Executive Summary (only available in German)
„Natürlich will jeder ein sicheres Leben haben, einen Ort, an dem er arbeiten, studieren und sich ein neues Leben aufbauen kann. Österreich war mein Traumziel.“ (Dehqan)*
Allen menschenrechtlichen Bedenken zum Trotz: Am 23. Februar soll die nächste Sammelabschiebung von abgelehnten Asylwerber*innen aus Österreich nach Afghanistan über die Bühne gehen. Das VIDC ging jetzt der Frage nach wie es den Abgeschobenen in Afghanistan nach ihrer Rückkehr ergeht und sprach dafür von März bis September 2020 mit 16 afghanischen Männern, die zwischen 2015 und 2020 aus Österreich nach Afghanistan zurückkehren mussten. Drei davon sind im Rahmen eines Rückkehrprogramms der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zurückgekehrt, die anderen wurden aus Österreich abgeschoben.
Diese erste Studie über Abgeschobene und freiwillige Rückkehrer*innen aus Österreich nach Afghanistan wurde von VIDC-Konsulenten Ali Ahmad in Zusammenarbeit mit der Afghanistan Development and Peace Research Organization in Kabul durchgeführt und von der Austrian Development Agency (ADA) finanziert. Da die überwiegende Mehrzahl der Abgeschobenen und Rückkehrer*innen aus Österreich Männer sind, haben wir uns auf diese Gruppe fokussiert. Die Ergebnisse der Interviews verdeutlichen, dass die Abschiebungen nach Afghanistan wegen zunehmender Gewalt, wirtschaftlicher Not, dem Verlust von sozialen Netzwerken und wegen Stigmatisierung ausgesetzt werden sollten.
Herausforderung 1: Zunehmendes Ausmaß an Gewalt
„Ich hatte Afghanistan verlassen, als ich gerade ein Jahr alt war, und kehrte als Abgeschobener dorthin zurück. Die Abschiebebehörden eskortierten mich nach Kabul. Als wir auf dem Kabuler Flughafen landeten, begrüßten mich die Taliban mit einem riesigen Selbstmordattentat, das vor der deutschen Botschaft in Kabul stattfand. Über 500 Menschen wurden getötet oder verletzt. Ich stand unter Schock und war fassungslos.” (Nadir)
Nadirs Erlebnis bei seiner Ankunft am Kabuler Flughafen im Jahr 2017 ist ein Beispiel dafür, wie die persönliche Sicherheit das Leben nach der Rückkehr von Anfang an beeinflusst. Die Rückkehrer haben Angst, Ziel eines zufälligen Selbstmordattentats, eines Taliban-Angriffs oder von einer kriminellen Bande entführt zu werden: „Man kann für Lösegeld entführt oder sogar getötet werden, wenn man kein Geld hat. Jetzt habe ich Angst vor den Haftbomben, die die Taliban an dein Auto kleben." (Siawash)
Die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan hat sich seit 2014, als die internationale Gemeinschaft ihre Kampftruppen aus Afghanistan abzog, rapide verschlechtert. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 dokumentierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan 2.117 zivile Todesopfer und 3.822 Verletzte - und das trotz der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen den Taliban-Friedensunterhändlern und der US-Regierung am 29. Februar 2020 in Doha, Katar.
Herausforderung 2: Wirtschaftliches Scheitern
„Die afghanische Regierung hat weder auf dem Papier noch in der Praxis einen Plan, um Rückkehrer*innen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu helfen.“ (Abbas)
Von den 16 Befragten kämpfen 13 seit ihrer Rückkehr um ein stabiles Einkommen und den Zugang zu sozialen Diensten, sie stehen somit vor enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Während ihrer Jahre in Österreich haben sie ihre Freund*innen und den Großteil ihres sozialen Netzwerks verloren. Ihr sozialer und beruflicher Status verschlechterte sich im Vergleich zur Situation vor der Migration, da sie nicht die Möglichkeit hatten, im Aufnahmeland eine Ausbildung zu machen oder ihre Fähigkeiten zu verbessern. Für einige Rückkehrer wie Babur ist die wirtschaftliche Not nach der Abschiebung wie „Salz auf eine tiefe Wunde zu streuen“: „Die wirtschaftliche Not ist die schwierigste Herausforderung nach der Abschiebung. Wer aus Österreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern abgeschoben wird, der wird wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten verrückt.“ (Babur)
Die Aussicht auf wirtschaftliche Stabilität ist bei den interviewten „freiwilligen“ Rückkehrern relativ gesehen besser. Sie erhielten nach ihrer Ankunft in Kabul ein Hilfspaket von fast 3.000 USD von der IOM. Ihre Reintegration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt sei durch dieses Hilfspaket jedoch kaum begünstigt worden. Es seien ihre guten Verbindungen zur Regierung und zu lokalen Politiker*innen gewesen, die ihnen zu festen Jobs verhalfen. Diese haben jedoch einen Preis: „Wenn du für die afghanische Regierung arbeitest, versuchen die Taliban, dich aufzuhalten. Wenn sie dich nicht aufhalten können, töten sie dich. Ich bin täglich mit diesen Herausforderungen konfrontiert. Wenn ich morgens mein Haus verlasse, weiß ich nicht, ob ich lebend zurückkomme oder nicht.“ (Siawash)
Herausforderung 3: Verlust des sozialen Netzwerks
„Ich habe nicht mehr das gleiche soziale Netzwerk wie früher. Viele meiner Freund*innen wurden entweder getötet oder haben das Land verlassen.“ (Dehqan)
Vor ähnlichen Problemen stehen fasst alle Abgeschobenen nach Afghanistan. Die wenigsten hielten Kontakt mit Familie, Freund*innen und der lokalen Community. Oder sie entstammen aus Provinzen, die heute von den Taliban kontrolliert werden und in die sie aufgrund der schlechten Sicherheitslage nicht reisen können. Wobei fünf der 16 Befragten überhaupt im Iran bzw. Pakistan geboren wurden. Für diese Gruppe von Rückkehrer*innen ist Afghanistan ein fremdes Land, welches sie nur durch die Erzählungen ihrer Eltern und Medienberichte kannten: „Als ich 2017 Kabul erreichte, (...) rief ich meinen Vater an, der im Iran war. Ich schickte ihm meinen Standort, da ich mich in Kabul nicht auskannte. Mein Vater leitete meinen Standort an seinen Freund aus seinen alten Tagen in Kabul weiter, der kam und mich vom Empfangszentrum abholte. Ich blieb bei ihm zu Hause, bis mein Vater aus dem Iran kam und mich mitnahm." (Nadir)
Herausforderung 4: Stigmatisierung
"Meine Familie mag mich nicht, weil ich ein Abgeschobener bin. Es ist eine große Schande, aus Österreich abgeschoben zu werden. Mein Bruder arbeitet im Iran und schickt immer wieder Geld an seine fünf Kinder und seine Frau. Aber schauen Sie mich an! Ich bin ein Nichts. Ich bin auch abhängig von meinem Bruder. Ich wünschte, ich hätte eine eigene Einkommensquelle." (Babur)
Stigmatisierung ist wahrscheinlich das schwierigste soziale und psychologische Problem, mit dem sich die Deportierten konfrontiert sehen. Seit ihrer Rückkehr haben alle 16 Befragten Formen der Stigmatisierung und Ausgrenzung erfahren. Sie werden als „Verlierer“, „Deportierte“ oder „Kriminelle“ bezeichnet: „Seit meiner Rückkehr habe ich ständige Kopfschmerzen und wachsenden Stress. Meine Bekannten stellen mir oft Fragen. Warum wurde ich deportiert? Sie denken, dass ich ein Verbrechen begangen haben muss. Für sie ist die Abschiebung gleichbedeutend mit einem Verbrechen.“ (Hamza)
Faktoren für eine Re-Migration
Die sich verschlechternde Sicherheitslage im Land wird von den Interviewten als Hauptgrund angeführt, warum sie in Erwägung ziehen Afghanistan wieder zu verlassen: „Ich werde diese gefährliche Route nach Europa wieder nehmen. Ich weiß, dass sie sehr gefährlich ist und schwieriger als zuvor. Aber in Afghanistan warte ich nur auf meinen Tod. Anstatt zu warten, werde ich die riskante Route nehmen.“ (Zelgai)
Wirtschaftliche Verluste sind eine weitere Ursache für die Re-Migration. Von den Befragten gaben elf Männer an, dass sie oder ihre Eltern Land, Autos, Familienschmuck, das Haus in dem sie lebten, verkauft oder sich Geld von Freunden und Verwandten geliehen haben. Sie hofften, diese Schulden, die sich auf mehrere tausend Euro belaufen, zurückzahlen zu können, sobald sie sich in Europa Fuß gefasst hätten. Nach der Abschiebung waren sie jedoch nicht mehr in der Lage, ihre Schulden zu begleichen. Von den elf verschuldeten Rückkehrern hatten daher bereits sieben mehrfach versucht, Afghanistan zu verlassen.
"Wir hatten ein Familiengeschäft, das wir zusammen mit dem Auto meines Vaters verkauften. Ich lieh mir auch Geld von unseren Verwandten, um die Kosten für meine Reise zu decken. Ich schulde ihnen immer noch etwas." (Babur)
Forderungen
„Die österreichischen Behörden sollten kommen und die Situation in Afghanistan mit ihren eigenen Augen sehen. Bevor sie nicht den Schmerz der Abschiebung verspüren, können sie es nicht verstehen.“ (Asad)
Afghanistan ist kein sicheres Land:
Die afghanische Regierung kann ihre Bürger*innen nicht vor Gewalt beschützen. Die Taliban kontrollieren mehr Territorium in Afghanistan als jemals zuvor, seit sie 2001 von der Macht verdrängt wurden. Folglich ist Afghanistan auch kein sicherer Ort für Rückkehrer*innen, und Österreich sollte die Abschiebung von Afghan*innen nach Afghanistan sofort stoppen, unabhängig vom etwaigen Rückführungsabkommen, die die EU mit der afghanischen Regierung abgeschlossen hat.
Asylbewerber*innen sollte der Zugang zum Arbeitsmarkt in Österreich ermöglicht werden:
Die Gewährung des Zugangs von Asylwerber*innen zum Arbeitsmarkt, zum Bildungssystem und zum gesellschaftspolitischen Leben in Österreich würde es Rückkehrer*innen ermöglichen, ihre Fähigkeiten und Erfahrungen in Afghanistan zu nutzen. Es würde auch den wirtschaftlichen und psychosozialen Druck auf die Rückkehrer*innen minimieren.
Entwicklung eines Unterstützungssystems für die Wiedereingliederung von Rückkehrer*innen/Abgeschobenen in Afghanistan:
Wenn es trotz menschenrechtlicher Bedenken zu Rückführungen nach Afghanistan kommt, sollte zumindest ein System zur Unterstützung der Reintegration entwickelt werden, um alle Arten von Rückkehrer*innen bei der Wiedereingliederung in den afghanischen Arbeitsmarkt zu unterstützen. Denn die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, Rückkehrer*innen effektiv zu helfen. Dies wäre Aufgabe nicht nur der afghanischen Regierung, sondern auch der Abschiebeländer wie Österreich. Solche Unterstützungsmaßnahmen sollten mit Hilfe internationaler Institutionen sowie lokaler Organisationen und zusammen mit den afghanischen Diaspora-Organisationen in Österreich angeboten werden.
* Alle Namen von der Redaktion geändert