Bericht zur Podiumsdiskussion am 7. Oktober 2021
VIDC Global Dialogue und das Centre for the Enforcement of Human Rights International (CEHRI) organisierten eine Podiumsdiskussion zu den aktuellen Strafprozessen gegen syrische Kriegsverbrecher und gingen dabei der Frage nach, inwieweit solche Verfahren zu mehr Gerechtigkeit beitragen können. Am Podium diskutierten Joumana Seif (syrische Anwältin beim Euorpean Centre for Constitutional and Human Rights - ECCHR), Mazen Darwish (syrischer Rechtsanwalt, Syrian Center for Media and Freedom of Expression) sowie Wolfgang Petritsch ( Mitglied des Beirats von CEHRI). Live zugeschaltet waren Eric Witte (Open Society Justice Initiative) und Wafa Mustafa (syrische Aktivistin und Journalistin). Moderiert wurde die Veranstaltung, die auf Deutsch und Arabisch stattfand, von Muna Duzdar (Rechtsanwältin und ehem. Staatssekretärin).
Kein Rechtssystem wird in der Lage sein, all die Schrecken, die wir in Syrien erlebt haben und immer noch erleben, vollständig aufzuarbeiten
Mazen Darwish, selbst auch Überlebender der syrischen Haft und Staatsfolter, betonte: "Kein Rechtssystem wird in der Lage sein, all die Schrecken, die wir in Syrien erlebt haben und immer noch erleben, vollständig aufzuarbeiten". Für ihn ist es jedoch wichtig, dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, sofern dies möglich ist.
Die Prozesse und Ermittlungen nach dem Weltrechtsprinzip, die in verschiedenen europäischen Ländern im Gange sind, werden sicherlich einen Teil zu dieser Gerechtigkeit beitragen. Dabei geht es um die schwersten Verbrechen, unter anderem um Folter, sexuelle Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Einsatz von Chemiewaffen. Es wurde viel über das berühmte Koblenzer Verfahren gegen Mitarbeiter der Al-Khatib Abteilung des syrischen Geheimdienstes in Damaskus als ersten Prozess weltweit gegen Staatsfolter in Syrien berichtet. Wenige Wochen vor der Veranstaltung wurde auch in Frankfurt am Main in Deutschland Anklage gegen einen ehemaligen syrischen Arzt (Alaa M.) erhoben, der in Verdacht steht, an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt gewesen zu sein. In Österreich wird gegen den höchstrangigsten in Europa bekannten General des Assad-Regimes ermittelt: Khaled H., der als Leiter der syrischen Staatssicherheitsabteilung in Raqqa, nach Berichten von Überlebenden, das Foltern von Gefangenen angeordnet und daran beteiligt gewesen sein soll.
Österreich ermutigen, seine Kapazitäten für die Verfolgung von Kriegsverbrechern zu verbessern
Das Center for the Enforcement of Human Rights International (CEHRI) gemeinsam mit Open Society Justice Initiative (OSJI) vertreten in diesem Ermittlungsverfahren mehr als 20 Überlebende. Eric Witte kritisierte in seinem Statement den langsamen Verlauf der Ermittlungen in Österreich: „Die Anwesenheit von Khaled H. soll Österreich dazu ermutigen, sein rechtliches Rahmenwerk, seine Strukturen und seine Kapazitäten für eine künftige Verfolgung von Gräueltaten zu verbessern“.
Bereits 2018 wurde im Zuge der Zusammenarbeit mehrerer europäischer und syrischer Organisationen Strafanzeige gegen 24 hochrangige Funktionäre des syrischen Regimes wegen Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Wien eingebracht. Es soll an dieser Stelle festgehalten werden, dass ohne den Mut und die Kooperation vieler Überlebender und Angehöriger von Opfern solche Verfahren in europäischen Ländern nicht hätten stattfinden können. Diese Verfahren haben das klare Ziel, deutlich zu machen, dass Europa kein sicherer Hafen für internationale Verbrecher sein wird.
Österreich sollte mehr Engagement bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen zeigen
Wolfgang Petritsch richtete als Beirat von CEHRI starke Worte an die österreichische Justiz, demnach Österreich als Teil der internationalen Gemeinschaft seinen Verpflichtungen nachgehen solle. Es sei wichtig, diese Fälle in die Öffentlichkeit zu bringen, denn es brauche eine internationale Solidarität gegen die Straflosigkeit von schweren internationalen Verbrechen „Österreich hat in den 1990er Jahren die Verfolgung von Kriegsverbrechern aus Ex-Jugoslawien sehr stark unterstützt, und ich halte es für sehr wichtig, dass auch im Falle Syriens so gehandelt wird, damit bewiesen wird, dass Österreich sich mittels des Rechts für Syrien engagiert“.
Wafa Mustafa, die für die Freilassung ihres Vaters und hunderttausender anderer Gefangener in Syrien kämpft, sieht die strafrechtliche Rechenschaft als Grundlage für einen nachhaltigen Frieden in Syrien. Sie merkte allerdings an, dass bestimmte Verbrechen wie das Verschwindenlassen, ihrer Natur nach nicht durch die bloße strafrechtliche Aufarbeitung aufgeklärt werden können. Für sie und ihre Familie ist es nicht möglich, über ein Strafverfahren nachzudenken, ohne zu wissen, wo ihr Vater heute ist und ob er noch lebt. Es komme überwiegend auf die Wahrheitsfindung und die Aufklärung an. Wafa Mustafa wünschte sich, dass ihr Vater zugegen sei und selbst als Verfahrensbeteiligter auftreten könne. „Mit heute ist mein Vater 3020 Tage in Haft und wir wissen nichts über sein Schicksal. […] Es ist schwer zu sagen, woher ich meine Kraft nehme. Vielleicht kämpfe ich weiter, weil es das Einzige ist, was mir übrigbleibt“. Wafa Mustafa wiederholte mehrmals, wie stark sie immer noch an die Werte der Revolution glaubt und beschrieb ihren Traum von einem Rechtsstaat in Syrien
Sexualisierte Gewalt muss verstärkt berücksichtigt werden
Joumana Seif spürte selbst in Koblenz, während sie Überlebende und Zeugen unterstützte, wie diese Verfahren den Überlebenden die Möglichkeit geben, sich aus dem Opferstatus zu befreien. Sie sind für einen Moment nicht mehr Opfer, sondern Akteur*innen für die Gerechtigkeit gewesen. Nichtsdestotrotz war die Auseinandersetzung mit dem Thema sexualisierter Gewalt während der Verhandlungen für sie nicht befriedigend. Trotz der sich wiederholenden Zeugenaussagen im Koblenzer Verfahren, die über eine systematische Anwendung von sexualisierter Gewalt in den syrischen Haftanstalten berichteten, berücksichtigte die Generalbundesanwaltschaft in Deutschland diesen Tatbestand in ihren ursprünglichen Vorwürfen gegen den Angeklagten nicht. Vertreter*innen der Nebenkläger*innen hätten erst bei Gericht einen Antrag stellen müssen, der dazu führte, dass Vorwürfe der sexualisierten Gewalt letztendlich berücksichtigt wurden. Joumana Seif betonte auch, dass die Genderperspektive im Verfahren nicht optimal beachtet würde, als Beispiel wurde die Tatsache genannt, dass keine weiblichen syrischen Expertinnen im Verfahren geladen wurden.
Letztendlich sollte es keinen Weg geben, der an der Gerechtigkeit vorbeiführt. Für viele sind Strafprozesse auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass der Kampf um Gerechtigkeit für Syrien international nicht vergessen wird. Ein umfassendes System der Übergangsjustiz für Syrien ist jedoch unersetzlich.