gefragt. Analysiert wurden Daten aus den einzelnen Staaten der USA und Europa (81 Staaten). Gemessen wurde die Orientierung der Männer zur Gleichstellung an ihrem Engagement in unbezahlter Care- oder Sorgearbeit in der Familie. Es zeigte sich, dass Gleichstellung in Verbindung mit Sorgearbeit die Lebensqualität von Männern erhöht, das Risiko der Depression halbiert und Gewalt reduziert. Holter konnte auch in einer anderen Untersuchung (2013) zeigen, dass Gleichstellung in der Familie, familiäre Gewalt mindert.
Der Dachverband für Männer-, Burschen- und Väterarbeit in Österreich (DMÖ) möchte deshalb „Caring Masculinities“ als Alternative zum herkömmlichen Männlichkeitsbild in die Diskussion einbringen. Dieses männliche Identitätskonzept orientiert sich an Gleichstellung und schließt die Dominanz über Frauen und andere Männer aus. Es betont Bezogenheit, wechselseitige Abhängigkeit und Affektivität. Konkret wollen wir arbeits- und sozialpolitische Maßnahmen erreichen, die Männer dazu bringen, verstärkt in Haushalt und Familie ihre Kinder zu betreuen und sich um die Alten, Kranken und Sterbenden zu kümmern. Es bedarf der Bereitschaft der Betriebe, Männer für diese Tätigkeiten freizustellen. Männer sollen dadurch motiviert werden in Familie, Beruf und Gesellschaft ihren geschlechtergerechten Anteil an sorgenden Tätigkeiten zu übernehmen. Die Hoffnung besteht, wenn viele Männer sorgend tätig werden, dass à la longue auch das dominante Männerbild transformiert wird (15. Juni 2021).

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